www.Crossover-agm.de
7. Sinfoniekonzert   19.05.2011   Zwickau, Konzert- und Ballhaus "Neue Welt"
von rls

Natürlich muß das Gedenken an den 100. Todestag des für seine monumentalen Sinfonien bekannten Gustav Mahler nicht den großen Klangkörpern vorbehalten bleiben - andererseits mutet das Vorhaben des Philharmonischen Orchesters Plauen-Zwickau, sich als Gedenkkonzert die neunte der Sinfonien vorzunehmen, zumindest in der Theorie erstmal gewagt an. Die Praxis dieses Abends, soviel sei vorweggenommen, beweist allerdings, daß auch unter den gegebenen Bedingungen eines übersichtlich besetzten Orchesters in einem akustisch nicht idealen Saal ein durchaus achtbares und hörenswertes Resultat entstehen kann, wobei der Rezensent ganz hinten in der linken Ecke sitzt, also in maximaler Entfernung vom Orchester - der akustische Eindruck kann an anderen Stellen im Saal also auch ein komplett differierender sein, und dort sind möglicherweise auch die Außengeräusche nicht mehr so deutlich hörbar: Immer wenn draußen auf der Leipziger Straße ein größeres Gefährt vorbeirauscht, klingt es in der hinteren linken Saalecke wie einer dieser unheimlichen leisen Wirbel auf der großen Trommel, die Mahler ja hier und da auch als bewußtes Stilmittel eingesetzt hat, beispielsweise in seiner Zweiten - ein im gegebenen Kontext also reichlich skurril anmutendes Problem.
Vor die Sinfonie hat die Programmplanungsfraktion allerdings noch einen weiteren Programmbestandteil gesetzt, nämlich die drei Rückert-Lieder, die parallel zu den ersten Kindertotenliedern entstanden, aber in einer anderen Sammlung veröffentlicht wurden. Hier ist die übersichtliche Orchesterbesetzung nun eher von Vorteil - allerdings hat auch Mahler selbst diese Orchesterlieder schon relativ transparent konzipiert und dem Sänger damit eine Steilvorlage geliefert, daß er nicht zwingend sehr laut agieren muß, um gegen das Orchester überhaupt hörbar zu bleiben. Bariton Shin Taniguchi, seit der laufenden Spielzeit Ensemblemitglied im Plauen-Zwickauer Theater und anno 2000 schon mal mit einem Robert-Schumann-Preis dekoriert, muß sich also nicht über Gebühr verausgaben - aber der Textverständlichkeit hilft auch das nicht auf die Sprünge, sie bleibt in der Nähe von Null. Eine schöne Stimme hat er zweifellos, dafür läßt die Tempo-Feinabstimmung mit dem Orchester vor allem in den beiden hinteren Liedern aber deutlich zu wünschen übrig. Wenigstens paßt das Stimmungsgemälde, das Sänger, Orchester und Lutz de Veer, Nachfolger von Georg Christoph Sandmann als Generalmusikdirektor des Orchesters, gemeinschaftlich entwerfen, in allen drei Liedern, vom flott-flockigen "Blicke mir nicht in die Lieder!" (Archimedes läßt grüßen) über das romantisch schwelgende "Liebst du um Schönheit" bis hin zum angedüsterten "Um Mitternacht", dessen Schlußteil alle Beteiligten äußerst plastisch herausmodellieren und sich damit den sehr wohlwollenden Applaus des Publikums redlich verdienen.
Vor seiner neunten Sinfonie hatte Mahler immer etwas Angst - er kannte die alte Mär, kein großer Komponist käme über die Zahl 9 hinaus, und nannte "Das Lied von der Erde" daher eben nicht seine Neunte, obwohl es als Sinfoniekantate formal zweifellos in die Zählung gehört hätte. Erst als "Das Lied von der Erde" vollendet und er immer noch nicht gestorben war, machte er sich daran, nun auch einen regulär gezählten Neuntling zu schreiben, diesmal ein rein instrumentales Werk mit zwei langsamen Außensätzen. Deren erster ist "Andante comodo" überschrieben und beginnt mit einem einzelstimmendominierten Intro, das an diesem Abend noch etwas zu trocken klingt - die "Einspielphase" endet erst mit den ersten Tuttipassagen, die durch ein äußerst geschicktes Dynamikmanagement auffallen. De Veer, den der Rezensent an diesem Abend zum ersten Mal live erlebt, fällt durch ein sehr ruhiges und kontrolliertes Dirigat auch in wilderen Passagen auf. Trotzdem dauert es noch etwas, bis er richtig Ruhe ins Orchester bringt; in der Passage um den ersten Beckenschlag etwa herrscht immer noch etwas zuviel Unordnung, was aber das Blech mit einer Extraportion Boshaftigkeit in seinem teils verzerrten Solopart wieder wettmacht. Der Dirigent wählt ein im besten Sinne durchschnittliches Tempo, hält sich also von Extremen fern, und laviert sich und das Orchester gekonnt durch den ausufernden Rest des Satzes, bevor man auch die nötige Ausklangruhe hinbekommt.
Mit der Ruhe ist's im zweiten Satz freilich schnell vorbei, den Mahler mit einer seiner berühmten plastischen Überschriften versehen hat: "Im Tempo eines gemächlichen Ländlers. Etwas täppisch und sehr derb". Und schon im groovigen Intro bemerkt man die förmlich diebische Freude des Orchesters an den zahlreichen ironischen Brechungen des Geschehens. Da tänzelt de Veer auch mal auf dem Pult, da fallen auch etliche Blechunfälle nicht so richtig ins Gewicht. Allerdings: Ein bißchen kontrastreicher hätte man sich diesen Satz durchaus gewünscht, denn de Veer ebnet hier etwas zu viel ein, schüttet Abgründe mit dem aus Abtragung von Kuppen gewonnenen Material zu und bleibt in einem sehr engen Ausdrucksspektrum, das nicht nur die im Programmheft angedrohten "extremen Kontraste der Lautstärke" missen läßt, sondern überhaupt fast jegliche Kontraste.
Und es scheint anfangs, als ob diese "Strategie" auch im dritten Satz (wieder so ein sprechender Titel: "Rondo-Burleske: Allegro assai. Sehr trotzig") angewendet würde - aber dann beginnt de Veer doch, härter zuzupacken und mehr Energie zu transportieren, und das ist zweifellos eine weise Entscheidung. Zwar bleibt in den ruhigeren Passagen immer noch mancher Wunsch nach mehr Entspannung offen, aber die Gegenseite, also der Monumentalitätsaspekt, wächst, übrigens keineswegs proportional zum Tempo. Dafür entdeckt man hier Momente, die in der Musikgeschichte weit vorausweisen, etwa auf Schostakowitsch, der bisweilen auch solche sprechenden Satztitel wählte, und die Hörner spielen schon mal das, was später leicht abgewandelt die Schlußtonfolge des Invasionsthemas der Leningrader Sinfonie werden sollte. Im Schlußteil dieses Satzes läßt de Veer seine Musiker dann von der Leine, und diese bedanken sich mit einem furiosen Satzfinale, in dem Witz und Energie eine gekonnte Symbiose eingehen und manchen Patzer (wieder mal das Blech) vergessen machen.
Diese Form nimmt das Orchester auch mit ins abschließende Adagio: Den Streichern gelingt ein wunderbares choralartiges Intro, und de Veer reduziert die Dynamikstufen zwar wieder etwas, spielt aber gekonnt auf dieser verkürzten Klaviatur. In der Folge wechseln Licht und Schatten munter - nur ein kleines Beispiel: Zwar holpert das Holzsolo ein bißchen, aber es evoziert auch einige schlicht und einfach wunderschöne Klänge. Der große Ausbruch zeigt, daß es immer noch ein paar Reserven nach oben gäbe, und für kleine Wackler in den folgenden Chorälen entschädigt der letzte Trumpf, den de Veer jetzt noch ausspielt: Hatte man bisher fast nie den Eindruck gehabt, als könne an diesem Abend richtige Ruhe klanglich transparent gemacht werden, so legen Orchester und Dirigent jetzt jede Menge Spannung in die leisen Parts rings um die Generalpausen, und das kompetent schluchzende Solocello leitet die mehrminütige Verklingpassage am Ende ein, in der die enorme Spannung nur durch das zu unruhige Publikum teilgebrochen wird. Einer hält es dann gar nicht mehr aus und beginnt sofort nach dem Schlußton zu klatschen, so daß die Spannung auch nicht mehr stehen kann - die Katharsis aber ergibt etliche Bravi und lang anhaltenden Applaus, für den de Veer u.a. mit einem Hinweis auf die Partitur dankt.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver