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Grosses Concert IV/4   04.02.2010   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Fast ein Jahr zuvor hatte das London Symphony Orchestra unter Sir John Eliot Gardiner im Gewandhaus mit einem auf den ersten Blick wenig außergewöhnlich anmutenden Beethoven-Programm dem Publikum eine absolute Sternstunde der Musik beschert, die in der persönlichen Wertung des Rezensenten an der Spitze der über 70 von ihm anno 2009 gehörten Konzerte steht. Ein knappes Jahr danach stellt Riccardo Chailly nun selbstbewußt ein ähnliches Programm daneben, allerdings gibt es diesmal nicht das dritte Klavierkonzert, sondern das fünfte in Es-Dur op. 73, das letzte vollendete Exempel Beethovens in dieser Gattung. Mancher Hörer im ausverkauften Gewandhaus wird sich gewundert haben, Louis Lortie am Klavier zu sehen und nicht den angekündigten (aber erkrankten) Nelson Freire. Lortie jedenfalls stellt sich als durchaus kompetenter "Ersatz" heraus - seine ansatzlos aus dem Handgelenk geschüttelten Tempowechsel schon im eröffnenden Allegro-Satz lassen einem die Kinnlade nach unten klappen, und generell findet der Frankokanadier eine gute Mixtur aus Technik und Emotion, wobei ihn freilich der Flügel mitunter leicht sabotiert, der bei sehr lauten Anschlägen einen leicht schepprig wirkenden Ton zu erzeugen scheint. Allerdings gibt es auch Passagen, wo sich brillante Abstimmung und kleine Problemfälle die Hand reichen, etwa der violaeingeleitete Part mit einem einsatztechnischen Mißverständnis zwischen Orchester und Pianist. Dafür sitzen die späteren Unisoni messerscharf, und die immense Spannung im leisen Teil schlägt einen Bogen zurück zum Anfang des Satzes, in dem sich nach den noch leicht zu trockenen Orchestereinwürfen bald eine lebendigere Gangart durchsetzt, in der sich die butterweichen Hörner ein Sonderlob verdienen. Nicht ganz so gut gelingt das Adagio an zweiter Satzposition - der ultralangsame Einleitungsteil besticht zwar noch durch seine choralartige Stimmung, aber die Teppichlage in der Folge ist zuweilen leicht wellig, auch das Satzende knistert eher vor Trockenheit als vor Spannung, bevor solche dann in den ersten Rondotakten doch noch aufgebaut wird und einen das Hauptthema des dritten Satzes erschlägt wie ein Steinblock. Selbigen dritten Satz nehmen Chailly und Lortie sehr architekturbetont, wobei die aberwitzigen rhythmischen Schlenker im Hauptthema höchste Präzision erfordern (und bekommen), die dem Klavier-Pauke-Dialog am Ende auch zu wünschen gewesen wäre, wohingegen das Sonderlob diesmal an David Petersen für den frechen Fagottsoloeinwurf geht. Die große Linie ist im gesamten Klavierkonzert zwar da, aber man weiß am Ende nicht so richtig, wohin sie führt. So gerät auch der Applaus zwar stark, aber nicht enthusiastisch - eine Zugabe Lorties gibt's trotzdem noch, und er bleibt logischerweise im Beethoven-Kosmos.
Nach der Pause erklingt Beethovens 7. Sinfonie A-Dur op. 92, und die hatte auch JEG vor einem knappen Jahr gespielt, was zu einer Version mit Referenzcharakter führte, trotz hohen Energielevels leicht und mit förmlich überirdischer Klarheit. Chaillys Herangehensweise nun erweist sich im Gesamtergebnis als diametral entgegengesetzt, aber deshalb nicht weniger beeindruckend. Im ersten Satz steckt der Dirigent die Dynamikgrenzen schon einmal recht weit außen ab, die Zeitlupenwirkung der Pauke muß besonders hervorgehoben werden. Der Übergang ins Vivace allerdings gerät zu hektisch, bevor sich das stürmische Hauptthema fast brachial Bahn bricht. Chaillys Ruf als Beethovenbeschleuniger kennt man ja bereits (auch die Geschwindigkeiten dieser Aufführung liegen weit oben), aber daß er auch noch Kraftinfusionen legt, das hatte man noch nicht so im Bewußtsein. Da üben die Kontrabässe kurz vor Ende des ersten Satzes sogar mal für die im April 2010 anstehende Aufführung von Schostakowitschs Leningrader Sinfonie, indem sie vorwärts rollen wie ein Panzergeschwader, aber im Gegensatz zu diesem hier eine differenzierte Akzentuierung an den Tag legen. Immense Energie pumpt Chailly auch ins Allegretto, das trotz relativ hohen Tempos aber eine grundsätzliche Ruhe und Sanglichkeit atmet und in eigentümlichen trauermarschartigen Passagen mündet. Den einen kurzen Energieausbruch im entspannten Satzausklang läßt Chailly mit der Schärfe eines Sensenschnittes spielen und liefert damit schon einen Vorgeschmack auf das Presto an dritter Satzposition, wo dieses Stilmittel noch häufiger zum Einsatz kommt, gepaart wieder mit irren Tempi, schnellen, aber eleganten Holzbläsereinwürfen und einer enormen Wucht im Hauptthema. Einen wirkungsvollen Kontrast setzt das bedächtigere und eher pompöse Trio, aber es soll der letzte Ruhepunkt bleiben, denn was Chailly im abschließenden Allegro con brio entfesselt, reißt buchstäblich jeden Stein vom anderen und entwickelt eine fast beängstigende Intensität. Selbst der Rezensent, nun wirklich für die Fähigkeit zum kalt-analytischen Hören bekannt, schwitzt hinterher und schnappt nach Luft: ausladend, schnell, wuchtig, aber trotzdem klanglich ausgewogen. Das brutale Rhythmusgesäge erfindet den Thrash und den Death Metal schon 170 Jahre früher, das Energielevel liegt ganz ohne Spinal Tap auf einer Zehnerskala bei 11, selbst die kurzen Verharrungen im Holz treiben gnadenlos vorwärts, und ganz zum Schluß holt der Dirigent doch glatt noch eine winzige Steigerung zur Klimax des ganzen Werkes aus dem Orchester heraus. Ein völlig unerwartetes Sinfoniemonster bricht da in der Gesamtbetrachtung über das perplexe Publikum herein, das eine Weile braucht, um sich davon zu erholen, dann aber doch laut und ausdauernd applaudiert. Und diejenigen, die schon unmittelbar nach dem Schlußton aufgesprungen und aus dem Saal geeilt sind, um an der Garderobe nicht Schlange stehen zu müssen, werden diesmal bestraft, denn es gibt überraschend eine Orchesterzugabe, eine gute noch dazu (und natürlich wieder aus dem Beethoven-Fundus, nmlich die "Prometheus"-Ouvertüre), wenngleich nach diesem 4. Sinfoniesatz wohl fast jedes andere Werk ein wenig blaß gewirkt hätte. JEGs Version der 7. Sinfonie Beethovens hatte und hat Referenzcharakter - Chaillys Version seit diesem Abend aber auch.



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