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Reentko   22.11.2010   Dresden, Societätstheater - Eugen-Gutmann-Saal
von mi

Die Vorfreude war groß, als mir zu Ohren kam: Reentko Dirks, u.a. Preisträger des Deutschen Kleinkunstpreises 2008 für Annamateur und die Außensaiter und Mitglied weiterer aufregender Kombos wie des Gitarrenduos Dirks und Wirtz, spielt im Dresdner Societätstheater zwei Releasekonzerte seiner neuen CD "Sounds For The Silver Screen". Natürlich wurde sich gleich eine Karte gekauft, schließlich kenne ich diesen Ausnahmemusiker von verschiedensten Auftritten mit der unvergleichlichen "Röhre" Annamateur und seinen Duetts mit dem ebenso begnadeten Gitarristen Daniel Wirtz als auch mit dem türkischen Gitarristen Erkin Cavus, mit dem er die musikalische Bandbreite zwischen Orient und Okzident beleuchtete.
Nun also eine Soloplatte. Da war ich natürlich äußerst gespannt, welche musikalische Richtung diese einschlagen würde, schließlich war und ist Reentko stets darauf bedacht, neue Stile kennen zu lernen, sich anzueignen und mit anderen Einflüssen zu neuen Klangspielen zu verknüpfen: Studiert hat er in Dresden "Gitarre Worldmusic", in Jerusalem lebte er für ein halbes Jahr, um die dortige arabische Musik zu studieren, mehrfache längere Aufenthalte in der Türkei brachten ihm orientalische Klänge näher und dem Funk und Jazz war er schon immer recht nah.
Für die, ursprünglich gar nicht geplante, Live-Präsentation der neuen Platte holte er sich mit Stefan Braun (Cello) und Demian Kappenstein (Drums) zwei herausragende Musiker ins Boot, die, wie weitere Musiker, auch an einigen der Aufnahmen im Waldhausstudio von Mohi Buschendorf beteiligt waren.
So also war die Spannung groß, als man kurz vor Beginn des Konzertes die Plätze im fast ausverkauften Eugen-Gutmann-Saal des Societätstheaters Dresden einnahm. Schon ging das Licht aus, Reentko betrat die Bühne mit seiner handgefertigten Double Neck-Gitarre von Ekrem Oskarbat aus Istanbul und begann das Set mit dem bisher erfolgreichsten Song des Albums, "Kushan", der diesen Sommer den 1. Preis beim International Songwriting Contest gewann. Ein Song, bei dem man sehr gut Reentkos einmaliges Gespür für musikalische Spannungsgewitter erleben kann. Mystisch, fast unheimlich, wie eine Staubwolke am weit entfernten Horizont, kommt er leise auf einen zugerollt, baut sich schwallweise auf, die beiden Mitmusiker, die inzwischen unbemerkt die Bühne betreten haben, mischen weitere Klangflächen hinzu und türmen den Song mit blechernem Schlagzeug und ruppigem Cello mehr und mehr zu einem Ungetüm, welches mit großem Getöse über den Hörer herein- und urplötzlich in sich zusammenbricht. Reentko selbst schrieb zu dem Song, er wollte mit "Kushan" den Sound eines Vulkans darstellen. Das ist ihm blendend gelungen!
Mit diesem beeindruckenden Einstieg hatte er die Zuhörer sofort gefesselt und ging sofort über in den weiteren Verlauf des Sets. Und das barg so einige Überraschungen. In "Tides" windet sich das Gitarrenmotiv durch nebulös verschleierte Sphären, "Marionettes" hat so eine herzzerbrechende Melodie, dass man sich kaum traut weiter zu atmen, um den zerbrechlichen Klang nicht zu zerstören. In "Bedouin Android" spätestens hört man dann auch die orientalischen Einflüsse, denen sich Reentko ausgesetzt hat, doch noch viel auffälliger sind die Verzerrer, die plötzlich im hinteren Teil des Songs ins Geschehen eingreifen und vermengt mit der akustischen Gitarre und den fast brachialen Drums einen völlig neuen Sound entfalten. Ob schonmal jemand darauf kam, Musik aus Fernost mit Elementen des Industrial zu vermischen und in eine Theateratmosphäre hinein zu projizieren? Der Versuch ist definitiv geglückt! Ähnlich beeindruckend ob seiner Stilüberschreitungen ist "Chase": ein aufregend, fast aggressiv wuselnder Song auf der Double Neck gespielt, aber mit einem Effekt belegt, der sie wie die Gitarre einer Melodic Metal-Band klingen lässt, und mit metallener, aber maßvoll eingesetzter Schlagzeugbegleitung. Zwischendurch wird der brutale Riff von einer Akustikbridge unterbrochen, die sich vergebens gegen diesen alles zerstörenden Sound-Tsunami versucht zu stemmen, von Beginn an aber chancenlos ist und letztendlich auch von der überlegenen Gewalt dieser verzerrten Gitarre überrollt wird und in lautem Geschrei untergeht. Ein durchaus gewagter Song, den man nicht unbedingt erwartet hätte, aber ein Überraschungsmoment markiert.
Ein weiteres musikalisches wie optisches Highlight stellte "Jerusalem Syndrom" dar. Das Stück handelt von der gleichnamigen psychischen Störung, in deren Verlauf sich Bewohner der Stadt Jerusalem der Wahnvorstellung hingeben, eine heilige Person aus der Bibel zu sein, und dementsprechend auffällige Verhaltensänderungen aufzeigen. Auch hier gelang es Reentko sehr gut, seine äußeren Wahrnehmungen in ein Songkonstrukt zu verpacken. Vorsichtig windet sich der Song, als hätte er schon eine leise Vorahnung, was ihm bevor steht, bis er plötzlich und wiederkehrend von wilden Schlägen auf die Saiten der nebenstehenden Gitarre und ab und zu ausgestoßene Schreie aufgewirbelt wird, zu rasen beginnt, sich fast selbstständig macht, sich dann scheinbar wieder fängt, versucht zu sammeln, sich zu finden, aber im nächsten Moment wieder wie von Geisterhand gepeitscht in einen neuen Strudel des Wahns gerät und in einem rasanten Abwärtslauf der Gitarre ein jähes Ende findet. Ein einprägender Moment dieses Abends.
Auch einen "alten Bekannten" trifft man wieder: das harmonische "Farewell" von der früheren Platte "Danza Non Danza" als geeigneten "Runterbringer" nach "Jerusalem Syndrom".
Das Finale des Abends aber steht ganz im Zeichen der großen Show: Mit "Demian" hat sich die Kombo einen weiteren Kracher bis zum Schluss aufgehoben. Ein Stück, das in jeden Bond-Streifen passen könnte, mit einem fesselnden Cellomotiv, das mehr geschlagen als gestrichen wird, einem eingängigen Gitarrenriff, tobenden Drums und einem Synthesizer für die speziellen Effekte. Dazu sogar noch eine klasse Lichtshow von dem, den ganzen Abend schon überzeugenden, Lichttechniker. Das war ganz großes Kino!
Das Fazit des Abends: Man wurde Zeuge einer gelungenen Release-Show zu einer Platte ohne stilistische Grenzen und Angst vor Neuem. Reentko bewies eine gesunde Neugierde an neuen Einflüssen und tobte sich mit seinen Ideen aus, ohne dabei den Faden zu verlieren. Das jedoch ist nur durch seine so ausgeprägte Musikalität - er spielte den Großteil der Platte selbst ein - und seine große Fähigkeit, trotz seiner Hauptrolle nie den Draht zu seinen Mitmusikern zu verlieren, möglich gewesen. Und so war man an diesem Abend vor allem zu Gast bei einem sympathischen Musiker.

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