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Grosses Concert IV/5   29.04.2011   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Bisweilen bildet sich zwischen Komponisten und Aufführenden eine Art besonderer Symbiose aus. Bei Kalevi Aho und Osmo Vänskä ist das auch so - der eine komponiert, der andere führt die Werke als Dirigent auf. Letztgenannter steht an diesem Abend als Gastdirigent am Pult des Leipziger Gewandhauses und bringt in der ersten Konzerthälfte das Konzert für Flöte und Orchester, das erstgenannter anno 2002 schrieb, zur deutschen Erstaufführung. Als Solistin ist Sharon Bezaly angekündigt, für die Aho das Werk komponierte - die Flötistin, die dann letztlich auf der Bühne steht, sieht allerdings völlig anders aus als das mit diesem Namen bezeichnete Wesen auf dem Bild im Programmheft. Aber da nirgendwo eine Information steht, die sich auf einen kurzfristigen Personalwechsel beziehen würde, nehmen wir einfach an, daß sie es doch gewesen ist.
Was die beiden Werke dieses Abends zusammenhält, ist die Satzstruktur Langsam - Schnell - Langsam. "Misterioso, adagio" ist der erste Satz von Ahos Konzert überschrieben, und tatsächlich erzeugen Soloflöte und Harfe gleich in der Einleitung eine Art mystische Stimmung, die auch erhalten bleibt, als die Streicher dazukommen. Dann entwickeln sich Klangflächen, die man auch ohne das Wissen um Ahos finnische Herkunft als typisch nordisch hätte einordnen können. Die Soloflöte hat allerdings oft keine nordische Klarheit zu transportieren, sondern muß "verschmierte" Töne spielen, und ob die bisweilen etwas untighten streicherzupfer Absicht waren, kann, wie das bei Gegenwartskomponisten so ist, nur anhand eines Blickes in die Partitur eruiert werden. Partiell baut Aho auch größere Bombastflächen auf, leicht cineastisch und nicht zu atonal, und sein Meisterstück dieses Satzes, kongenial umgesetzt von den beteiligten Musikern, gelingt ihm mit der ultrafinsteren Passage von großer Trommel, Flöte, Posaune und Tiefstreichern - darauf wären auch seine Landsleute Thergothon stolz gewesen. Die Dramatik steigt stark an, fällt aber später wieder in sich zusammen.
"Presto, leggiero" steht über dem zweiten Satz, und das bedeutet zunächst eine flotte Soloflöte über mal gleichfalls flottem, mal aber auch nur Einzelakkorde einwerfendem Orchester. Partiell entwickelt sich eine duellartige Struktur der Flöte mit einzelnen Orchesterinstrumenten - offensichtlich kennt Aho ähnliche Bildungen aus den Soloparts diverser Siebziger-Rockbands. Zudem vertraut er auf die Kraft der Polarisation: Einem großen Orchesterausbruch folgt fast solistisches Flötengestreichel, übrigens mit zwei größentechnisch verschiedenen Flöten. Auch die schrittweise Re-Dramatisierung nach diesem Ruhepol verrät, daß Aho sein kompositorisches Handwerk zweifellos beherrscht. Als dritten Satz hängt er noch einen kurzen Epilogue attacca an den zweiten an, der nach einigen hübschen Wendungen in den weiten finnischen Tundren verschwindet und in einem langen leisen Flötenton mit zum Schluß so gut wie unhörbaren Harfenzupfern verebbt. Für den Applaus bedankt sich die in ein schwarz-grünes Kostüm gehüllte Solistin noch mit der Sarabande aus Bachs a-Moll-Partita, leider etwas zu trocken und kühl wirkend.
Die oben erwähnte Satzstruktur ist bei Anton Bruckners 9. Sinfonie einem Unglücksfall zuzuschreiben - eigentlich hatte Bruckner noch einen vierten Satz zu schreiben begonnen, um die weiland normale Struktur zu erreichen, aber der postulierte Widmungsträger der Sinfonie, der "liebe Gott", nahm ihm den Stift etwas zu früh aus der Hand und zerstreute auch die Skizzen des vierten Satzes, so daß es für die gängige Konzertfassung beim dreisätzigen Fragment blieb. Selbige setzt im ersten Satz ("Feierlich. Misterioso") mit einem ruhigen Part ein, den freilich das ziemlich aufgekratzte Publikum wirkungsseitig etwas versaut, was auch auf weitere Passagen eigentlich entspannter Stimmung zutrifft - ein derartige Unruhe ausstrahlendes Auditorium hat der Rezensent im Gewandhaus lange nicht mehr erlebt. Vänskäs Strategie scheint zunächst eine gewisse Monumentalisierung des Werkes zu sein: Er wählt für den ersten Satz ein äußerst schleppendes Grundtempo, spielt die große Klangschichtung lange aus, muß mit einem leicht untighten großen Ausbruch zufrieden sein und darf sich über wunderbare Solohornpassagen im nächsten ruhigen Part freuen. Zudem setzt er auf intensive Kontrastwirkungen: Die Fortissimi kratzen schon am Lautstärkegipfel (das ist der Vorteil, wenn man hinten nicht auf weitere Gipfel im Finale Rücksicht nehmen muß), während die Celloteppiche kurz vor der Unhörbarkeit stehen. Der lärmige Schlußteil gelingt in seiner Niederschmetter-Anmutung wieder perfekt.
Was Vänskä im ersten Satz an Zeit "eingebüßt" hat, will er im "Scherzo: Bewegt, lebhaft" offensichtlich wieder aufholen, wobei ihm das Kunststück gelingt, den Satz trotzdem nicht überhastet wirken zu lassen. Dafür evoziert er eine andere hochinteressante Wirkung: Er neigt dazu, die Zäsuren zwischen den stampfenden "Zeilen" mehr oder weniger zu überspielen, und verleiht diesen Passagen daher etwas Motorisch-Niederwalzendes, das nur gelegentlich durch hübsche Kammermusikeinlagen aufgelockert wird. Das Trio wiederum lebt von seiner rhythmischen Aufregung, und in der Wiederholung des Eingangsteiles ist auch die Kammermusik nicht mehr hübsch, sondern aufwühlend bis expressiv. Der Schluß erreicht den Lautstärkepegel des ersten Satzes nicht, aber die Motorik sitzt trotzdem perfekt.
Nochmal ganz anders dann das "Adagio. Langsam, feierlich": Vänskä hat im Scherzo offenbar noch nicht genug Zeit aufgeholt und nimmt wiederum ein vergleichsweise hohes Grundtempo - aber das rächt sich diesmal. Die wohlige Gänsehaut am Gipfel der ersten großen Schichtung soll die einzige des Satzes bleiben, denn danach beginnt der Satz irgendwie zu zerfasern, trotz guter Einzelleistungen gerät das Gesamtbild etwas aus den Fugen, und obwohl der letzte Ausbruch sitzt wie eine Eins, kann man sich eines indifferenten Gefühls nicht erwehren, woran auch das Publikum mal wieder schuld ist, das in die kurze Pause zum Epilog hin schon wieder kräftig hustet und damit die ganze Spannung des Schlusses torpediert. Schade, denn so behält man eher den unglücklichen letzten Teil in Erinnerung als die mindestens gutklassigen Leistungen des restlichen Konzertes, und auch der Applaus gerät solide, bleibt aber ohne größeren Enthusiasmus.



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