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Luys   23.06.2011   Leipzig, Evangelisch-reformierte Kirche
von rls

Die Organisatoren des A-Cappella-Festivals Leipzig bleiben ihrer Strategie treu, neben Größen der ohne Instrumente auskommenden Szene auch Geheimtips, die man sonst selten bis nie in deutschen Landen zu sehen und zu hören bekommt, einzuladen. Ob die Beleuchtung der östlichen Grenzregion von Europa zu Asien sich zu einer Serie innerhalb des Festivals auswächst, bleibt abzuwarten, aber es ist zumindest erstmal kein Zufall, daß nach den Georgiern des Ankhiskhati-Chores im Vorjahr nun die Armenierinnen von Luys im Altarraum der Evangelisch-reformierten Kirche am Tröndlinring stehen und die voll besetzten Bankreihen mit den Weisen eines von der Geschichte arg gebeutelten Volkes bekannt machen. Die Konzertstruktur entspricht auch derjenigen der Georgier: Die erste Hälfte enthält geistliche Gesänge, die zweite dann weltliche, und auch die Umkostümierung zur Pause vollführen Luys wie ihre georgischen Nachbarn ein Jahr zuvor.
Damit hat es sich aber im wesentlichen auch schon mit den Parallelen: Luys wurzeln hörbar nicht in der altgeorgischen Polyphonie, was am Arrangeur liegen dürfte: Komitas, einer der geistigen Väter der Armenier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und noch bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (danach fiel er den Armenierpogromen in der Türkei indirekt mit zum Opfer und starb lange nach Kriegsende als geistig wie körperlich gebrochener Mann in einem französischen Hospital), hat das Gros des Materials arrangiert, und obwohl er natürlich mit der traditionellen Gesangsweise seiner Heimat vertraut war, kannte er in gleicher Weise auch die gängigen mitteleuropäischen Kompositionstechniken - er hatte in Berlin studiert - und wandte deren Stilelemente auch in seinem national bezogenen Schaffen an. Daneben greifen Luys aber auch auf viel älteres Material zurück - so ist gleich das zweite Stück nach dem vielschichtigen Opener "Aravat Luso" (der auch schon aus dem 12. Jahrhundert stammt), "Vogormeaner" betitelt, eins aus dem Schaffen von Mesrop Mashtots, dem Mann, der im 5. Jahrhundert aus dem Armenischen eine Schriftsprache machte, die in den Folgejahrhunderten eine zentrale Bedeutung für die heutige Geistesgeschichte entwickeln sollte: Viele antike griechische oder römische Texte sind in ihren Originalen heute nicht mehr vorhanden, wohl aber in den damals angefertigten armenischen Übersetzungen - ein geschichtliches Archiv von unschätzbarem Wert, dessen Füllstand noch größer wäre, hätte nicht wie erwähnt die Geschichte die Armenier häufig arg gebeutelt. Ob das düstere Altsolo, von Shahane Zalyan und Sofya Konjoyan wechselseitig gesungen (und die steigen gekonnt in beeindruckende stimmliche Tiefen hinunter), schon als diesbezüglicher prophetischer Fingerzeig Mesrops zu deuten wäre (es handelt sich um ein Bußlied), soll hier nicht weiter ausdiskutiert werden. Die meisten anderen der geistlichen Stücke haben die Melodie im Sopran, und hier vollbringt Hasmik Baghdasaryan emotionale Höchstleistungen, etwa im Gründonnerstagslied "Sirt Im Sasani", das sie wie viele andere mit geschlossenen Augen singt. Abstimmungsprobleme gibt es allerdings auch ohne Sichtkontakt so gut wie nicht - die fünf Damen sind offensichtlich perfekt aufeinander eingesungen, und so bleibt ein kleiner Holperer wie der Schluß von "Ur Es Mayr Im", als Hasmik wohl ungeplant etwas früher aufhört als ihre vier Kolleginnen, die absolute Ausnahme. Schon der Entrücktheitsfaktor des folgenden "Surb, Surb" (Heilig, Heilig) macht solche winzigen Probleme locker wett. "Varanim I Meghats" ist im Programmheft mit den Worten "modern arrangiert" gekennzeichnet - und tatsächlich, es würde fast nach Taizé passen. "Aravot Lusaber", ein Lobgesang auf den Apostel Thaddäus, der der Überlieferung nach das Christentum nach Armenien gebracht haben soll (und die Armenier sind noch heute stolz darauf, daß sie das erste christliche Staatsvolk der Erde waren), zeigt, daß geistliche Gesänge durchaus nicht immer einen gesetzt-feierlichen Ton aufweisen müssen, und kurz vor Schluß entdeckt man dann im Heiligabend-Synaxis-Lied, daß Komitas auch die Fugentechnik aus Berlin nach Armenien gebracht haben muß, wobei das Stück dann aber in einem dramatischen Unisono-Finale mündet.
Der zweite Teil gehört weltlichen Gesängen, wobei Luys hier nicht das Konzept der Georgier übernehmen, aus verschiedenen Regionen ihrer Heimat jeweils einzelne Lieder vorzustellen (das wäre bei der Geschichte des Volkes wohl auch zu frustrierend). Statt dessen liegt ein erstaunlicher Fokus auf Hochzeitsliedern - ein Wink mit dem Zaunpfahl? Immerhin sehen gleich mehrere der Damen derart zum Anbeißen aus, daß man sie vom Fleck weg heiraten würde :-) Oftmals sind mehrere der sehr kurzen Stücke zu einem Block zusammengefaßt, die Ausdrucksvielfalt nimmt immens zu (obwohl schon die geistlichen Gesänge keinesfalls durch Monotonie aufgefallen waren), und man beginnt Bauklötze zu staunen, wie traumwandlerisch treffsicher das Quintett selbst in flotten Nummern wie dem Hochzeitslied "Arnem Ertam Im Yary" agiert, ohne jemals das Gefühl von Unordnung aufkommen zu lassen. Wenn das eine oder andere Lied einen leicht wahnsinnigen Eindruck hinterläßt, dann ist das in diesem Fall so geplant, wie etwa in "Ervum Em", in dessen Text es um einen vor Liebe vergehenden Menschen geht. Aber auch große Hymnen wie "El El" überzeugen, und "Alagyaz" zeigt nochmal Komitas' an der europäischen Romantik geschultes Arrangementvermögen. "Naro" führt Hasmik in größere Höhen als je zuvor, aber die Sopranistin entledigt sich dieser Aufgabe mit großer Leichtigkeit und Eleganz, wobei dieses Stück aus dem 20. Jahrhundert fast ein wenig nach nordeuropäischer Folklore klingt, obwohl der Arrangeur einen typisch armenischen Nachnamen trägt. Und auch "Hoy Nazan", nochmal ein Liebeslied, weist nach Norden - seine Rhythmusvielfalt ähnelt Knut Nystedts "Hosanna", aber dieses Stück konnte Arrangeur Komitas noch gar nicht kennen. Der witzige Schlußeffekt baut die Brücke zum vielschichtigen Closer "Deriko And Jan Maral", natürlich wieder ein Liebeslied, diesmal mit harmonisch äußerst interessantem Schluß, nach dem sofort lauter Beifall losbricht. Drei Zugaben lassen sich Luys noch entlocken: das Sopranduett "Nubar-Nubar", das vielschichtige, leicht hymnische und von den Damen selbst arrangierte "Khio-Khane" und schließlich "Maral-Maral", natürlich ein Liebeslied, in dem als bisher noch gar nicht gehörtes Stilmittel auch noch die Andeutung einer Call-and-response-Struktur auftaucht. Dann ist endgültig Schluß, das beeindruckte Publikum freut sich über eine neuerliche Entdeckung am musikalischen Horizont, und der Rezensent hat nun auch noch kulturelle Argumente für seinen Plan, in einem der nächsten Jahre mal nach Armenien zu reisen und den höchsten Berg des heutigen Staatsgebietes, den Aragaz, zu besteigen ... Wer das Review relativ zeitnah zum Onlinegehen liest: Der Deutschlandfunk hat das Konzert aufgezeichnet und sendet den Mitschnitt am 11. August 2011 um 21.05 Uhr im "Festspielpanorama".



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