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Antonín Dvorák: Stabat mater   30.03.2010   Leipzig, Peterskirche
von rls

Gustav Mahlers 8. Sinfonie ist gemeinhin als "Sinfonie der Tausend" bekannt, weil man für ihre Aufführung einen riesigen Apparat an Musikern braucht. Die zweite Aufführung von Antonín Dvoráks "Stabat mater" in England (1884 in London) hätte somit den Beinamen "Stabat mater der Tausend" verdient gehabt - allein der Chor bestand aus 840 Sängern. Aber: Während man den Mahler-Apparat nur um ein unwesentliches Quantum zusammenstreichen kann, ohne qualitative Einbußen befürchten zu müssen, beweist Leipzigs Universitätsmusikdirektor David Timm mit dem Leipziger Universitätschor und dem Mendelssohn-Kammerorchester an diesem Abend, daß das Dvorák-Werk auch in verschlankter Besetzung funktioniert.
Dabei sind die Voraussetzungen nicht eben günstig: Die Peterskirche in Leipzig zeichnet sich im Normalfall nicht eben durch Klangtransparenz aus, vor allem in voluminöseren Bereichen nicht. In der ähnlich schwierigen Thomaskirche erzielt man im Regelfall bessere Resultate, wenn die Musiker auf der Empore plaziert sind - an diesem Abend stehen bzw. sitzen sie aber im Altarraum der Peterskirche. Und prompt rächt sich das Klangbild im ersten Satz: Zwar unterstützen einige etwas verschwommene Linien beispielsweise der Hörner durchaus den spätromantischen Gestus des Werkes, aber in der Gesamtbetrachtung wäre eine höhere Klangtransparenz doch wünschenswerter gewesen - vor allem die Paukeneinsätze geraten im ersten Satz mehr oder weniger zum Dauerton, und auch die Tiefstreicher erzeugen mehr Flächensounds als strukturierte Linien. Timm merkt das offensichtlich und nimmt das Orchester schrittweise einen Tick zurück, was in Tateinheit mit zwei anderen Faktoren das Klangbild deutlich verbessern hilft: Erstens sind die Sätze 2 bis 9 oftmals sowieso zurückhaltender konzipiert, und zweitens beginnt sich das Ohr über die Spieldauer hinweg immer besser an die klanglichen Verhältnisse zu gewöhnen, es schaltet sozusagen einen internen Filter oder Schärfegenerator ein, der manche ungewollte Fläche (von denen es natürlich auch hinten heraus noch manche gibt und im partiell recht voluminösen zehnten und letzten Satz naturgemäß besonders viele) noch in ihre Einzelteile zu zerlegen beginnt. Schon komisch, wie man anhand solcher Konzerte seine eigene Hörfähigkeit schulen kann.
Was legt Timm nun in diese anderthalb Stunden Musik? Im Grundsatz folgt er natürlich dem von Dvorák vorgegebenen "Per aspera ad astra"-Prinzip, will heißen: Die Klage Mariens um ihren am Kreuz hängenden Sohn wandelt sich schrittweise in eine Art Heilsgewißheit, was Dvorák anhand seiner eigenen Lebenssituation gut gebrauchen konnte (drei seiner Kinder waren in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur in zwei Phasen abgelaufenen Komposition des Werkes gestorben, allerdings jeweils vor und nicht wie bei Mahlers Kindertotenliedern nach Fertigstellung). Timm, ausladend, aber ruhig dirigierend, nimmt den ersten Satz also in recht schleppendem Tempo, legt allerdings eine recht ausgeprägte Volumendynamik hinein (soll heißen: die kurzen Powerschübe haben nicht nur Alibifunktion), erzeugt bisweilen immense Spannung (meisterlich: der Part vor dem ersten Choreinsatz) und zeichnet sich auch durch gelungenes Tempomanagement aus (wiederum meisterlich: die aus dem Handgelenk geschüttelte Tempoattacke vor der "Stabat"-Wiederholung). Und selbst wenn man wie in der Mitte des zweiten Satzes mal kurz das Gefühl hat, ins Miteinander zwischen Chor und Orchester käme ein Tick Unordnung, hat der Dirigent die Lage schnell wieder im Griff. Donnernd läßt er den Chor im dritten Satz das Wort "fac" singen, das immer dann kommt, wenn die Musik ein wenig zu sehr im spätromantischen Sumpf zu versinken droht. Die "Sancta mater"-Passage im vierten Satz wiederum stellt unter Beweis, daß der weibliche Teil des Chores die Tugend des ätherisch-schwerelosen Singens, die man schon 2009 in Mendelssohns "Paulus" bemerkt und geliebt hatte, nach wie vor meisterlich beherrscht. Temposeitig etwas nach oben geht erst der fünfte Satz, wie die beiden nachfolgenden in der Zweitfassung des Werkes hinzugefügt. Geradezu aberwitzig mutet die Dynamik vor "Poenas" an, die Wiederholung des Textes hält gar groovige Rhythmen bereit, und auch die zahlreich geforderten Tempo- und Stimmungswechsel der Folgesätze stellen Dirigent und Musiker vor keine prinzipiellen Probleme, wenngleich einige kleinere Holperer wie im Intro des letzten Satzes noch zu verzeichnen sind. Dieser letzte Satz ist sowieso noch einmal ein Kapitel für sich: Lange Zeit mutmaßt man, er sei die Krönung des "Per aspera ad astra"-Prinzips, trage eine Art Triumphcharakter, der sich denn auch mehrmals auszubreiten scheint - alle Spannung, alle Trauer ist weg. Aber so leicht macht es einem der Komponist nicht, immer wieder beginnt er plötzlich Stimmungsschwankungen einzubauen, eine fragile A-Cappella-Chorpassage gar, die sich mit Powerschüben duelliert, und so ist der tatsächliche Schluß dann doch eine gewisse Überraschung. Timm schafft es, die Spannung extrem lange stehenzulassen, bevor das Publikum in der vollbesetzten Kirche in langanhaltenden Applaus ausbricht.
Soweit, so gut - aber da sind noch die vier Gesangssolisten, die ein etwas uneinheitliches Bild hinterlassen. Bassist Christian Palm hat am stärksten unter den eingangs beschriebenen Soundproblemen zu leiden - wenn er gegen die Tiefstreicher anzutreten hat, sieht er keinen Stich, wenngleich er in seinen höheren Passagen keine schlechte Figur macht. Exzellent durchzuhören und übrigens auch als einziger der Solisten textlich klar zu verstehen ist Tenor Fritz Feilhaber, der allerdings ein wenig zu viel italienisches Opernfeeling in seinen Gesang legt. Immerhin paßt, wie Satz 8 zeigt, seine Stimme prima zum sehr linienhaften Sopran von Svetlana Katchour, während Anna Haase den überraschenden Beweis antritt, wie durchdringend man eine Altpartie gestalten kann, und das selbst gegen ein voluminöseres Orchester. Wie weit außen sie in ihren Soloparts in Satz 9 die Stimmgrenzen setzt, das beeindruckt doch irgendwie. So rundet sich das Bild zu einer insgesamt starken Aufführung eines eher selten auf den Spielplänen zu findenden Werkes.



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