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Andrew Litton dirigiert   29.01.2012   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Völkerverständigung funktioniert ja selten so gut wie in der Musik. Ein klassisches Beispiel liefert dieser Sonntagabend: Ein in Deutschland ansässiges und überwiegend mit deutschen Musikern besetztes Orchester spielt unter Federführung eines amerikanischen Dirigenten und mit einem britischen Solisten zwei Werke russischer bzw. sowjetischer Komponisten, und am Ende steht ein erstklassiges Ergebnis. Das freilich ist zumindest in bezug auf die erste Hälfte des Abends nicht verwunderlich: Pianist Stephen Hough und Dirigent Andrew Litton haben Sergej Rachmaninows Klavierkonzerte schon mit dem Dallas Symphony Orchestra eingespielt, kennen also die jeweilige Herangehensweise des anderen, wovon auch die Wiedergabe des 3. Klavierkonzertes an diesem Abend mit dem MDR Sinfonieorchester profitiert (man hat sich außerdem am Vorabend bereits in Suhl "warmgespielt"). Trotzdem arbeitet Litton anfangs noch sehr direkt mit dem Pianisten, um die Feinabstimmung sicherzustellen. Hough wiederum wirkt im Gegensatz zu den heutigen typischen Showpianisten fast teilnahmslos, spielt dafür aber umso beseelter und mit beeindruckender Weichheit, die auch in höheren Tempi nicht verlorengeht. Auch die Dialoge beispielsweise mit dem Fagott im ersten Satz sitzen wie eine Eins, während der Ausbruch des Orchesters noch etwas massehaft anmutet und es dem Hörer auch irgendwie komisch vorkommt, wenn Hough hier am Instrument zu "wüten" versucht. Die rasende und kraftintensive Kadenz wiederum steckt er weg, als wäre es die leichteste Etüde, und die Auflösung des ersten Teils mit den Einzelbläsern über dem Klavierteppich spricht wieder einmal für intensive gemeinsame Vorarbeit aller Beteiligten oder aber exzellentes Einfühlungsvermögen (oder beides). Die choralhafte Wirkung des zweiten Kadenzteils gelingt Hough ebenfalls, die Auflösung stemmen diesmal die Kontrabässe, und mit der erneuten Kombination aus hohem Tempo und spielerischer Ruhe klingt der "Allegro ma non tanto" überschriebene erste Satz aus.
"Intermezzo. Adagio" steht über dem zweiten Satz - scheinbar also eine leichte Übung für Hough, aber trotz der wieder unverkennbaren Ruhe im Spiel gelingt die angestrebte Entrücktheit diesmal nicht im vollen Maße, obwohl Bratschen und Kontrabässe ihr Möglichstes dazutun. Dafür überzeugen die hier und da angezündeten Strohfeuer und besonders der von Rachmaninow vorgesehene Protojazz, wenn Hough über gezupften Kontrabässen zu brillieren und am Ende fast die Kontrolle zu verlieren hat. Wie er blitzartig aus Unruhe in Ruhe und wieder zurück in Unruhe umschaltet, das beeindruckt einmal mehr. Der Finalsatz folgt attacca und stellt den Solisten noch einmal vor neue, aber auch vor bekannte Herausforderungen: Die rhythmisch auf kleinstem Raum wechselnden Passagen sitzen exakt, und der Protojazz sieht diesmal so aus, daß Hough über grundtönigem Riffing der Streicher zu solieren hat. Seine Spannungsauflösungen beeindrucken erneut, und Litton gestaltet auch die Powerparts des Orchesters etwas durchsichtiger, teils sogar ins andere als das gewohnte Extrem umschlagend: Ein wildes Klavier kann durchaus Holz und Tiefstreicher übertönen, nur gegen entfesseltes Blech hat Hough keine Chance. Die galoppierenden Schlagwerker führen in den ausgebreiteten Schlußteil, in den Hough trotz Zackigkeit noch ein letztes Quentchen Spannung reinbekommt, das freilich keine Chance hat, nach dem Schlußton stehenzubleiben, da sich in der Reihe hinter dem Rezensenten sofort ein lauter Bravorufer zu Wort meldet. Der Applaus fällt sehr herzlich aus, und Hough setzt noch eine Zugabe dran, die sein Händchen für entrückte Weichheit ein weiteres Mal unter Beweis stellt und kurz vor dem absoluten Stillstand endet.
Nach der Pause liegt Dmitri Schostakowitschs 10. Sinfonie auf den Pulten des MDR Sinfonieorchesters - also diesmal eine Wiedergabe mit voluminöserer Besetzung als ein Vierteljahr zuvor mit der Kammerphilharmonie Leipzig an gleicher Stelle. Das hat den Vorteil, daß der Dynamikgipfel noch ein gutes Stück weiter oben angesetzt werden kann, verlangt aber dem Dirigenten bei der Schichtung im allgemeinen und der Transparenzgestaltung im besonderen einiges mehr ab. Das düstere Intro des ersten Satzes mit seiner geschickten Laut-Leise-Dynamik und dem planmäßig noch geringen Energietransport weckt Erwartungen, die das schön entrückte Klarinettenthema noch steigert, bevor Litton ein weiteres Mal äußeren Umständen Tribut zollen muß: Schon während des ganzen Abends stört die Armada der Bronchialkatarrhisten etwas, und jetzt wird ausgerechnet das fies knarzende Kontrafagott von einem recht ausdauernden Handyklingelton im Dancefloorkostüm ausgebremst. Wenn das die Wut im Orchester, die kurze Zeit später musikalisch umgesetzt werden muß, noch beflügelt haben sollte, könnte man der Szene ja sogar noch etwas Positives abgewinnen. Jedenfalls gellen die Flöten, die Trompeten schreien, und alle spielen förmlich um ihr Leben. Aber auch die Rückführung in den scheinbaren Frieden gelingt Litton problemlos, nur die Spannung in den langen Lavierteil bekommt auch er nicht immer ganz hin. Daran mitschuldig ist allerdings ein weiterer äußerer Umstand, nämlich ein penetranter Störton irgendeines elektronischen Geräts, eine Art Rückkopplung, die sich in einem tinnitusartigen Ton manifestiert und beim Hören nur schwer auszublenden ist. Am leichtesten gelingt das noch im Inferno des attacca anhängenden Scherzos, in dem wieder alle um ihr Leben spielen, aber exakt, und der Dirigent trotz seiner Körperfülle auf und nieder springt. Wunderbar gelingt den Musikern auch die gespielte Verkrampfung im dritten Satz (planmäßig verkrampft zu spielen ist bekanntlich gar nicht so einfach) samt des Zirkusmarsches, während das schöne Hornthema wieder mal von der Elektrik gestört wird, die sich zur Abwechslung jetzt so anhört, als würde in einiger Entfernung jemand Tetris spielen. Dafür überzeugt die Darstellung der Befehlsstumpfheit ebenso wie der Kontrast aus dem feierlichen Horn und dem finsteren Orchesterrest - ein betrübliches Bild der Zustände in der Sowjetunion vor Stalins Tod. Und die lakonische Solovioline, die Waltraud Wächter noch ins Gefecht führt, paßt bestens ins Bild. Im letzten Satz wird das Elektrikgeräusch zu einer Art Glockenspiel, was die Aufgabe, den Entrücktheitsfaktor des Intros zu beurteilen, sehr schwierig macht. Die Tempoverschärfung in den Allegro-Teil schütteln Litton und das Orchester perfekt aus dem Ärmel, und auch an der Dramatik dieses Finales gibt es nichts zu deuteln: Wilde Holzsoli, hektische Offbeats aus den Trompeten und das dem Zuhörer förmlich eingebleute D-Es-C-H-Motiv als Zeichen des Siegers formen ein großes Ganzes, dem nur zum Ende hin leicht die Puste ausgeht. Das hindert den Sofort-Bravisten in der Reihe hinter dem Rezensenten nicht daran, erneut seiner Passion zu frönen, und auch der Rest des Publikums könnte, von den erwähnten Begleiterscheinungen abgesehen, durchaus zufrieden gewesen sein.



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