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Oceansize, Vessels   25.10.2010   Leipzig, Werk II
von rls

Im Gegensatz zu Kollege CSB unlängst in Berlin schafft es der Rezensent an diesem Abend mit nur reichlich fünf Minuten Verspätung zum Veranstaltungsort, und da auch mit der Akkreditierungseinlösung alles problemlos verläuft, verpaßt er lediglich den Beginn des Konzerts von Vessels, das offensichtlich pünktlich begonnen hat. Freilich ist auch das schade: Der ausladende Postrock des Quintetts macht nämlich viel Hörspaß und daher jede verpaßte Minute zum Verlust. Vom einmaligen Hören her erschließen sich viele der Songideen freilich noch nicht bis in ihre letzten Gedankenwinkel, aber die sehr anspruchsvoll gestaltete Dynamik erkennt man natürlich von Anbeginn, und sie muß auch den komplett fehlenden Eingängigkeitsfaktor ersetzen. Diese Aufgabe ist besonders schwer, weil Vessels auch noch auf Gesang, von einer kurzen Vokalisenpassage abgesehen, komplett verzichten und damit die Erkennung ihrer Individualität nicht eben erleichtern. Aber der Freund progressiven Postrocks ist solche Aufgaben ja gewöhnt und wächst an ihnen - der Applaus nach den zumeist überlangen Stücken und auch der Umlagerungsgrad des Merchandisingstandes nach dem Gig beweisen diese These nachhaltig, zumal die Band in Leipzig auch nicht ganz unbekannt ist: In der einzigen Ansage des gesamten Auftritts, gehalten vor dem letzten Song, kommt die Information vor, Leipzig sei nach Luxemburg erst die zweite Stadt auf dem europäischen Festland, wo die aus Leeds stammenden Vessels bereits zum zweiten Mal gastieren. Selbige Ansage hält der auch in einer Punkrockkapelle optisch gut aufgehobene, ähem, naja, Bassist. Mit den Instrumentenzuordnungen ist das nämlich etwas schwierig, da die vierköpfige Frontreihe permanent rochiert, so daß immer einer den Baß bedient (und besagter Mensch in Punkrockoptik tut das am häufigsten) und die anderen drei entweder Gitarre oder Keyboards spielen. Zu diesem Zweck stehen gleich drei Keyboards auf der Bühne, und als sei das nicht genug, greifen einzelne Mitglieder mitunter auch noch zu Drumsticks und helfen dem Schlagzeuger bei der Bedienung der Becken. Daß die vier Frontleute dann auch noch wild herumspringen oder ihre Instrumente mal auf dem Boden liegend bearbeiten, rundet das Bild von einer positiv verrückten Kapelle ebenso ab wie die Tatsache, daß es am Merchandisingstand neben dem einzigen regulären Album auch mehrere Vinylsingles zu erstehen gibt, was in diesem Genre eher Seltenheitswert besitzt.
Gegen diese Verrücktheit wirken Oceansize im Anschluß fast konservativ, was freilich in der zugehörigen Relation zu verstehen ist, denn auch ihr alternativ angehauchter Progrock geht nicht unbedingt als mainstreamkompatibel durch. Aber es gibt zumindest Gesang, häufig sogar zweistimmigen und den hierzulande gängigen harmonischen Theoriemodellen entsprechenden, wenngleich sonderlich große Eingängigkeit auch nicht auf dem Plan der 12 Songs plus Zugabe steht. Der Set des Quintetts (das wie schon Vessels mit drei Gitarristen antritt, von denen einer gelegentlich an ein Keyboard wechselt, während die beiden anderen bei ihrem Instrument bleiben und zugleich für den Gesang verantwortlich zeichnen) beginnt wie das aktuelle, einprägsam "Self Preserved While The Bodies Flow Up" betitelte Album mit "Part Cardiac" und damit eher untypisch für die Band, denn dieser Song entfernt sich wohl am weitesten von dem, was man sonst von Oceansize gewöhnt ist - düster und schleppend donnert er aus den Boxen, hier und da fast an Black Sabbath erinnernd, was in dieser Form in der folgenden anderthalben Stunde nicht wieder vorkommen wird. Gleich die Hälfte des regulären Sets, was die Songanzahl angeht, stammt vom erwähnten aktuellen Album, aber Oceansize vergessen auch die zwei vorher erschienenen Alben nicht, und dazu kommt noch die Single-B-Seite "Paper Champion", die man sich freilich etwas weniger trocken dargeboten gewünscht hätte. Da haben die Briten mit diversen anderen Beiträgen längst andere Standards gesetzt, etwa mit dem laut bejubelten wabernden Intro von "Unfamiliar" oder dem überlangen "Music For A Nurse", das lange balladesk bleibt und zum Kuscheln einlädt, bevor es zum Schluß doch noch sehr heavy wird, was die perfekte Überleitung zu "It's My Tail" bildet, einem sehr kurzen und hektisch wirkenden Track, der einen Viererblock vom neuen Album einleitet. Dessen Höhepunkt findet sich im bombastischen, von Stroboskopgewittern illuminierten Finale von "Silent/Transparent", und auch hier nimmt das Quintett die Stimmung auf und setzt mit dem anfangs recht extremen, später in "normale" Bahnen zurückkehrenden "Superimposer" die gewählte Linie fort. Die absoluten Höhepunkte aber sparen sich Oceansize bis zum Schluß auf: Sowohl "Trail Of Fire" als auch "Ornament/Last Wrong" sind ausladende Progmetalnummern mit hohem Epikfaktor, die für blendende Laune im für einen Montagabend überraschend zahlreich erschienenen Leipziger Publikum sorgen, so daß selbstverständlich eine Zugabe nicht ausbleibt, die nach diesem Klangrausch fast ernüchternd wirkt, bei "neutralerer" Betrachtung aber ein weiteres Highlight darstellt: Mit "Women Who Love Men Who Love Drugs" kramen Oceansize letztlich auch noch Material von ihrem 2003er Debütalbum "Effloresce" hervor und runden damit einen starken Gig ab.

Setlist Oceansize:
Part Cardiac
Build Us A Rocket Then
Unfamiliar
New Pin
Music For A Nurse
It's My Tail
Silent/Transparent
Superimposer
Pine
Paper Champion
Trail Of Fire
Ornament/Last Wrong
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Women Who Love Men Who Love Drugs



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