www.Crossover-agm.de
Wer hat dies Liedlein erdacht?   11.11.2011   Altenburg, Theater
von rls

Die titelgebende Zeile für dieses Konzert, Nr. 2 der Serie der Philharmonischen Konzerte in Gera und Altenburg, stammt aus der Gedichtesammlung "Des Knaben Wunderhorn", und dort holte sich neben vielen anderen Komponisten auch Gustav Mahler manche Anregung für zu vertonende Texte oder auch musikalisch darzustellende Stimmungen. Nun hatte dieser Gustav Mahler bekanntlich anno 2011 seinen 100. Todestag, und man glaubte eigentlich sein Werk und sein Umfeld in diesem Jubiläumsjahr umfassend gewürdigt - aber die eine oder andere Überraschung erlebt man dann doch noch, so wie an diesem Abend im zweiten Teil.
Vor den zweiten Teil hat der Herr aber den ersten gesetzt, und den bestreitet das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera tatsächlich mit Mahler-Werken, nämlich zehn Orchesterliedern auf Texte eben aus "Des Knaben Wunderhorn". 25 hat Mahler insgesamt geschrieben, aber keine Folge fixiert, und so gilt es der jeweiligen Situation angemessen eine Wahl zu treffen. Das "Lied der Verfolgten im Turm" gleich an den Anfang zu packen ist allerdings eine gewagte Wahl, denn zum "Warmsingen" für Sopranistin Franziska Rauch und Bariton Teruhiko Komori eignet es sich mit seinen Anforderungen nun ganz und gar nicht - und prompt gelingt es auch nicht so richtig, weil beide Sänger noch viel zu angestrengt klingen. Dirigent Jonas Alber, der zweite Bewerber um die Generalmusikdirektorstelle, findet anfangs auch noch nicht die richtige Balance zwischen Orchester und Sängern, so daß vor allem Komori oft zugedeckt wird. Das beginnt in "Des Antonius von Padua Fischpredigt" allerdings deutlich besser zu werden, der Groove gelingt schön locker, und auch die Sopranistin singt deutlich gelöster. Wer genau hinhört, entdeckt hier eine der typischen Ideenwanderungen: Im Scherzo seiner Auferstehungssinfonie zitiert Mahler dieses Lied. "Wo die schönen Trompeten blasen" ist danach wirklich schön, für einige Hörer vielleicht gar zu schön (ergo nahe am Schmalz). Aber die exzellenten Fernwirkungen des Blechs sollte man geschmacksübergreifend zu würdigen wissen, und auch ansonsten gelingt hier ein, ja, doch, schönes Stück Musik, bei dem nicht mal die teils nicht ganz exakten Stropheneinsätze stören. Auf hohem Niveau geht's im dynamischen und witzigen "Lob des hohen Verstandes", von Komori auch gestisch untermalt, weiter, "Trost im Unglück" überzeugt mit den gekonnt umgesetzten Stimmungsschwankungen (so daß man den beiden Sängern auch die nicht ganz perfekte Abstimmung im Duett verzeiht), und "Das irdische Leben" entpuppt sich wiederum als richtiges Glanzstück: Trotz des Tempos eine sinistre Stimmung zu erzeugen muß man erstmal schaffen (Alber und das Orchester tun's), und hier kehrt die hörbare Anstrengung im Gesang wieder - diesmal aber als bewußt eingesetztes Stilmittel. Der aberwitzige Schlußbeckenschlag setzt dem Ganzen dann noch die Krone auf. "Verlorne Müh'!" muß man im gleichnamigen siebenten Lied Franziska Rauch zurufen - der erklommene Gipfel kann nicht gehalten werden, trotz Gestik und guter Dynamik. In "Der Schildwache Nachtlied" folgt einer eher mäßig gespielten harten Einleitung ein langsamer Teil, der zwischen holprig und traumhaft changiert - und dieses Szenario setzt sich fort, bis ein enorm spannender Schlußteil gelingt. Das "Titellied" steht an Position 9, der lockere Groove sitzt, und Rauch wird mit einem ultralangen Sololauf gefordert, den sie auch problemlos meistert. "Revelge" bildet den krönenden Schluß des Zehnerpacks, ein gekonntes Changieren zwischen Militärmarsch und, sagen wir, Privatmarsch, kongenial dramatisiert von Alber und dem Orchester, allerdings auch sehr dankbar konstruiert - man merkt außerdem, daß es eines der letzten von Mahlers Orchesterliedern zu diesem Gedichtzyklus ist, denn hier war er sich seiner Mittel offenbar schon viel sicherer als bisweilen früher. Sehr langer Applaus und etliche Bravi belohnen die Beteiligten.
Die Überraschung des Programms kommt dann nach der Pause: Hans Rott war ein Kommilitone Mahlers in der Kompositionsklasse von Franz Krenn am Wiener Konservatorium, schrieb mit 20 den ersten Satz seiner E-Dur-Sinfonie als Diplomarbeit (die als einzige der eingereichten Arbeiten nicht mit einem Preis belohnt wurde) und mit 22 die anderen drei Sätze dazu (das Komplettwerk fiel bei der Bewerbung um den Beethoven-Preis und ein Staatsstipendium wiederum durch), wurde kurze Zeit später wahnsinnig, kam in die Irrenanstalt und starb dort mit 25. Die Sinfonie fiel der Vergessenheit anheim und wurde letztlich erst 1989 uraufgeführt, wobei sie allerdings weiterhin eher eine Randnotiz in den gängigen Sinfonieorchesterprogrammen bleiben sollte. Das ist verwunderlich und schade zugleich, denn erstens macht sie richtig Hörspaß, und zweitens ist sie strukturell höchst interessant: All die Pioniertaten, die die Nachwelt an Mahlers Sinfonien so schätzt, sind in Rotts Sinfonie mindestens schon als Keimzelle angelegt, wenn nicht gar schon analog ausgeprägt - und das acht bzw. zehn Jahre, bevor Mahler an die Komposition seiner ersten Sinfonie ging! Freilich erging es Rott so wie zahlreichen anderen Pionieren (und auch Mahler selber hatte mit seinen frühen Sinfonien ja noch gegen zahlreiche Widerstände anzukämpfen - ein Kampf, den Rott in seinem labilen Zustand nie hätte ausfechten können), und so ist der Programmplanungsfraktion zu danken, diese E-Dur-Sinfonie wieder einmal ins gebührende Licht zu rücken. Dabei wird man zugleich Zeuge von Rotts immer ekstatischere Züge annehmender Schöpferkraft: Jeder Satz ist länger als sein Vorgänger. Kurioserweise erweckt das Intro des eröffnenden Alla breve-Satzes den Eindruck, als ob die ersten Violinen ein anderes Stück spielen als der Rest des Orchesters - erst im ersten Semitutti begreift man so richtig, wie sich die Linien ineinander verweben. Das erste Tutti gelingt an diesem Abend so strahlend, daß man spätestens hier versteht, wieso der kühle Norddeutsche Brahms, der in der Prüfungskommission für das Staatsstipendium saß, so rein gar nichts mit diesen Klängen anfangen konnte. Das Seitenthema ist richtig schön, und wie der nächste Powerpart nahtlos und ohne Vorbereitung aus dem Ärmel geschüttelt wird, stellt sowohl dem Komponisten als auch den Mitwirkenden des Abends ein exzellentes Zeugnis aus; spätestens hier begreift man auch, im Post-Bruckner-Zeitalter angekommen zu sein (wobei Bruckner Rott, der sein Orgelschüler war, sehr schätzte). Und die brillanten Hektikparts vor dem fast quälend lange ausgespieltem Triumphfinale sind mit Worten kaum zu beschreiben; man bemerkt hier auch, daß der Satz ursprünglich als eigenständiges Stück konzipiert gewesen sein dürfte und auch als solches zu funktionieren hatte, was es auch tut. Hier und da gehen auch mal Kleinigkeiten daneben, etwa gleich beide Eröffnungseinsätze im zweiten Satz, der mit "Sehr langsam" überschrieben ist - aber angesichts der Gesamtleistung verblassen diese kleinen Problemfällchen. Alber nimmt die Satzbezeichnung übrigens nicht ganz wörtlich, sondern wählt ein etwas höheres Tempo, um den durchlaufenden Bombast wohl nicht ganz so erstickend wirken zu lassen. Rott nimmt sich wiederum einige förmlich unerhörte Freiheiten, läßt auch mal den Stimmführer der 2. Violinen solieren und weist mit der Harmonik von Celli und Blech im Bombastzusammenbruch weit in die Zukunft voraus. Ob die winzigen Strukturunterschiede in den Pauken-plus-Orchester-Schlägen vorm Übergang aufs Schlußplateau gewollt waren, müßte man mal in der Partitur nachschauen (wenn ja: Kompliment für diese Präzisionsarbeit!), und besagtes Plateau hat wieder eine enorme Ausdehnung, verflacht allerdings nach hinten, was freilich durch einige besonders sinistre Triangeleinsätze kompensiert wird. Überhaupt hat Rott einen Narren an diesem Instrument gefressen: So häufig wie in dieser Sinfonie dürfte es nirgendwo sonst in der Orchestermusik eingesetzt worden sein; phasenweise beginnt dieses durchdringende Geklingel sogar an den stärksten Hörernerven zu zerren. Ein Anzeichen für Rotts Geisteszustand? Vielleicht. Immerhin hat Mahler dieses Stilmittel nicht auf die Spitze getrieben. Dafür holte er sich eine andere Inspiration bei Rott: Wenn man das Intro des dritten Satzes, "Frisch und lebhaft" betitelt, hört, erkennt man eine Grundidee, die Mahler dann in "Des Antonius von Padua Fischpredigt" und später im Scherzo der Auferstehungssinfonie aufgegriffen hat, freilich ohne das Wiener Liedl, das Rott an dieser Stelle hinzufügte. Im positiven Sinne völlig abartig gebärdet sich das Trio mit seiner romantisch-angedüsterten Violine über einem ultratiefen Solokontrabaß, und irgendwann gesellt sich dann noch der Kuckuck dazu, den Mahler Jahre später in seiner 1. Sinfonie rufen ließ (der Konzerttitel offenbart spätestens hier eine gewisse Doppelbödigkeit ...). Wieder wechselt Rott sprunghaft, aber nicht unlogisch - eine Streicherfuge, ein aberwitziger Hornchoralsatz über einer Cello-Rhythmusgruppe und dann immer wieder diese Triangel ... Ähnlich paradox wird es im letzten Satz, dessen äußerst zerklüftetes Intro hohe Anforderungen an Dirigent und Orchester stellt, denen sich Alber und die Ostthüringer aber problemlos gewachsen zeigen. Ultrabässe gliedern einen förmlichen Melodiensteinbruch, das erste Tutti kommt sehr spät, und die Folge gerät extrem pompös, wird aber immer wieder ironisch gebrochen. Ein Pseudoschluß mündet nur in ein Hornsolo über Celli, wonach Rott beweist, daß er auch die Altmeister wie Bach oder Mozart kennt und sich ggf. zunutze machen kann. Der lange und gigantische Kampf gewährt kaum Ruhepole, und der Vorschlußbombast ist so kraftraubend, daß am Ende alle tot zu Boden sinken - es gibt keinen Triumphschluß, sondern ein langsames Ausfaden, das Alber allerdings schon viel zu früh beendet, während Rott "sehr lange, bis zum gänzlichen Verklingen zu halten" vorgeschrieben hatte. Das ändert aber nichts am erneut lauten und ausdauernden Applaus, der in diesem Fall sowohl der Werkentdeckung (kaum einer im Publikum dürfte es näher gekannt haben) als auch der exzellenten Wiedergabe durch Orchester samt Dirigent gegolten haben dürfte.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver