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Missbrauchte Musik   19.05.2012   Leipzig, Bundesverwaltungsgericht
von rls

Mit dem Begriff "Missbrauch" ist es ja so eine Sache. Streng genommen fällt jede Musik, die außerhalb ihres originären Kontextes eingesetzt wird, primär unter Mißbrauchsverdacht, und es bleibt dem jeweiligen gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen oder politischen Kontext vorbehalten, zu definieren, ob in einem bestimmten Gebrauchsfall ein Mißbrauch vorliegt oder nicht. Klassisches Beispiel: Das Adagio aus Anton Bruckners 7. Sinfonie wurde, so hatte es Adolf Hitler angeordnet, nach Bekanntgabe seines Todes im Reichsrundfunk gespielt - aus Sichtweise Hitlers natürlich ein völlig logischer und legitimer Gebrauch einer solchen Musik, die Bruckner eigentlich als Trauermusik für Richard Wagner geschrieben, aber durch die Veröffentlichung im Rahmen der Sinfonie natürlich auch zu übergreifendem Gebrauch außerhalb des Kontextes als Wagner-Gedenkmusik bereitgestellt hatte. Die Sichtweise, in Hitlers (befolgter) Anordnung einen Mißbrauch von Bruckners Musik zu sehen, ist eine durch das heutige Gesellschaftssystem determinierte - aber sie hat keinen Einfluß auf die Bewertung der ursprünglichen Musik. Diesen Fakt deutlich zu machen ist Anliegen des in die Richard-Wagner-Festtage 2012 eingebundenen Konzerts dieses Abends, und er wird im außermusikalischen Bereich auch noch durch eine Konzerteinführung von Robert Schneider (dem Autor von "Schlafes Bruder") unterstrichen, wobei Schneider darauf verzichtet, musikwissenschaftliche Aspekte ins Gefecht zu führen, sondern ein eigenständiges philosophisches Handeln postuliert; das tut er übrigens nicht zu Beginn des Konzertes, sondern am Beginn des zweiten Teils.
Die Verschiebung hat auch ihre Gründe: Die große Halle des Bundesverwaltungsgerichtes ist akustisch extrem schwierig, wie sich schnell herausstellt. Spricht Schneider ohne Mikrofon, hört man ihn nach zwei Richtungen gar nicht, und die Soundanlage bringt auch kaum mehr als Gedröhn hervor, so daß David Timm, der das Mendelssohnorchester dirigiert, die Lage rettet und den Vortrag auf den Zeitpunkt nach der Pause verschiebt - die Pause nämlich nutzen die Haustechniker, um eine vernünftige Anlage auszujustieren, und so versteht man dann von Schneider in der Tat fast jedes Wort (es sei denn, er wechselt mal kurz in den Schnellsprechermodus). Freilich löst das die allgemeinen akustischen Probleme für die Musik nicht: Die Hallhallhalle hat über sechs Sekunden Nachhall - ein Wert, den in Sachsen sonst allenfalls noch die Dresdner Frauenkirche erreicht. Daß man in letztgenannter durchaus Bruckner-Sinfonien spielen kann, hat Herbert Blomstedt mit den Bamberger Symphonikern anno 2010 eindrucksvoll unter Beweis gestellt, allerdings nicht ohne ein paar Kunstgriffe bei Elementen wie den Generalpausen, von denen die damals gespielte Zweite ja nur so wimmelt. David Timm, der an diesem Abend nun am Pult steht, hat mit halligen Räumen, etwa der Leipziger Thomaskirche, ja auch so seine Erfahrungen - aber dort kann er meist von der Empore aus musizieren und damit das Ergebnis etwas ausgeglichener gestalten. Das geht hier im Bundesverwaltungsgericht nicht: Die beiden Seitenemporen sind für das Orchester zu klein, also muß man von unten spielen. Timm wirft all seine Erfahrung in die Waagschale, spielt manchmal sogar mit dem Hall als Gestaltungsmittel - aber bestimmte Problemfälle kann auch er nicht verhindern, so daß schon während des ersten Teils drei sichtlich frustrierte Menschen die Halle verlassen und nach der Pause dann manch weiterer Platz leer bleibt.
Man steht als Hörer also vor einer gewissen Herausforderung - aber wenn man die annimmt, eröffnen sich einem doch interessante Klangbilder, wobei der Leser immer bedenken muß, daß es sich bei der nun folgenden Schilderung um die Verhältnisse am Sitzplatz des Rezensenten handelt und an anderen Stellen der Halle ganz andere Verhältnisse geherrscht haben können Jedenfalls nimmt Timm die Einleitung von Wagners "Rienzi"-Ouvertüre (Faktor im Dritten Reich: Eröffnungsstück bei Parteitagen der NSDAP) recht bedächtig und versucht gleich auszuloten, in welchem Maße er den Nachhall als Stilmittel einsetzen kann. Zwar kann er diese Strategie bald nicht weiter fortsetzen, bekommt trotz gewissen Mulms aus den Tiefen aber immer noch ziemlich viel hörbare Struktur hin. Zudem bieten die akustischen Verhältnisse für alle, denen vor allem Trompeten schnell auf den Geist gehen, Linderung: Die Blechschärfe wird etwas gemildert, selbst in den voluminösen Schlußpassagen, wo man im Prinzip nur noch Blech, Schlagwerk und ein diffuses Geräusch vom Rest der Instrumente hört. Ob die Solotrompete zum Schluß deswegen so gequält klang? Eigentlich wäre ja das Gegenteil zu erwarten gewesen :-)
Für das kulturelle Rahmenprogramm von Parteitagen der NSDAP waren "Die Meistersinger von Nürnberg" ein beliebtes Element. Im Programm dieses Abends steht wiederum die Ouvertüre, deren Eröffnung freilich die Struktur fast völlig verlorengeht, und hier wäre nun etwas mehr Schärfe im Blech wünschenswert gewesen. Die Holzsoli fordert Timm vom Orchester schon so locker wie möglich, aber auch hier geht klanglich einiges baden, und nur der dann doch durchhörbare Schlußglanz versöhnt den Hörer wieder.
Die "Götterdämmerung" stellt zwei Stücke für das Programm, wobei der Trauermarsch nach Siegfrieds Tod 1943 eine ganz besondere Verwendung erfuhr: Joseph Goebbels ließ ihn nach der Bekanntgabe der Niederlage von Stalingrad im Rundfunk spielen. Zuvor erklingt jedoch Siegfrieds Rheinfahrt - und hier erweist sich die Akustik mal als Vorteil: Wie das Horngrollen und die Streicher im Intro ineinanderlaufen, das erzeugt eine ganz eigentümliche Stimmung, und die düsteren Passagen geraten fast zu einer Art Unterwassersound. Auch die Folgedramatik bekommen Timm und das Mendelssohnorchester gut aufs Schiff gezaubert; manch ein Riff bleibt diesmal halt unter der hörbaren Wasseroberfläche. Auch im Trauermarsch unterstützt die Akustik noch die elegische Stimmung, während die harschen Ausbrüche an Kraft verlieren, aber dafür das ultradüstere Ende wieder enorm gewinnt.
Nicht nur Wagner-Musik wurde von der NSDAP für ihre Zwecke eingesetzt. Auch "Les Préludes" von Franz Liszt erfuhr eine Verwendung, an die der Komponist allein schon aus technischen Gründen nicht gedacht haben kann: Die markante Fanfare untermalte die Siegesmeldungen der Wehrmacht in der "Wochenschau". Das disqualifizierte das Werk jahrzehntelang, und selbst heute gibt es Menschen, die nie eine "Wochenschau" im Original gesehen haben, aber dennoch zum vorurteilsfreien Hören dieses Werkes nicht in der Lage sind (lese im Franz Liszt gewidmeten Sommerheft Nr. 71 des Gewandhaus-Magazins nach, wer mehr wissen möchte - und Robert Schneider liefert später einen wunderbaren Kommentar: "Musik ist nicht böse, aber sie kann einen in Winkel führen, wo man nicht gerne ist"). Timm, der die Generalpausen in der Eröffnung lange ausspielen läßt, nimmt die fanfarenartigen Teile recht monumental und erzeugt durch die relative Dumpfheit des Klanges doch tatsächlich den Effekt, als säße man einer etwas altertümlichen Soundanlage gegenüber. Zwar läßt der Dramatikfaktor später noch Steigerungsmöglichkeiten offen, aber schön stimmungsvolle harfendominierte Passagen machen das wieder wett, die späteren Fanfaren kommen erstaunlich grell rüber, und der Schluß überwältigt die Hörer auch ohne hörbare Streicher so sehr, daß der kathartische Applaus noch in den Schlußhall hinein losbricht.
Nach der Pause und dem Schneider-Vortrag folgen dann noch das Allegro moderato und das Adagio aus Anton Bruckners Siebenter Sinfonie - der heute eher Komplettsinfoniewiedergaben gewöhnte Hörer stutzt zunächst, aber in voller Länge dargeboten wäre das Gesamtprogramm viel zu lang geworden, und daß eine Bruckner-Sinfonie-Wiedergabe durchaus mit einem Adagio enden kann, ist man aus der Neunten gewöhnt, der der liebe Gott als Widmungsträger ja keinen vierten Satz mehr gönnte. Freilich erweist sich in diesem Fall die Klangarchitektur als besonders schwierig, zumal Timm das Grundtempo im Allegro moderato für diesen Raum vielleicht doch einen Tick zu hoch ansetzt: Zwar ergeben sich einige hübsche Klangwirkungen, aber das erste Tutti hinterläßt einen grenzwertigen Eindruck, und der Mulm erzeugt eher Ahnungen von Unordnung und ist daher kontraproduktiv. Daß es auch besser geht, unterstreichen neben dem wunderbaren Holzquartett vor allem die Schichtungen des Schlußbombastes, der durch den ätherischen Nachhall sogar nochmal eine spezielle Wirkungsqualität erhält. Auch das Adagio nimmt Timm flotter als erwartet, wobei hier die Probleme eher marginal ausfallen - statt dessen überzeugen sowohl der große finstere Beginn als auch der extrem stimmungsvolle Tubenchoral, und die Intensität in den großen schaufelnden Streicherpassagen stimmt ebenfalls. Nur die Trompeten bringen später das Kunststück fertig, selbst in diesen Klangverhältnissen noch extrem gellend zu agieren, und der zweite Tubenchoral zaubert erst allmählich Ruhe ins Geschehen. Dafür gelingt aber ein enorm spannender ruhiger, feierlicher, aber kaum düsterer Ausklang, dessen Spannung in der gegebenen Akustik förmlich mit Händen zu greifen ist und der einen langen und ausdauernden Applaus auslöst. So überwiegen die Chancen in dieser Akustik in der Nachbetrachtung die Risiken ein wenig, was freilich nicht alle Besucher so sehen. Aber es ist nicht das erste Orchesterkonzert an dieser Stelle, und es bleibt gespannt zu erwarten, was der rührige Verein Kunst & Justiz im Bundesverwaltungsgericht e.V. noch so auf die Beine stellen wird.



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