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Konzert zum Jubiläum des Kirchenmusikalischen Instituts   19.01.2012   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Die Kirchenmusikerausbildung an staatlichen Musikhochschulen der DDR hatte es schwer und mußte immer unter gewissen Deckmänteln geschehen. Das war in Leipzig auch so: Das vom verdienstvollen Karl Straube 1926 am Konservatorium gegründete Kirchenmusikalische Institut existierte zu DDR-Zeiten nur noch "unter ferner liefen" und auch nicht mehr mit Institutsrang, was auch Auswirkungen auf die in der Frühzeit des Instituts sehr prägende Chor- bzw. Kantoreiarbeit hatte, die sich gegen Null bewegte. Erst die Wiedergründung des Kirchenmusikalischen Instituts 1992 eröffnete neue Möglichkeiten, und seither existiert auch ein Kammerchor an der Hochschule, der selbstverständlich am Konzert zum 20. Jubiläum der Wiedergründung maßgeblich beteiligt ist, das aus zwei größeren chorsinfonischen Werken des einstigen Hochschulgründers Felix Mendelssohn Bartholdy besteht.
Das erste ist die Vertonung des 42. Psalms "Wie der Hirsch schreit", entstanden übrigens auf Mendelssohns Hochzeitsreise, was bezüglich der Themenwahl doch etwas eigentümlich anmutet (wenigstens hat er nicht den 130. Psalm "De profundis" gewählt :-)). Am Pult steht hier Roland Börger, seit 1993 Leiter des Kammerchores und Professor für Chordirigieren, also ein Mann mit Erfahrung. Leider schafft er es nicht, diese Erfahrung in eine hochklassige Leistung der Studenten in Chor und Orchester umzusetzen. Zum einen tun sich bezüglich der Klangbalance zwischen Chor und Instrumentalisten Gräben auf, die im Eröffnungschor noch schmal und überbrückbar erscheinen, im Verlaufe des Stückes aber derart an Breite zunehmen, daß der von Pauken und Blech erzeugte kathedralkompatible Klangmulm (und das unter den akustischen Bedingungen des Großen Saals der Hochschule!) am Anfang des Schlußchors die Sänger komplett ins Abseits schiebt und die Gegensteuerungsmaßnahmen dazu führen, daß jeder versucht, lauter als der andere zu musizieren, um gehört zu werden. Ergebnis: Am Schluß reicht schon der Paukenwirbel, um keinen Sänger mehr akustisch durchkommen zu lassen. Das ist schade, denn gute Gestaltungsansätze sind, soweit wahrnehmbar, nicht zu verkennen, auch in diesem Schlußchor nicht, der mit seiner festlichen Dankbarkeit im Ausdruck durchaus zu überzeugen weiß. Die Detailanalyse zeigt allerdings auch mancherlei Problemfälle, wo noch Schleifarbeit notwendig gewesen wäre und vielleicht im Vorfeld der zweiten Aufführung am Folgeabend dann auch geleistet worden ist. Der Chor beispielsweise fasert gleich das ss im eröffnenden Titelstück viel zu sehr aus, und die Hörner sind anfangs hörbar nervös, was sich später bisweilen auch auf das ganze Orchester überträgt, wenngleich das Gewusel im dritten Teil bei der Beschreibung des feiernden Haufens sogar als Stilmittel, wenngleich als vom Komponisten nicht in dieser Weise vorgesehenes, durchginge. Von der Nervosität anstecken läßt sich auch das Männerquartett im sechsten Teil, das eine kuriose Mixtur aus Homogenität und munterem Durcheinander produziert. Etwas außer Form präsentiert sich Sopranistin Carla Luise Frick, offensichtlich stimmlich angeschlagen und daher in den mittleren Lagen ungewohnt rauhbeinig und in den Höhen zu angestrengt; was sie aussprachetechnisch aus dem Wort "Tiefe" im Rezitativ "Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir" macht, kann man auch nur als kurios bezeichnen, und zu allem Überfluß klappt die Feinabstimmung mit dem Orchester am Schluß dieses Rezitativs auch nicht. So überwiegt trotz einiger durchaus gelungener Passagen in dieser Aufführung leider der Schatten das Licht deutlich, was freilich nicht alle so sehen: Aus der Reihe hinter dem Rezensenten dringen die Worte "Ja sehr schön" an sein Ohr, und die sind ganz offensichtlich nicht ironisch gemeint.
Den zweiten und weitaus längeren Teil des Programms bildet Mendelssohns Sinfonie Nr. 2, eine Sinfoniekantate namens "Lobgesang", entstanden 1840 als Festmusik zur 400jährigen Erfindung des Buchdrucks, was seinerzeit im 100-Jahres-Turnus in Leipzig ganz groß gefeiert wurde. Hier steht Ulrich Windfuhr am Dirigentenpult, seit 2007 Dirigierprofessor an der Hochschule. Und man mag stilistisch von dieser Aufführung denken, was man will - man muß auf alle Fälle anerkennen, daß er die Balance zwischen Chor und Orchester deutlich besser hinbekommt. Bis er das beweisen kann, vergeht allerdings ein knappes Drittel der Gesamtspielzeit, das mit der eröffnenden, rein instrumentalen Sinfonia gefüllt ist. Schon hier aber stellt man erstmal fest, daß das Orchester allgemein deutlich sicherer und weniger nervös agiert. Das heißt nicht, daß nun alles klappt wie angepeilt (gleich in der Eröffnung wackeln die Posaunen beispielsweise noch ein bißchen), aber der Weg stimmt, und Windfuhr läßt sauberen, möglichst klar durchhörbaren, aber trotzdem zupackenden Klangbombast erzeugen. Das tut er wie gewohnt in recht flottem Tempo und schafft es, die Studenten zu Höchstleistungen anzustacheln - so messerscharf wie hier hat man die Hochschulhornisten in vergleichbaren Situationen selten gehört. Und wenn mal ein Übergang danebengeht, ist das gleich Ansporn, den nächsten besser zu machen. Im Allegretto der Sinfonia bringt Windfuhr zudem das Kunststück fertig, dem locker-flotten Grundgestus schon eine choralhafte Ahnung zu verleihen, die dann im die Sinfonia abschließenden Adagio ihre volle Ausprägung, wenngleich mit immenser Variationsbreite, erfährt, nachdem ein prächtiger Übergang mit ersterbendem Solocello gelungen ist. In Teil 2 tritt dann der Chor hinzu, und was dort noch an kleinen Chor-Orchester-Balanceproblemen auftritt, das beseitigt Windfuhr dann ab Teil 4. Dazwischen hat man schon Patrick Grahl als Solotenor schätzen gelernt, der in der 2011er Matthäus-Passion ja noch nicht vollends überzeugen konnte, sich allein mit dem Rezitativ in Teil 3 aber für Evangelisten-Weihen empfiehlt: ganz leicht gedeckte, aber trotzdem klar verständliche und treffsichere Stimme. Sopranistin Anat Edri hat in Teil 2 hingegen noch etwas mit der Aussprache zu kämpfen, was sie dann in Teil 5 deutlich besser meistert. Besagter Teil 5 ist ein Duett mit der zweiten Sopranistin Stine Levvel - und die beiden liefern eine erstklassige Leistung ab, zumal sich auch ihre Stimmen (Edri recht schlank, aber durchdringend, Levvel druckvoller und etwas "erdenschwer") perfekt ergänzen. In der letzten Wiederholung von "Wohl dem, der seine Hoffnung setzt auf ihn!" sitzt man jedenfalls mit meterdicker Gänsehaut da. Das Orchester will dem natürlich nicht nachstehen und bekommt in Teil 6 eine äußerst plastische Ausgestaltung der titelgebenden "Stricke des Todes" hin, Grahl gestaltet seinen Part recht dramatisch, und obwohl der Fernsopran nicht ganz exakt eingepaßt wird, erfüllt er seine Rolle eines Vorboten für den Orchestertriumph doch bestens. Die scheinbare Schlußwirkung in Teil 7 geht über in den wiederum scheinbar unprätentiösen Teil 8 mit zwei Choralstrophen von "Nun danket alle Gott" in einer seltsamen Mixtur aus durchgesungenen, überhastet wirkenden Zeilenenden auf der einen und fast übertrieben lange ausgehaltenen Generalpausen auf der anderen Seite, jedenfalls in der ersten Strophe. Die zweite folgt einer nachvollziehbareren Linie und endet mit "Ihm danket unser Lied" weit zurückgenommen, aber enorm wirkungsvoll. Teil 9 ist ein Duett zwischen Levvel und Grahl, und auch diese beiden harmonieren prächtig, was in der Ideallinie der letzten Zeile gipfelt und die Bahn für den Schlußchor ebnet, der an die Ausbalancierung der Klangmassen nochmal sehr hohe Anforderungen stellt, die Windfuhr und seine Schützlinge aber meistern - da prügelt der Pauker auf sein Instrument ein, aber er tut das eben so, daß er damit klanglich nicht alles niedermäht. Auf das letzte Thema der Posaunen antworten die Chorbassisten wie ein Mann, und nur ganz zum Schluß fällt die Spannung schon vor dem letzten Ton in sich zusammen. Das hindert das Publikum im gut gefüllten Großen Saal nicht am Spenden von reichlich Applaus, und auch die Stimmen aus der Reihe hinter dem Rezensenten melden sich wieder zu Wort. Die eine meint: "Die Solisten waren ja klasse. Was wollen die denn noch lernen?", was natürlich nicht zum Ausruhen auf dem Erreichten verführen soll. Die andere Stimme allerdings äußert: "So kann man doch Mendelssohn nicht spielen, sondern allenfalls Beethovens Fünfte." Windfuhrs Lesart enthält tatsächlich eine Großportion Dramatik, mit der nicht jeder Hörer klarkommen wird - aber wer sich darauf einläßt, wird, wie dieser Abend wieder mal beweist, reich belohnt.



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