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Leipziger Universitätsorchester   29.01.2011   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Nonprofessionelle Nachwuchsorchester müssen im Leipziger Gewandhaus nicht selten mit einem halbvollen Saal vorlieb nehmen. Das ist an diesem Abend anders: Eine riesige Schlange windet sich durchs Abendkassenfoyer, wegen dichtem Gedränge am Haupteingang muß sogar noch eine weitere Einlaßstelle geöffnet werden, und weil es aufgrund dieses unvermuteten und eher kurzfristig geprägten Andrangs nicht alle Besucher rechtzeitig bis in den Großen Saal schaffen, beginnt das Konzert mit einer knappen Viertelstunde Verspätung. Ganz ausverkauft ist das Haus letztlich dann doch nicht, aber nur relativ wenig Sitze bleiben leer, und an einen Programmhefterwerb brauchen viele Besucher gar nicht mehr zu denken.
Antonín Dvoráks Klavierkonzert g-Moll bildet den Auftakt des Konzertes, und die kontrollierte Power der großen spätromantischen Orchestereinleitung soll, wie man zweieinhalb Stunden später feststellen wird, programmatisch für den Abend bleiben. Trotzdem reicht selbst ein weit zurückgenommenes Orchestertutti noch, um Young Min Songs Klavierspiel akustisch komplett zuzudecken. Das ist schade, denn so wird das Nachvollziehen der gemeinsamen Arbeit etwas erschwert. Die nämlich bewegt sich auf durchaus achtbarem Niveau, Pianist und Dirigent achten aufeinander, und die Feinabstimmung mit dem Orchester gelingt oftmals auch sehr gut, beispielsweise in den viertönigen Dialogpassagen dieses Satzes, während der entrückte Charakter der anschließenden Passage durchaus noch etwas ätherischer hätte transportiert werden können. Das macht der Pianist aber mit flüssigem und rundem Spiel auch in den technischen Passagen (und von denen gibt es viele!) wieder wett, wobei er interessanterweise zugleich einen großen Showtypen abgibt - jede Überleitung aus rasenden Passagen ins Orchestertutti untermalt er mit weit ausschwingenden Bewegungen von Armen und Oberkörper. Daß er das theoretisch nicht nötig hätte, sondern auch allein mit seinem Spiel zu überzeugen weiß, zeigen die wunderbaren gefühlvoll-leisen Arpeggien in der Kadenz, während der Dialog mit dem Holz, der aus der Kadenz herausführt, deutlich zu trocken gerät. Der Schlußwitz macht das aber problemlos wieder wett. Der anschließende langsame Satz allerdings deckt die Schwächen im Orchester gnadenlos auf: Trotz versuchten beruhigenden Einflusses der Streicher geraten viele Passagen deutlich zu hölzern, nicht elegant genug - vor allem Hörner und Holz agieren bisweilen deutlich zu trocken. Zwar sind durchaus gelungene Elemente nicht zu überhören, zu denen beispielsweise der wunderschöne Dialog zwischen Klavier und Horn zählt, aber da versägt der Hornist dann eben wieder den Schlußton. Da gelingt der Schlußsatz in der Gesamtbetrachtung dann doch besser. Dirigent Kiril Stankow läßt auch hier nicht mehr als kontrollierte Offensive spielen und legt ein geschicktes Tempomanagement ohne jegliche Extreme hinein, wenngleich der eine oder andere Part doch erstaunlich kuschlig ausfällt. Freilich: Im schnellen Schlußpart gerät die Tempofeinabstimmung zwischen allen Beteiligten dann doch immer mal durcheinander, und es braucht eine gewisse Zeit, bis man sich jeweils wieder gefunden hat. Das hindert das Publikum nicht am Spenden von viel Applaus, der allerdings nicht reicht, um dem Pianisten noch eine Zugabe zu entlocken.
Nach der Pause geht es mit Franz Schuberts Unvollendeter Sinfonie weiter (aufgrund unterschiedlicher Zählweisen bisweilen mit differierender Ordnungszahl versehen). Die nimmt das Orchester mit für die Entstehungszeit vergleichsweise voluminöser Besetzung in Angriff, aber die dadurch möglich gewordene größere Nuancierung beim Powermanagement ist der Aufführung an diesem Abend durchaus dienlich, und es gelingt ein gekonnter Mix aus Energie und Sachertorte. Die Sinistrität der grollenden Passagen überzeugt auch, allerdings fällt auf, daß Stankow über den gesamten ersten Satz hinweg so gut wie keine dynamische Entwicklung einbastelt, sondern sich lediglich auf die kleinteilige Arbeit konzentriert. Aber so klappt zumindest die, wie man schon an der gelungenen eskapistischen Stimmung in der Einleitung bemerkt, trotz der hinterherhängenden Klarinette (in den beiden Wiederholungen sitzt die Stelle dann). Und die düsteren Tiefstreichersoli werfen gar schon einen Blick ins letzte Stück des regulären Programms hinüber. Dem vorgeschaltet ist aber noch der zweite vollendete Schubert-Satz, anfangs etliche Abstimmungsprobleme beim Wechsel von Bläsern in Streicher et vice versa offenbarend, die sich aber bald legen. Die leisen Passagen haben durchaus das Potential für hohe Eskapismusfaktoren, denen freilich der Erkältungspegel des Publikums einen Strich durch die Rechnung macht und damit selbst richtig schöne Holzsoli (von denen gibt es einige!) wirkungsvoll verhagelt. Stankow läßt das Grundtempo relativ weit unten, was einen schönen schweren Groove in manchen Tuttipassagen ergibt, und zum Ende nimmt er es immer weiter heraus, so daß sich ein hübscher kammermusikalischer Effekt ergibt, der freilich mit schmerzhaften Unstimmigkeiten in den ersten Violinen und einem versägten Schlußton einhergeht.
Gustav Mahlers "Totenfeier" ist eigentlich der erste Satz seiner 2. Sinfonie, der aufgrund seiner Länge und seiner Entstehungsgeschichte auch ein Eigenleben als selbständiges Konzertstück zu führen begonnen hat, wie man das auch von manchen Opern- oder Theaterouvertüren her kennt. Hier entfaltet sich die Strukturdeterminierung durch die Tiefstreicher richtig, und das machen die Beteiligten anfangs auch richtig gut, bis aus heiterem Himmel Nervosität einzieht, die sich nur in den Tuttiausbrüchen wieder legt. Gute Einzelleistungen sind nicht zu verkennen - das Holz beispielsweise macht rings um Tuttiausbruch 2 manchen Wackler aus den vergangenen Werken wieder wett, und der markante absteigende Unisonoteil bei Ausbruch 1 ist genau das, was er sein soll, nämlich unisono. Und paradoxerweise wiederholt sich solch Geschehen, also ein buntes Miteinander aus wirklich gelungenen Passagen (etwa die beeindruckend locker aus dem Ärmel geschüttelte Tempoverschärfung vor dem dritten Tuttiausbruch oder die sinistre Spannung in den ruhigen Passagen) und mancherlei nervöser Unordnung, fast zyklisch. Auffälligerweise verzichtet Stankow auch hier auf ein übergeordnetes Dynamikmanagement, und so bläst auch in den voluminösen Passagen eine kontinuierliche steife Brise, aber kein richtiger Sturm von der Bühne, obwohl die Orchestergröße für einen solchen durchaus ausgereicht hätte. Der Applaus des Publikums zeigt aber, daß ihm offensichtlich auch diese Windstärke genügt hat.
War's das? Natürlich nicht - der Kenner der Konzerte dieses Orchesters weiß, daß noch eine außergewöhnliche Zugabe zu folgen pflegt, und auch der Nichtkenner hätte das diesmal schnell erkennen können, denn da steht beispielsweise links hinten in der Ecke noch ein kleines Rockschlagzeug auf der Bühne, das bisher noch nicht zum Einsatz gekommen ist, aber nun in der Zugabe seinen Zweck erfüllen wird. Die Wahl ist diesmal tatsächlich auf ein original im Rockbereich zu verortendes Stück gefallen, nämlich "Knights Of Cydonia" von Muse (original der Closer des 2006er "Black Holes And Revelations"-Albums, später auch noch als Single ausgekoppelt), und das wird natürlich wieder mit mannigfachen Gimmicks unterstrichen. Die ersten Violinen ziehen Lederjacken über und bekommen Bierflaschen auf die Bühne gereicht, die diversen Langhaarigen des Orchesters lösen ihr Haar und verwandeln sich in Headbanger, Sonnenbrillen sind immer ein beliebtes Accessoire in den Zugabenblöcken des Orchesters, ebenso wie die rotierenden Celli, und mancherlei Perücke verwandelt auch Menschen mit etwas schütterem Haupthaar in potentielle Headbanger. Dazu gehört auch der Dirigent, der mit seinem Exemplar wie ein in einen Farbkasten gefallener Vince Neil aussieht und zudem noch eine aufblasbare Gitarre gereicht bekommt, mit der er auf dem Pult fleißig post. Freilich fehlt ein Ritter auf der Bühne, den man allein aufgrund des Werktitels hätte erwarten können ... Das Stück selbst macht durchaus Hörspaß und bleibt nicht mal instrumental, weil erst die Bratschen und die Celli, schließlich auch weite Teile des restlichen Orchesters zwischendurch aufstehen und einzelne Passagen im Chor singen. Das Publikum ist begeistert, und so muß der Schlußteil sogar nochmal wiederholt werden, bevor Stankow sich bei Konzertmeisterin Henrike Heyne unterhakt und sie aus dem Saal führt, unmißverständlich das Konzertende kundtuend. Gute Unterhaltung, die natürlich mancherlei zu beackendes Arbeitsfeld aus den Stücken davor nicht kaschiert, aber viel für den Gesamteindruck des Abends, der im Langzeitgedächtnis zurückbleiben wird, tut.



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