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Menschliche Tragödien   02.04.2010   Altenburg, Theater
von rls

Die Überschrift für ein Konzertprogramm in der Karwoche (Mittwoch und Gründonnerstag in Gera, Karfreitag in Altenburg) paßt erstmal, meint man. Nach der ersten halben Stunde des Konzertes ist man sich da freilich nicht mehr so sicher. Erstens sind vor dem Konzert irgendwoher nämlich liebliche Küchendüfte in den Großen Saal gedrungen, der infolgedessen ganz weltlich-unentrückt nach leckerem Spiegelei riecht, und zweitens steht als erstes Werk Franz Schuberts 4. Sinfonie auf dem Programm, nach deren Hören man sich verzweifelt fragt, wo der Komponist die Einschätzung als "Tragische", unter der sie bekannt geworden ist und die nachweislich von ihm selbst getätigt wurde, hergenommen hat. Okay, das eröffnende Adagio nimmt Eric Solén mitsamt seiner Altenburg-Geraer Philharmoniker auch noch wie ein Adagio und nicht wie ein verkapptes Andante, aber als es ins Allegro vivace hinübergeht, ist jeder Düsteranflug wie weggeblasen. Solén fährt hier eine gute Nadelstichtaktik mit vielen winzigen Aufbrausern und einer gekonnten Schlußsteigerung auf ein beachtliches Energieniveau. Auch im Andante ist eine große Linie da, aber Tragik bleibt erneut aus, allenfalls etwas Pathos möchte man diagnostizieren. Die Feinjustierung beispielsweise in der Rückführung der kurzen Tempoausbrüche überzeugt erneut, nur die Hörner klingen gegen Ende hin bisweilen etwas zu gequält, wovon sich das Holz mit einem schiefen Schluß anstecken läßt. Das scharf akzentuierte Gesäge eingangs des Menuettos macht diese Probleme aber schnell vergessen und ruft überraschende musikhistorische Vorgriffe ins Gedächtnis: Bruckner, gar Mahler grüßen hier aus der Ferne herüber. Das kantable Holzthema im Mittelteil dieses Satzes gelingt ebenfalls ohne Wenn und Aber, bevor das Strukturgesäge wiederholt wird. Das abschließende Allegro nimmt Solén enorm schnell, ohne aber in Hektik zu verfallen, und die Celli legen gar einen flotten Groovebeat hin, der nur in seiner Wiederholung ein wenig zu viel Unordnung erkennen läßt. Die dynamischen Wechsel erinnern an Wellenbewegungen, und obwohl keine Energiesteigerung zum Schluß mehr drin ist, bleibt das Level doch hoch genug, um sich die eingangs erwähnte Frage zu stellen, wo denn hier die versprochene Tragik eigentlich bleibt.
Von dieser freilich gibt es im zweiten Werk des Abends dann gleich eine Überdosis, obwohl Arnold Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau" gerade einmal sieben Minuten dauert. Die Studie über den Aufstand im Warschauer Ghetto liest sich in der Theorie auf dem Papier allerdings interessanter, als sie in musikalischer Hinsicht letztlich ist, woran sich der Komponist und die Ausführenden die Schuld teilen. Schönberg hat neben das Orchester einen Chor, der die abgeführten Juden spielt, die plötzlich aus heiterem Himmel den identitätsstiftenden "Shema Israel"-Gesang anstimmen, und einen Sprecher, der aus der Position eines Überlebenden die Geschichte rezitiert und auch die Worte des deutschen Feldwebels spricht, gestellt, also zwei Fraktionen, die für das Werk eine tragende Rolle spielen. Unglücklicherweise aber müssen beide Fraktionen aus dramaturgischen Gründen gerade dann besonders intensiv und eindringlich arbeiten, wenn auch das Orchester in lauteren Gefilden spielt, und die vom Komponisten somit gestellte Aufgabe, die Vokalisten irgendwie hörbar zu machen, können die Altenburg-Geraer an diesem Abend nicht erfüllen, so daß eben gerade die dramatischsten Szenen, die Höhepunkte völlig im Nichts enden. Den Chor hört man über die ganze Zeit seines Gesangseinsatzes hinweg kaum, und Hartmut Volle als Sprecher gibt sich zwar alle Mühe, aber auch er sieht gegen den Orchesterlärm, der sich regelmäßig gegen Ende der einzelnen Textkapitel ausbreitet, keinen Stich. Volle interpretiert zwar durchgängig seine Rolle sehr eindringlich, so daß man ahnt, was hier hätte passieren können, aber es passiert dann eben nicht. Die reduzierteren Orchesterpassagen klingen bisweilen wie ein Filmsoundtrack zu irgendeinem Werk aus Fritz Langs Schmiede, die Zwölftonstruktur hört man kaum heraus, und die grundsätzliche Atonalität verhindert auch wirksam das Aufkommen von Mitleid mit dem geknechteten Chor, so tragisch das auch anmuten mag. Das Werk ist zweifellos gut gemeint, hinterläßt aber auch den typischen Eindruck der Hilflosigkeit, wie man mit den zur Kompositionszeit gerade erst wenige Jahre zurückliegenden Schrecknissen des Krieges und des Holocausts umgehen sollte. Auch nach der Altenburger Aufführung tritt eine lange Applauspause ein, die zu unbestimmbaren Teilen aus Hilflosigkeit der Zuhörer und einer Portion echter Anteilnahme zusammengesetzt ist.
Von ganz anderem Kaliber ist trotz ähnlicher Thematik nach der Pause das dritte Werk des Abends, die 8. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Die mittlere seiner drei Kriegssinfonien geriet nicht zu einer Siegessinfonie, obwohl sich das Blatt im Zweiten Weltkrieg gerade zugunsten der Sowjetunion zu wenden begonnen hatte, sondern zu einem Requiem für die bis 1943 schon mit achtstelligen Zahlen bezifferten Gefallenen, unterschwellig noch mit massiver Kritik am Generalissimus Stalin versehen, der es immerhin fertiggebracht hatte, die Rote Armee während der Großen Säuberung wenige Jahre zuvor quasi ihrer kompletten Führungsspitze und damit guter Teile ihrer Schlagkraft und Organisation zu berauben. Der fast ins Nihilistische gehende Touch mancher Passagen sorgte dementsprechend auch für massive Verstimmung in der sowjetischen Kulturbürokratie, und so verschwand das Werk trotz der Apostrophierung als "Stalingrader Sinfonie" schnell und nachhaltig aus den sowjetischen Spielplänen: Die Kriegsmarschrichtung hatte sich in eine westlich orientierte verwandelt, und da konnte man die 7. Sinfonie, die "Leningrader", deutlich besser gebrauchen. Die Achte dagegen schleppt sich nicht nur im eröffnenden Adagio förmlich vorwärts: Stark strukturierte Tiefstreicher wechseln mit unwirklich schneidenden Violinen, und Solén meistert die geforderte dynamische Arbeit auf engstem Raum ohne Probleme: perfekt die finstere Steigerung vor dem ersten Schlagzeugeinsatz, drohend der Kriegslärm, zu dem der kleine Dirigent auf dem Pult wütet, als ob er selbst von Feinden umgeben sei und diese alle eigenhändig außer Gefecht setzen müsse. Gekonnt plaziert er den nervös-schrillen Allegroauftakt neben dem finsteren Kriegschoral der Posaunen, legt immense Spannung in die infernalischen Passagen und eine andere Art von Spannung in die düsteren Ambientflächen, die sich von da bis zum Ende des Satzes ziehen. Das Allegretto an zweiter Satzposition atmet eine befohlen-gequälte Fröhlichkeit, einen Zirkus mitten im Krieg (Schostakowitsch-typische Trompeten!) mit flotten Holzbläsersoli, und die Sägepassagen im Allegro non troppo führen gar zu einem fast völlig ohne Ironie auskommenden Tanzpart. Aber der Krieg ist nicht weit entfernt und hinterläßt im Largo dann nur verbrannte Erde, aus der allerdings hier und da schon wieder grüne Pflänzchen hervortreiben und sich in der von Solén meisterhaft erzeugten angespannten Atmosphäre hier und da etwas linde Hoffnung breitmacht. Von der gibt es auch im abschließenden Allegretto noch etwas (hübsches Fagottsolo!), aber hier müssen Dirigent und Orchester durch ein Arsenal von Stimmungsschwankungen lavieren. Eine große Steigerung weckt Erwartungen auf einen Schlußtriumph, obwohl der Krieg nochmal kurz wiederkommt, von Solovioline und -cello allerdings niedergekämpft wird - der Schlußtriumph aber bleibt aus, der Satz und mit ihm die ganze Sinfonie stirbt ganz schlicht und einfach im Moriendo. Die Applauspause nach diesem Werk ist jedenfalls spürbar nicht von Hilflosigkeit geprägt, aber dafür feiert man den Dirigenten und sein Orchester danach umso herzlicher.



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