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Reiheins: Glaube   14.01.2012   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Die in der Saison 2011/2012 anstehenden Konzerte der "Reiheins"-Serie des MDR Sinfonieorchesters stehen thematisch unter der Überschrift "Geschichten", und eine der neun Geschichten ist der Glaube. Das Konzertprogramm läßt die Frage "Woran?" offen, beleuchtet aber verschiedene künstlerische Herangehensweisen. Das geht mit zwei Stücken von Olivier Messiaen los - zum Glück nicht mit der gar garstigen Turangalila-Sinfonie, leider auch nicht mit "Die Erscheinung der heiligen Kirche", für welchletzteres die Schuke-Orgel im Großen Saal des Gewandhauses eigentlich ein geeignetes Instrument sein müßte. Aber auch die beiden zu hörenden Stücke stoßen den Hörer in ein Wechselbad der Gefühle. Hat sich der MDR Rundfunkchor in der kurzen Motette "O Sacrum Convivium" nämlich erstmal eingesungen, was nur ein paar Sekunden dauert, entspinnt sich hier ein wunderbar entschleunigendes, förmlich entrücktes A-Cappella-Stück, brillant austariert, glasklar durchhörbar - und als die Damen ihren fiesen hohen Einsatz im "Alleluja" gemeistert haben, will die Kinnlade gar nicht wieder hochgehen, und man findet sich wieder mal in der These von der außerordentlich hohen Qualität dieses Ensembles (Einstudierung für dieses Konzert: Philipp Ahmann) bestätigt. Der nachfolgende "Chant Des Déportés" entstand unter dem Eindruck des gerade beendeten Zweiten Weltkrieges und klingt auch so. Freude kommt da beim Hören nicht auf, allenfalls analytisch: Der Chor singt hier nur in halber personeller Stärke, ist gegenüber dem Orchester aber trotzdem richtig gut zu hören, was für ein gutes Balancehändchen Michael Sanderlings am Dirigentenpult spricht. Die Schlagzeuger wiederum wirken, als ob sie ein ganz anderes Stück als der Rest der Orchestermitglieder spielen, und manches erinnert an ein eben im benachbarten Mendelssohn-Saal verklungenes Stück von Mike Svoboda - mit dem Unterschied, daß es sich bei letzterem um eine Parodie handelte ...
Zu den neun Themen haben neun Autoren vom Literaturinstitut Leipzig je eine Geschichte verfaßt, die innerhalb des Konzertprogrammes verlesen wird. Dazu verlassen Orchester und Dirigent die Bühne, und die Schauspielerin Lisa Martinek liest an diesem Abend ohne große Regung "Der Engel" von Anne Bastrop, eine Geschichte, die hier und da den Eindruck erweckt, sie hätte eher ins "Wahn"-Konzert gepaßt. Nuff said? Nuff said.
Orchester und Dirigent kehren zurück und spielen als Hauptwerk die 9. Sinfonie von Anton Bruckner, einem tiefgläubigen Katholiken, dessen kirchenmusikalisches Schaffen immer etwas im Schatten seiner Sinfonien steht. Hatte Bruckner die Achte bereits seinem Kaiser gewidmet, blieb für die Neunte als Widmungsträger einer Anekdote zufolge nur noch der liebe Gott übrig, der freilich wenig amused war, den Komponisten noch vor Beendigung des Werkes zu sich rief und dafür sorgte, daß die Skizzen und Entwürfe für den vierten Satz so sehr zerstreut wurden, daß im Gegensatz zu Mahlers 10. Sinfonie kaum jemand ernsthafte Versuche der Rekonstruktion machen konnte. Auch an diesem Abend erklingt also die übliche Wiedergabeform in drei Sätzen, die mit dem kapitalen Adagio endet. Sanderling setzt als Grundstrategie ganz auf Monumentalität, und die erreicht er mit einem simplen, aber wirkungsvollen Kunstgriff: Er reduziert an bestimmten Stellen das Tempo. Das vergrößert das Gebäude des ersten großen Tutti im ersten Satz zur Kathedralform, aber schon der enorm düstere Beginn hat die Marschrichtung vorgegeben. Dazu treten ein paar andere Extreme, etwa wenn die gedämpften Hörner wirklich so klingen, als stünden sie irgendwo an der absoluten Hörgrenze, und die oft geplagten Bediener dieses Instruments ziehen sich an diesem Abend auch mit ihrer lyrischen Seite exzellent aus der Affäre und bekommen zum Schluß verdientermaßen den stärksten Einzelapplaus aller Instrumentengruppen. Auch einige Generalpausen läßt Sanderling in diesem ersten Satz enorm lange ausspielen, gar mit Echoeffekten spielend, und wenn er dynamisch eine Rücknahme anordnet, dann geht auch die für die Orchestergröße sehr weit nach unten. Im Schluß dieses ersten Satzes hat der Dirigent zudem den Vorteil, daß er keine Rücksicht darauf nehmen muß, in einem Finalsatz noch mehr Energie in den Schluß legen zu müssen. Daß er noch nicht den Dynamikgipfel hat ankratzen lassen, wird später deutlich.
Zunächst gibt es aber das Scherzo, und auch hierfür hat Sanderling eine Extremitätsstrategie im Sinn: Er läßt die Motorik so betonen, daß Bruckner damit fast den Industrial erfindet, und das Orchester folgt dieser Linie in den stampfenden Außenteilen genauso treffsicher wie im fiebrigen Trio. Diesen Industrial-Touch dann aber nicht zum Selbstzweck zu machen und durchzuziehen, sondern ihn mit Holzbläser-Lieblichkeit zu konterkarieren zeichnet alle Beteiligten damals wie heute besonders aus.
Mit dem Adagio kehrt Sanderling zur Strategie der düsteren Monumentalität zurück: Er nimmt gleich wieder Tempo raus und jagt dem Hörer mit dem großen Thema wieder einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken. Feierliche Stimmung breitet sich satzbetitelungsgemäß im nicht gefüllten Gewandhaus aus, und Sanderling trägt zunächst schrittweise Stein um Stein des Monuments ab, bis er im gigantischen Ausbruch beweist, daß er diesen als realen Finaleffekt und Dynamikgipfel ansieht. Die Gestaltungskraft kennt danach keine Grenzen mehr: Einer wiederum extrem langen Generalpause setzt das Blech einen ergreifenden Choral an, die gliedernden Streicherzupfer bewegen sich an der Grenze zur Unhörbarkeit, und die Spannung steht im Raum, bis irgendwann begeisterter und verdienter Applaus losbricht. Ein würdiger Grabstein für Bruckner und der Abschluß eines interessanten, wenngleich nicht durchgängig starken Konzertes. www.mdr.de/konzerte informiert über die weiteren Reihenbestandteile.



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