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Porcupine Tree, Oceansize   06.10.2010   Berlin, Admiralspalast
von CSB

Das Ambiente könnte kaum stimmiger sein für einen großen Artrock-/Progrock-Abend. Der Admiralspalast im Stil eines alten Revuetheaters ist wohl eine der besten Adressen für feingeistige Berliner Abendunterhaltung. Sehr schade, dass dieses Ballsaalfeeling von der Insolvenz bedroht ist, woran wohl auch gut gefüllte Konzerte wie an diesem Abend vorerst nicht viel ändern werden.
Das Publikum ist wie immer bei Porcupine Tree und Co. ein völlig bunt gemischter Haufen. Neben die typischen Proggies mischen sich schwarzgewandete Emos, Musiklehrer nebst Schülern, Rollkragenintellektuelle und die älteren Herren der Pink Floyd-Fraktion. Leider bekommt der Verfasser dieser Zeilen ausgiebig Raum, diese ins Konzerthaus strömende Mischung zu beobachten, da man mich geschlagene 20 Minuten am Eingang stehen lässt. Der Pressekartenverteiler macht dummerweise gerade Pause und eben diese reichliche Viertelstunde addiert sich zu den 15 Minuten, die mein Kumpan und ich ohnehin zu spät kommen, um schließlich die eigentlich fantastischen Oceansize komplett zu verpassen. MIST!!!!!!
Dann müssen wir uns eben umso mehr auf die Vorreiter des Modern Progs konzentrieren, die wie üblich bereits das zweite Mal zu ihrem aktuellen Album auf Tour gehen. Und das, obwohl "The Incident" gerade mal ein Jährchen auf dem Buckel hat ... Steven Wilson kann offenbar keine Sekunde still sitzen, und wenn er mit seinen Jungs gerade eine Woche nicht auf Tour ist, hat er ja noch Blackfield, No-Man, Continuum und diverse Soloprojekte. Sei's drum - Wilson und Porcupine Tree kann man gar nicht oft genug sehen, dafür sorgt allein schon die Songauswahl, bei der Dr. Wilson aus einem 13 Alben umfassenden Backkatalog schöpfen kann. Und so leistet man sich als Opener gleich mal einen uralten 17-Minüter namens "Even Less" - eigentlich eine Unverschämtheit, wenn man in gängigen Setlistkategorien denkt, aber für die Porcupine Tree-Fraktion ein Geschenk des Himmels. Mit "Dislocated Day" und der grandiosen Floyd-Hommage "The Sky Moves Sideways (Phase One)" hat man im Verlauf noch zwei weitere dieser ganz alten Göttergaben im Gepäck. Auffällig ist dabei allerdings, dass sich der Kontrast von uralt zu relativ neu ("Open Car", "Lazarus", "Anesthesize") und ganz neu ("Drive The Hearse") im Verlauf der ersten Sethälfte kaum bemerkbar macht. Alles klingt wie aus einem Guss, wohl auch dank des super ausdifferenzierten und transparenten Sounds an diesem Abend. Frontmann, Mastermind und Allesspieler Steven Wilson ist allerbester Dinge und präsentiert sich zugänglicher und offener als noch in der Vergangenheit. Spätestens als ihm gesteckt wird, dass eine Fanfraktion aus Brasilien angeblich extra zu diesem Gig angereist sei, schwillt ihm ordentlich die Brust und der Mann wird regelrecht gesprächig ...
Seine Mitspieler interpretieren ihren Part dagegen recht introvertiert, dafür aber beängstigend präzise. Tourgitarrist John Wesley hat so gar keine Schwierigkeiten, zu seinen Soli immer mal wieder schwindelerregend hohe Backingvocals beizusteuern, die auch noch auf den Punkt genau sitzen. Richard Barbieri wirkt hinter seinem Synthieturm wie ein Chemiker im Labor, dem hin und wieder sogar mal ein Grinsen übers Gesicht läuft, wenn ihm eine ganz besonders passende (Sound)Verbindung gelungen ist. Bassist Colin Edwin ist vom rechten Bühnenrand nicht wegzukriegen, wird dafür aber im Gesamtsound immer präsenter und liefert wie immer eine völlig fehlerfreie Performance. Tja, und Drummer Gavin Harrison beweist mal wieder, warum er als einer der Besten seines Faches gilt - der Mann beherrscht einfach alle Spielarten und das muss er in dieser facettenreichen Band auch. Und dabei geht ihm jeglicher Hang zur Darstellung ab, sondern er spielt völlig songdienlich, auch wenn er beim Mittelpart von "Anesthesize" 99 % seiner Kollegen an die Wand hämmert ...
Die zweite Sethälfte steht dann nach exakt 10 auf der Leinwanduhr runtergezählten Minuten ganz im Zeichen des aktuellen Songzyklus "The Incident". Konnte ich dem Doppelalbum auf Konserve bislang erschreckend wenig abgewinnen, erstrahlen die Songs live und mit der professionellen Videountermalung in völlig neuem Glanz. Das brachiale Eröffnungsriff von "Occam's Razor" erfasst den ganzen Körper und vereinnahmt total, "Drawing The Line" entpuppt sich als mitreißender Rockkracher, der sich von Chorus zu Chorus immer weiter steigert. Und "Time Flies", das bislang auch bei mir seine Wirkung nicht verfehlt hatte, ist nichts weniger als eine epische Großtat der Progrockgeschichte. Dazwischen gibt's mit "Blackest Eyes" auch ein bisschen Futter für alle diejenigen, die nur zwei Songs von Porcupine Tree kennen, was die Qualität desselben aber keineswegs schmälert. Das finstere "Sleep Together" beschließt den regulären Set, Wilson schreit sich ungewohnt heftig nochmal die Lunge aus dem Leib und Barbieri ersetzt mal nebenbei ein ganzes Orchester - man ist völlig geplättet. Mit "Arriving Somewhere But Not Here" setzen die Stachelschweinbäume dann den endgültigen Schlusspunkt, geben den Fans nochmal alles, was an PT so faszinierend ist - floydsche Keyboardsphären und Metallica-Riffs, 70er Psychedelic und moderne Alternative-Elemente. Dazu eine fantastische Videountermalung und nicht zuletzt ein Refrain, der seinesgleichen sucht.
Nach über 2 Stunden Extraklasse stellen wir fest, dass wir nicht ein einziges Mal auf die Uhr gesehen haben. Stattdessen haben Wilson und Co. etwas geschafft, wozu nur noch die wenigsten Musiker in der Lage sind - ihre Anhänger völlig in der Musik versinken zu lassen und das ganz ohne große Show, ohne Mitsingrefrains (OK, "Lazarus" vielleicht ...), ohne tanzbare Rhythmen, ohne Feuerwerk. Porcupine Tree sind live ein Ereignis!

Setlist:
1. Even Less
2. Open Car
3. Lazarus
4. Dislocated Day
5. The Sky Moves Sideways (Phase 1)
6. I Drive The Hearse
7. Anesthesize

8. Occam's Razor
9. Blind House
10. Great Expectations
11. Kneel And Disconnect
12. Drawing The Line
13. Blackest Eyes
14. Time Flies
15. Sleep Together

16. Arriving Somewhere But Not Here



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