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Johann Sebastian Bach: Johannespassion   25.03.2010   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Zum 322. Geburtstag anno 2007 hatte der große Sebastian eine sehr gute Aufführung der Matthäuspassion mit dem Gewandhausorchester unter Riccardo Chailly, dem Dresdner Kammerchor und dem GewandhausKinderchor geschenkt bekommen, und der Erfolg dieses Experimentes (die Aufführung im Gewandhaus bildete eigentlich nur eine "Zugabe" zum üblichen Passionsprogramm in der Messestadt) legte natürlich eine Fortsetzung nahe. Die Johannespassion von 2008 und die Matthäuspassion von 2009 an gleicher Stelle hat der Rezensent verpaßt; 2010 ist nun wieder die Johannespassion dran. Die personelle Konstellation entspricht weitgehend der von 2007, mit den Ausnahmen, daß die Solisten komplett andere sind, der Kinderchor nicht mit am Start ist, der Dresdner Kammerchor mit 39 Sängern und damit zwei Dritteln der 2007er Stärke auskommt und das Orchester nicht gespalten ist, da der Komponist im Gegensatz zur Matthäuspassion hier über weite Strecken keine doppelchörige Struktur verlangt hat. Zur Aufführung kommt interessanterweise nicht die heute gängige Fassung des Werkes (eine letztgültige gibt es sowieso nicht, Bach hat bei jeder der bisher vier nachweisbaren Aufführungen unter seiner Leitung irgendwas geändert, und die gängige heutige Aufführungsfassungen stellt einen Mix mehrerer Spätfassungen dar), sondern die Erstfassung von 1724, also ausgetüftelt, als der Komponist noch nicht mal ein Jahr in Leipzig in Lohn und Brot stand. Ganz gefüllt ist der Große Saal des Gewandhauses am ersten der beiden Konzertabende nicht, etliche Plätze bleiben doch leer, und auch eine riesige Schlange an der Abendkasse, die noch auf nicht abgeholte Reservierungen hofft, gibt es diesmal nicht.
Zwei Stunden Nettospielzeit hat die Passion, und an deren Ende ist man irgendwie verwirrt und ordnet die Aufführung als "seltsam" ein - nicht schlecht zwar, auch nicht richtig gut, sondern irgendwie seltsam. Das liegt zu einem gewissen Teil an einer schwer zu beschreibenden Atmosphäre. Das Publikum ist hörbar unruhig und nervös, das Orchester auch, und diese Kombination erweist sich als unheilige Allianz: Ergreifende Momente wie 2007 bleiben weit und breit Fehlanzeige, der Spannungsaufbau in Gestalt von Pausen, den Riccardo Chailly bekanntermaßen meisterhaft beherrscht, gelingt an diesem Abend überhaupt nicht. Andere Probleme treten hinzu: Der Chor steht diesmal nicht auf der Orgelempore, sondern im hinteren Bühnenteil hinter dem Orchester, und das wird ihm klanglich anfangs zum Verhängnis, hat er gegen ein stärker als mezzoforte agierendes Orchester doch keine Chance. Chailly merkt das irgendwann und nimmt das Orchester einen Tick zurück, wonach die Balance besser klappt; temposeitig allerdings bleibt er bei einer durchaus flotten Herangehensweise, was die Nervosität im Orchester nicht bekämpfen hilft. Auch die Continuobesetzungen des Orchesters reißen nicht durchgehend Bäume aus; in Nr. 19 und 20 etwa finden die sechs beteiligten Instrumentalisten gar nicht erst richtig zueinander, spielen zwar gleichzeitig, aber nicht miteinander, und die Brücke zu Arien-Bassist Jochen Kupfer bzw. Arien-Tenor Virgil Hartinger kann erst recht nicht geschlagen werden. Das klappt an anderen Stellen deutlich besser, etwa in der Altarie 30, in der u.a. Gambe und Laute am Continuo mitwirken.
Was tut der Chor? Er sucht in der Einleitung noch nach seiner Form, aber das kennt man bereits von 2007. Gefunden hat er sie dann ab dem Chorus 2b, einem herrlich nervös interpretierten "Jesum von Nazareth"-Ausruf der Häscherschar. In der Folge wechseln sich zunächst viel Licht und ein wenig Schatten ab. Der Choral 3 "O große Lieb" etwa offenbart einige kleine Reserven beim tighten einsetzen, überzeugt aber durch seine große Linie. Viele der Choräle läßt Chailly in recht zügigem Tempo intonieren, was allerdings keine negativen Auswirkungen zeitigt, weder in puncto Exaktheit noch etwa im Hinblick auf einen überhastet wirkenden Charakter, was ja generell eine Gefahr ungewöhnlich hoher Tempi darstellt. Da hat Jörg Genslein im Vorfeld der Aufführung offensichtlich erstklassige Arbeit mit dem Chor vollbracht. Der Energieausbruch in der zweiten Strophe von Choral 11 "Wer hat dich so geschlagen" trifft ebenso ins Schwarze wie die Eröffnung von Choral 15 "Christus, der uns selig macht", die den Hörer nach der Pause unvermittelt bei den Weichteilen packt. Und das mannigfach wiederholte Wort "nicht" in Nr. 16b trifft danach wie Peitschenhiebe. Expressivität ist hier also so möglich wie nötig - von daher überrascht der nun folgende Abfall des Niveaus: Ausgerechnet Choral 22 "Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn", der theologische Zentralpunkt des ganzen Werkes, kommt derart spröde, fast gelangweilt von der Bühne, daß man sich die Augen reibt, pardon, die Ohren zu reinigen versucht. Zwar gelingen auch im hinteren Teil der Passion noch ein paar hübsche Wirkungen, aber die beiden Schlußchöre fallen dann wieder in diesen komischen, distanziert wirkenden Ton zurück: Die große Linie fehlt hier völlig, und diese Dosis Gift trägt nachhaltig zur Verwirrung des Hörers nach der Aufführung bei.
Die Solistenriege mußte krankheitsbedingt kurzfristig zu einem Drittel umbesetzt werden: Arien-Tenor Virgil Hartinger, der James Taylor ersetzt, entzieht sich dabei einer detaillierten Beurteilung, denn er steht vom Rezensenten aus exakt hinter Riccardo Chailly und wird daher unregelmäßig gedämpft. Christus-Bassist Konrad Jarnot, für Yorck Felix Speer eingesprungen, berührt mit oft "mulmiger" Tiefenpower anfangs eher negativ, wandelt sich aber mit dem letzten Halbsatz im Recitativo 16e (das zur Szene vor Pilatus gehört) von Grund auf: Ab da hat er eher ätherisch-verklärt zu singen, und das tut er ganz hervorragend. Arien-Bassist Jochen Kupfer fällt nicht weiter auf, Sopranistin Katerina Beranova läßt ebenfalls nur partiell aufblitzen, was sie kann (gelungene Mixtur aus Eindringlichkeit und Düsternis in "Dein Jesus ist tot" in Arie 35 "Zerfließe, mein Herze"!). Altistin Maria Riccarda Wesseling hat eine hübsche, aber wenig durchsetzungsfähige Stimme, so daß die Arie "Es ist vollbracht" über einer kleinen Instrumentenbesetzung zu ihrem Meisterstück wird (auch der kurze Powerausbruch darin sitzt wie eine Eins). Glanzpunkt in der Solistenriege dieses Abends ist eindeutig Tenor Jörg Dürmüller als Evangelist, und wären nicht ein paar technische Schwächen etwa bei der Treffsicherheit in großen Höhen oder der Atemkontrolle nach langen Passagen ohne Atemmöglichkeit zu konstatieren gewesen, er hätte sich das Prädikat "Klasse" abholen dürfen: Er arbeitet hochgradig expressiv, und trotzdem versteht man jede Silbe klar und deutlich. Aber er bleibt in der Gesamtbetrachtung des Abends leider eine Ausnahmeerscheinung. Seltsam fällt auch das Applausometer des Publikums aus (zum komischen unruhigen Charakter haben die Leute bekanntlich ihr Scherflein beigetragen, und das keinesfalls nur in den Momenten, wo eine vierstellige Anzahl von Menschen gleichzeitig im Programmheft umblättert): recht schnell nach dem Schlußton losbrechend (also auch hier Nervosität, nix mit Spannung oder gar Ergriffenheit), aber ähnlich schnell müde werdend; den stärksten Einzelapplaus holt sich der Chor ab. Wie gesagt: Das Adjektiv "seltsam" trifft den Charakter dieser Aufführung vielleicht am besten. Was wird 2012 (dann ist die Johannespassion turnusgemäß wieder "dran") bringen?

P.S.: Charlotte Schrimpff, Rezensentin der Leipziger Volkszeitung, war in der gleichen Aufführung anwesend - und zeigte sich von der atmosphärischen Ruhe beeindruckt. So unterschiedlich kann man ein und dieselbe Situation empfinden ...



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