www.Crossover-agm.de
Frühfassung der Matthäus-Passion   24.06.2011   Leipzig, Musikinstrumentenmuseum
von rls

"Und morgen dann das WO", witzelt ein Besucher dieses Konzertes. In der Tat mutet es merkwürdig an, am Johannistag nun ausgerechnet Bachs Matthäus-Passion aufzuführen (und damit ist nicht gemeint, man hätte eher die Johannes-Passion spielen sollen ...). Aber der Hintergrund ist ganz einfach: An diesem Wochenende veranstalten die Leipziger Musikhochschule und das Musikinstrumentenmuseum das alljährliche Alte Musik Fest, und die Hochschule steuert einfach diese Passionsproduktion mit bei, die zur kirchenjahrbezogen "richtigen" Zeit 2011 auch schon in der Hochschule zu hören gewesen war. Der Rezensent hat selbige Aufführung aber nicht gesehen und kann sich daher nur auf diesen Freitagabend beziehen. Das Konzept allerdings ist identisch: Es gibt eine Aufführung in solistischer Besetzung zu hören. Heißt praktisch: Alle Instrumentalstimmen sind nur einfach besetzt, und auch die Chöre reduzieren sich jeweils auf ein Mitglied pro Stimme; lediglich zwei der Sopranistinnen des Choralchores übernehmen zugleich ripienistische, also verstärkende Funktionen an bestimmten Stellen.
Diese Herangehensweise ermöglicht erstmal prinzipiell, das Werk überhaupt im Zimeliensaal des Musikinstrumentenmuseums aufzuführen, denn für eine "normale" Besetzung der Passion wäre die Räumlichkeit viel zu klein. Und auch an diesem Abend ist man zunächst geneigt, ihn selbst für die solistische Besetzung als zu klein zu deklarieren, droht doch besonders die Ouvertüre die Raumakustik bisweilen förmlich zu erschlagen. In den leichter besetzten Passagen, die weite Teile des Geschehens bestimmen, relativiert sich dieses Problem aber, und auch das Ohr des Hörers gewöhnt sich immer besser an die Raum-Klang-Kombination und weiß irgendwann, wann was aus welcher Ecke zu erwarten ist. Das etwas stickige Raumklima und die nicht so ganz bequemen Stühle verhindern zwar nach wie vor, die Räumlichkeit als idealen Ort zu beschreiben, aber irgendwann gewöhnt sich der Körper letztlich auch daran.
Markante Unterschiede der auf 1727 datierten Frühfassung der Matthäus-Passion zur bekannten Spätfassung von 1736 gibt es vor allem drei: Verzierungen und Spielanweisungen hat Bach noch nicht in dem Maße ausnotiert wie später - der Gestaltungsaufgabe entledigt sich das studentische Ensemble auf der Bühne aber tadellos. Die Continuogruppe hat Bach in der Frühform noch nicht doppelt besetzt (generell ist das Werk ja zweichörig angelegt) - das heißt, daß besonders Cellistin Dóra Kocsis, Violonist Felix Görg und Organistin Bernadett Mészáros an diesem Abend ein erkleckliches Stück Arbeit zu bewältigen haben, da sie fast pausenlos im Einsatz sind. Und dann wäre da noch der Schluß von Teil 1 - anstatt des gewaltigen "O Mensch, bewein dein Sünde groß" steht in der Frühfassung die eher schlichte Choralbearbeitung "Meinem Jesum laß ich nicht", die dafür sorgt, daß man mit einer ganz anderen Stimmung in die Pause geht als in der Spätfassung. Übrigens verzichtet das Ensemble an diesem Abend auf einen Dirigenten - ein Wagnis, aber es gelingt über weite Strecken: Fast jeder Instrumentalist übernimmt mal Führungsverantwortung, und man ist generell viel stärker gezwungen, aufeinander zu hören und miteinander statt nur gleichzeitig zu spielen, was an vielen Stellen auch richtig gut klappt und zweifellos einen enormen Lerneffekt für die Studenten hat.
Daß auch bei der begrenzten Kopfzahl der Sänger richtig eindrucksvolle Wirkungen möglich sind, beweist dieser Abend gleich mehrere Male: Da wäre etwa die sehr dramatische Gefangennahme, die äußerste Aggression in "Er ist des Todes schuldig" und den Folgeszenen oder als stärkster Volksausdruck der "Barrabam!"-Schrei, als Pilatus das Volk fragt, welchen der beiden Gefangenen er losgeben soll. Den emotional stärksten Eindruck hinterläßt aber "Aus Liebe will mein Heiland sterben" in der Besetzung Sopran, Oboe, Flöte - und das, obwohl es hier doch zu einigen technischen Unexaktheiten kommt. Ein Paradoxon? Zweifellos, aber genau so passiert. Unter die wohl ungeplanten Paradoxien fällt auch die Tatsache, daß Anna Wiktoria Swoboda an der Laute klanglich so gut wie keinen akustischen Stich sieht, von "Komm süßes Kreuz" mal abgesehen, wo Felix Görgs Violone zu schweigen hat. Von den beiden zentralen Gesangssolisten überzeugt Dominic Große als Jesus nahezu ohne Wenn und Aber - die dynamische Verfluchung von Judas etwa gelingt ihm äußerst plastisch, und nur die Tiefenpower fehlt seiner Stimme noch ein bißchen, was sicher auf sein noch jugendliches Alter zurückzuführen ist. Power hat Thomas Volle als Evangelist genug - mitunter etwas zuviel: Er wirkt nicht selten etwas überambitioniert, auch wenn er Durchsetzungskraft beweist und auch die Verständlichkeit der Texte, die ja bei seiner Erzählerrolle besonders wichtig ist, natürlich perfekt ist. Die Kombination dieser beiden Rollen ergibt dann ein weiteres Paradoxon: Große gestaltet Jesu letzte Worte wenig intensiv, eben wie die eines Sterbenden - Volle dagegen schmettert die Übersetzung lauthals ins Publikum. Auch die anderen Solisten geben an einigen Stellen etwas zuviel Stimme (und der Rezensent sitzt schon in der vorletzten Reihe, also recht weit von ihnen entfernt), was zu diversen Schieflagen im Gesamtklangbild führt, etwa Patrick Grahl in "Ich will bei meinem Jesum wachen"; das Gros ihrer solistischen Aufgaben aber fällt zur allgemeinen Zufriedenheit aus, was ebenso auf die meisten Chöre zutrifft. Nur in den beiden Schlußoktetten liegt der Hase nochmal im Pfeffer: "Mein Jesum, gute Nacht" gerät zum Stückwerk statt zur Gemeinschaftsarbeit, und "Wir setzen uns mit Tränen nieder" nehmen die Sänger viel zu lebendig. Das bemerken sie auch irgendwann und bekommen zumindest noch eine gewisse Schlußruhe hin, die Spannung erzeugt und zu einer langen Applauspause führt, bevor befreiender Applaus losbricht. Insgesamt also eine überwiegend gute bis sehr gute Aufführung eines selten zu hörenden Stückes in interessanter Besetzungsvariante - und das WO erklang am Folgetag nicht. (Dafür neben vieler anderer geistlicher bzw. spiritueller Musik noch ein weiteres Passionswerk, nämlich das Quartett "O Haupt voll Blut und Wunden" für Oboe, Violine, Viola und Basso Continuo von Johann Gottlieb Janitsch.)



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver