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Schiller   22.05.2010   Chemnitz, Stadthalle
von rls

Livedarbietungen elektronisch geprägter Musik sind ja so eine Sache. Der Protagonist kann es sich einfach machen und per Vollplayback spielen (wofür er strenggenommen nicht mal selber auf der Bühne erscheinen müßte), er kann sich auch richtig viel Arbeit machen und alles auf akustische Instrumente übersetzen, oder er wählt eine der zahlreichen möglichen Zwischenstufen. Christopher von Deylen, Chefdenker von Schiller, hat sich für eine der Zwischenstufen entschieden, und zwar eine der eher arbeitsintensiven Varianten. Soll heißen: Auch auf der "Atemlos"-Tour 2010 steht eine Liveband auf der Bühne, die weite Teile des Materials sozusagen in Echtzeit performt. Davon läßt sich eine sehr gut gefüllte Chemnitzer Stadthalle begeistern, in der man die ersten elf Reihen der Bestuhlung abgeschraubt hat, so daß also vorn ausreichend Platz für die Die-Hard-Anhänger ist, während es sich die etwas ältere Generation (die erstaunlicherweise gar nicht so selten anwesend ist) oder diejenigen, die auf einen sanfteren Set zum Kuscheln mit Partner oder Partnerin hoffen, in den höher gelegenen Sitzreihen oder auf den Rängen bequem machen.
Der zweieinhalbstündige Set startet kurz nach 20 Uhr, und die Kuschelfraktion wird am Ende möglicherweise etwas enttäuscht dagesessen haben, allerdings aufgrund der eigenen Erwartungen. Von Deylen und seine fünf Mitinstrumentalisten fahren nämlich einen über weite Strecken glasklaren, aber immens lauten (und zudem partiell quadrophonisch geprägten) Sound auf, der nicht gerade kuschelkompatibel ausfällt. Selbst in den gelegentlich eingestreuten Balladen wird man immer mal wieder von einer wall of sound überrollt ("The Fire" etwa wird im Schlußteil gar zum härtesten und schnellsten Song des Sets), und die recht intensive Lichtshow tut ein Übriges dazu. Das freilich sind aus anderer Perspektive durchaus Qualitätsmerkmale. Von Deylen hat einen abwechslungsreichen Set zusammengestellt, der einerseits die überwiegend älteren Songs eines erfolgreichen Grundschemas, das strukturell auf einem wenigtönigen, häufig wiederholten Thema basiert, berücksichtigt, allerdings die darin innewohnende Gefahr der Stromlinienförmigkeit erkannt hat und deshalb in zwei Richtungen gegensteuert. Zum einen sind gleich vier Gastsängerinnen am Start, neben Anggun, Kate Havnevik und Nadia Ali auch "Stammgast" Kim Sanders. Die Stimmfärbungen der Damen, die je einen bis drei Songs performen, ähneln sich allerdings bisweilen recht stark, so daß die angestrebte Vielfalt hier nur bedingt erreicht werden kann, was in der zu hörenden Dosis von maximal aus zwei Songs bestehenden Vokalblöcken indes kein entscheidendes Problem darstellt, und "Let Me Love You" intoniert man auch immer wieder gerne mit. Außerdem gibt es ja da noch die zweite der erwähnten Richtungen: die ungewöhnlich strukturierten Songs, die gelegentlich eingeflochten werden und an deren erster Stelle neben dem erwähnten "The Fire" zweifellos die Progballade "Forget You" steht, die teilweise extrem fragil ausfällt, allerdings immer wieder neue Wendungen erfährt und, nachdem die zuständige Vokalistin Nadia Ali schon von der Bühne gegangen ist, überraschenderweise noch ein episches Gitarrensolo anhängt. Jawohl, richtig gelesen: Von Deylen teilt die Antipathie vieler Elektroniker gegen die E-Gitarre nicht, und auch wenn die Klangfarbe im Soundgewitter manchmal etwas untergeht (das widerfährt übrigens bisweilen auch der Baßgitarre), so entfaltet sie an anderen Stellen extrem wirkungsvolle Reize. Daß der Chefdenker damit einen Zielgruppenspagat von den Elektronikern hinüber zu den Rockfans schafft, dürfte ein angenehmer Nebeneffekt dieser Strategie sein und auch manchen Pink Floyd-Anhänger überzeugt haben, nachdem die leicht esoterisch angehauchten Vangelis-Wassertürme schon für eine Ausdehnung in anderer Richtung gesorgt haben, und selbst das "Purpurmond"-Liveintro der Münchener Freiheit winkt mal kurz aus höheren Sphären herunter. Ob Die Ärzte Von Deylen wegen seiner Ansage, er habe "die beste Band der Welt" dabei, mögen werden, darf bezweifelt werden, aber die Truppe leistet in der Tat Erstklassiges, und daß es sich nicht um beliebig austauschbare Mitmusiker handelt, beweist die Tatsache, daß zumindest der Bassist und der Zweitkeyboarder schon jahrelang zur Mannschaft gehören (auf dem 2004er Livealbum "Live Erleben" sind sie beispielsweise auch schon zu hören). Interessanterweise hat Von Deylen die Schlagzeugposition gleich zweifach besetzt, nämlich mit einem akustischen und einem elektronischen Schlagzeug, wobei erstgenanntes lauter abgemischt ist als letzteres. Beide Stelleninhaber sind allerdings offensichtlich exakt aufeinander eingespielt, was man in den Passagen, in denen beide die Hauptsnare parallel zu spielen haben, schön feststellen kann, auch wenn man sich aufgrund der erwähnten Lautstärkediskrepanz etwas Mühe geben muß, um das herauszuhören. Die anfangs akut überlauten Baßdrums bekommt der Soundmensch dankenswerterweise schnell in den Griff, diverse synthetische Tiefbässe allerdings bringen die komplette Halle zum Vibrieren. Ob die sehr hohe Gesamtlautstärke unbedingt nötig ist, darf gerne hinterfragt werden, aber immerhin stimmt die Klangqualität, was ja manche Metalband auch gerne so hätte, aber nicht hinbekommt. Drei Zugaben entlockt das feierfreudige Publikum den Musikern noch, dann erlischt das aufwendige Bühnenlicht und entläßt die Anwesenden in den noch jungen milden Abend.

Setlist (vom Gig in Trier acht Tage zuvor, dort nur mit drei Sängerinnen, aber in der Grundstruktur übereinstimmend):
01. Playing With Madness
02. Soho
03. Tiefblau
04. Blind (Special guest: Anggun)
05. Innocent Lies (Special guest: Anggun)
06. Ruhe
07. La Mer
08. Under My Skin (Special guest: Kim Sanders)
09. Let Me Love You (Special guest: Kim Sanders)
10. Polarstern
11. Schiller
12. Don't Go (Special guest: Kate Havnevik)
13. The Fire (Special guest: Kate Havnevik)
14. Dream Of You
15. Salton Sea
16. Delicately Yours (Special guest: Kim Sanders)
17. Irrlicht
18. Himmelblau
19. Das Glockenspiel
20. Always You (Special guest: Anggun)
21. Ein schöner Tag
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22. Nachtflug
23. Sehnsucht
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24. Sommernacht



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