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Hidden Timbre, Barracudabite, Mirrordrums   25.12.2011   Gera, Sächsischer Bahnhof
von rls

Alljährlich am 1. Weihnachtsfeiertag laden Hidden Timbre sozusagen zum Familientreffen in den Sächsischen Bahnhof ein - eine gute Gelegenheit für alte Weggefährten, den Entwicklungsstand der Band mal wieder unter die Lupe zu nehmen oder aber andere alte Weggefährten zu treffen, die man sonst das Jahr über selten oder gar nicht sieht. Hatte 2010 reichlicher Schneefall vor allem die überregionale Anreise erschwert oder ganz unmöglich gemacht, so herrscht anno 2011 fast frühlingshaftes Wetter, und so ist der Sächsische Bahnhof zwar nicht über-, aber doch gut gefüllt, wobei das typische Partyverhalten des Großstadtbewohners auch an diesem Abend wieder zutagetritt: Wenn manche Konzerte schon fast wieder zu Ende sind, macht er sich zu Hause erst auf den Weg. Das ist beim Gig von Mirrordrums, der den musikalischen Reigen des Abends eröffnet, allerdings durchaus von Vorteil, denn hier wird der Platz vor der Bühne auch noch für die musikalische Darbietung gebraucht. Dort steht ein spiegelsymmetrisch aufgebautes Schlagzeug, an dem vom Zuschauer aus gesehen rechts Hidden Timbre-Drummer Danny an der roten Hälfte und links sein Schüler Marvin an der grauen Hälfte Platz nehmen; in der Mitte steht ein großes Becken, das sich beide teilen, ansonsten hat jeder ein volles Einzelset vor sich, und darauf beginnen die beiden zu spielen. Das machen sie im ersten Teil der Darbietung genau spiegelsymmetrisch und mit einer beeindruckenden Exaktheit - man sieht sie also zu zweit spielen, aber es hört sich so an, als spiele nur einer. Dann beginnt das einzelne Becken eine Rolle zu spielen - der eine schlägt es an, der andere fängt es ab, was wiederum mit verteilten Rollen laufend wiederholt wird. Das ist der Auftakt für vielschichtigere Strukturen, oft nach Call-and-response-Prinzip, aber vielfach variiert und in der Intensität immer weiter zunehmend, bis alles im Inferno endet. Ein unterhaltsameres Drumsolo hat man selten gesehen, und der Rezensent, sonst ein Pedant, der gerne mal die Zeiten des Drumsolos stoppt (gähnender Rekordhalter: Mike Terrana 1999 mit Rage in Freiberg - zwölf laaaange Minuten), denkt an solche Maßnahmen hier gar nicht erst. Von Danny erwartet man eine hochklassige Leistung natürlich - aber wenn Marvin so weitermacht, kann auch aus ihm ein Großer werden, ob nun mit seiner Band Judy Gives Head oder in anderen Kontexten (bei dem Bandnamen ist letzteres wahrscheinlicher ...).
Das Doppelschlagzeug wird schnell abgebaut, und Barracudabite steigen auf die Bühne. Die Geraer spielen eine verwirrende Mixtur, die instrumental ungefähr wie Down auf Postrock klingt; ein Anwesender zieht zudem Parallelen zum Frühwerk von Korn, aber da der Rezensent das nicht besitzt, kann er die These weder bestätigen noch dementieren. Dazu kommt allerdings noch eine ganz besondere Sorte Leadgesang in zwei Sparten, beide von ein und demselben Menschen abgedeckt: zum einen wildes Gebrüll, zum anderen aber ein Heldentenor, der noch in der pathetischsten Gothic-Combo auffallen würde und andernorts vielleicht die Wikinger zum Streite riefe. Freilich ahnt man nur, was er dem Hörer mitteilen will, denn das Mikrofon ist etwas zu dumpf abgemischt, während das Klangbild ansonsten nicht schlecht ist und augenscheinlich nur wenige Feinheiten verschlingt; vor allem die Gitarren bekommen genügend Freiheiten, um vom grabestiefen Riff bis zum jazzigen Lick alle Schattierungen ausfüllen zu können. Zumindest Teile der Lyrics sind offenbar in Deutsch gehalten, aber das muß man gelegentlich mittels einer Konserve noch detaillierter prüfen. Ein neuer Song erlebt seine Livepremiere; in der ersten Hälfte klingt er wie eine unter Wasser gespielte Ballade, bevor er in gewohnter Weise heftiger endet. Das Quintett schreckt auch nicht davor zurück, hier und da polkaartige oder in anderer Manier tanzbare Passagen einzustreuen, und nimmt sich selber offensichtlich nicht allzu ernst, was auch die kuriose Optik (von fast blackmetalkompatibler Schminke beim rechten Gitarristen bis hin zu löchrigem Sackleinen als Oberbekleidung ist alles am Start) unterstreicht. Daß es der erste Gig mit dem neuen Drummer ist, hätte der nicht mit dem bisherigen Schaffen der Band vertraute Zuhörer nicht bemerkt, wäre es nicht angesagt worden, und da die Lokalmatadore offenbar auch einige Fans mitgebracht haben, herrscht gute Stimmung.
Hidden Timbre hatten mit Anja während nahezu der kompletten ersten Dekade des neuen Jahrtausends eine Frau am Frontmikro stehen, aber die bestritt im Januar 2010 aufgrund anstehender Vermehrung und Familiengründung ihren letzten Gig mit der Band. Letztgenannter Faktor könnte auch beim neuen Wesen an dieser Position irgendwann anstehen, aber eine Schwangerschaft ist bei Ronny eher nicht zu erwarten (auch wenn Ältere möglicherweise den Zeigefinger heben und an einen alten Film mit Mike Krüger erinnern). Etliche hatten ihn ja schon live erlebt, der Rezensent aber sieht die neue Besetzung an diesem Abend zum ersten Mal und erlebt doch eine gewisse Überraschung. Der Neue kann viel, das steht zweifelsfrei fest, aber einige seiner sanglichen Komponenten sind im Kontext von Hidden Timbre definitiv zumindest gewöhnungsbedürftig, wenngleich das Überschreiten von Grenzen für eine Progressive-Metal-Band, die "progressiv" zumindest partiell wirklich noch mit "fortschrittlich" übersetzt und sich eben nicht aufs Repetieren von Dream-Theater-Standards beschränkt, per definitionem erstmal kein Problem darstellt. Fest steht: Der in ein Ignite-Shirt gehüllte Ronny kann melodisch singen (nach einer gewissen Aufwärmphase an diesem Abend auch recht treffsicher), und zu den Backings von Gitarrist Andreas paßt diese Ausprägung seines Gesanges auch. Erstaunlich gut funktioniert auch das gelegentlich eingestreute herbe Shouting - Hidden Timbre hatten schon auf ihrem selbstbetitelten 2007er Album für Progmetal-Verhältnisse recht harte und düstere Stücke geschrieben, und sie tun das auch weiterhin, so daß die herben Passagen hier eine sinnvolle Ergänzung darstellen. Deutlich schwieriger ist das schon mit den Sprechgesängen, die, mit einem Halftime-Unterbau versehen, bestimmte Passagen in Richtung des zum Glück heute ausgestorbenen Rapmetals der 90er lenken. Das ist nun wirklich progressiv und mutig, aber irgendwie sträubt sich im Hörer einiges, daß das hier reinpassen soll. Hidden Timbre hatten 2010 ja schon "Killing In The Name Of" von Rage Against The Machine gecovert, und das scheint Spuren hinterlassen zu haben, in dieser Richtung weiterzuarbeiten - aber was bei der Coverversion nicht zuletzt aufgrund deren Kultfaktors und szeneinternen Status' funktioniert, muß im Kontext der Eigenkompositionen nicht zwingend auch funktionieren. Diese Komponente bleibt also ein interessantes Beobachtungsprojekt - die letzte hoffentlich nicht: Die gelegentlich eingestreuten "Jump, jump!"-Aufforderungen sollte sich Ronny schnell abgewöhnen, da sie in diesem Kontext einfach nur peinlich wirken (wenigstens hat er nicht noch ein "motherfucker" dahintergesetzt ...). Von der Setlist her gehen Hidden Timbre auch recht mutig vor: Sie spielen im Mittelteil des Sets einen Viererblock mit Material des 2007er Albums, bauen ringsherum aber fünf bzw. inclusive der Zugabe "I Hate Myself" sechs neue Songs, die der Hörer noch nicht in Konservenfassung kennt und bei denen daher eher angestrengtes Lauschen als lockeres Fußwippen oder gar timingsicheres Headbangen angesagt ist. Daß der Sound nicht ganz klar ist (einige Gitarrenelemente verschwinden, und vom Baß hört man insgesamt nur wenig, was eindeutig ihm und nicht der sechs- oder der achtsaitigen Gitarre zuzuordnen ist), hilft der Analysetätigkeit nur wenig weiter, schmälert aber zumindest auch nicht den prinzipiellen Genuß- und Unterhaltungswert, und für einige Passagen ernten Hidden Timbre sogar Szenenapplaus aus dem Publikum. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit verzichtet das Quintett auf die letzte geplante Zugabe "DOOM", obwohl mancher Enthusiast im Publikum sie gerne noch gehört hätte. Aber auch so stimmt das Konzert überwiegend positiv, und man nimmt sich vor, die weitere Entwicklung gespannt mitzuverfolgen.



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