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Botanica   30.05.2012   Jena, Rosenkeller
von rls

Die Wege des Konzertpublikums sind unergründlich. Sollte diese These noch eines Beweises bedürfen, hier ist er - das Botanica-Konzert in Jena. Botanica spielen nicht zum ersten Mal in der Stadt am Fuße der Kernberge, sie spielen eine Sorte Musik, die dem intellektuellen Anspruch der reichlich in der Stadt vertretenen Studentenschaft durchaus entgegenkommt, sie spielen in einem angesagten Studentenclub mit äußerst zivilen Eintritts- und Getränkepreisen und angenehmem Ambiente, zudem an einem Abend, der wettertechnisch weder zu schön (also kein zwingendes Biergartenwetter) noch zu schlecht (also keine Unbilden der Marke "Da jagt man doch keinen Hund vor die Tür") ist - und sie müssen sich mit einem mächtigen Häuflein vor der Bühne begnügen: Elf Leute stehen zu Setbeginn in der großen Tonne des Rosenkellers, während des Konzertes reduziert sich die Zahl temporär bis auf sieben, und zum Gigende sind dann inclusive des Merchandisers dreizehn anwesend.
Aber Botanica lassen sich nicht lumpen; sie spielen den Gig trotzdem in voller Länge und nutzen ihn sozusagen gleich als öffentliche Probe - es ist der erste von zwölf Gigs der anstehenden Gastspielreise, nachdem das Quartett zuvor in gewisser Weise seßhaft geworden war: Chefdenker Paul Wallfisch (Gesang, Keyboards) arbeitet als musikalischer Leiter am Schauspiel Dortmund und hat für die dortige Inszenierung von Michail Bulgakows "Der Meister und Margarita" kurzerhand seine Band zwecks musikalischer Umsetzung andocken lassen. Botanica spielen in den Vorstellungen live, und sie haben zudem aus dem Stoff gleich noch ihr neues Album gestrickt, logischerweise ein Konzeptalbum, betitelt "What Do You Believe In" und damit eine zeitlose Fragestellung aufwerfend, die Bulgakow weder als erster noch als letzter behandelt hat, die aber jede Generation und jeder Kulturkreis immer wieder aufs neue zu beantworten verpflichtet sind. Nun gehen Botanica aber nicht das Risiko ein, das neue Album auf der Tour am Stück zu spielen, wenngleich die Anzahl der Die-Hard-Anhänger, die das deshalb nötige Streichen vieler älterer Stücke aus der Setlist als Verlust empfinden würden, an diesem Abend sehr überschaubar ausfällt. Statt dessen gibt es einen bunten Mix aus dem Gesamtschaffen der Band, und da Botanicas Alben innerhalb des Postrock-Genres auch nicht gerade eindimensional ausfallen, ist für ein abwechslungsreiches Potpourri gesorgt, wenngleich Wallfisch nicht nur optisch die Mitte bildet. Aber er weiß, was er an seinen Mitmusikern hat, die vor allem die komplexen Gesangsarrangements kongenial umsetzen. Ab "Desire", dem fünften Song des Abends, kann man das dann auch in der ganzen klanglichen Pracht wahrnehmen - so lange braucht der Soundmensch, um das Klangbild vernünftig einzupegeln, aber danach gibt es nur noch wenig auszusetzen. Und gerade epische Stücke wie eben das erwähnte "Desire" bauen ansehnliche, aber stets strukturierte und melodisch bzw. harmonisch nachvollziehbar bleibende Klangwälle auf - der Setcloser "Diseases" etwa fällt auch noch in diese Kategorie, verlangt dem Quartett noch einmal alles ab, wird vom Sound her dann doch wieder einen Tick zu lärmig, transportiert aber trotzdem nochmal eine Riesenportion Energie, wie guter Postrock das eigentlich immer tun sollte (wobei Wallfisch & Co. aber auch die Spannungserzeugung mittels balladesker Teile verstehen), und schließt den Hauptteil kongenial ab. Viele andere Bands hätten die öffentliche Probe damit beendet, aber die 13 Leute machen locker Lärm und Stimmung für 26, und so hängt das Quartett noch einen Zugabenblock an. Gleich acht Kandidatensongs hat man auf der Setlist notiert, vier davon werden gespielt, dazu dann aber noch zwei Improvisationen, denn jetzt wird's skurril: In der Tonne hängen Plakate, die auf das Party.San-Festival im August in Schlotheim hinweisen, wo die Creme de la creme des extremeren Metals aufspielt. Wallfisch und seine Band, denen dieses musikalische Areal offensichtlich weniger geläufig ist, machen sich einen Heidenspaß daraus, die Bandnamen auf dem Plakat durch den Kakao zu ziehen, und den stärksten Eindruck haben dabei ihre Landsleute Cattle Decapitation hinterlassen. Gitarrist John Andrews jedenfalls improvisiert vor der ersten Zugabe ein kleines Liedchen im Countrystil, das mit den Worten "I love my cattle" beginnt und recht schnell im wilden Grindcorelärm endet, und später steuert Wallfisch selbst noch eine Vokalimprovisation über alle möglichen Bandnamen, die man auf dem Plakat lesen kann (das ist, wenn nur die Logos abgedruckt sind, bei extremem Metal ja nicht durchgängig so, denn bekanntlich sieht manch Logo eher aus wie Nadelwald), bei. So endet das Konzert mit guter Laune bei allen Beteiligten (von der Finanzabteilung logischerweise abgesehen) und dürfte als Besonderheit in den Gedächtnissen haften bleiben.

Setlist:
Ball In Hell
Witness
Truth Fish
Park Bench
Desire
Billboard J
Valse Mag
Skates
Judgement
Manuscripts
Dog
Waltz
Diseases
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(alle zur Wahl stehenden Zugaben:)
Who U R
Dead P
Eleganza
How
Swimming
Perfect Spot
You Might Be?
Shira + Safia



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