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Tannhäuser   20.12.2009   Chemnitz, Oper
von rls

Lohenhäuser/Tannengrin, Teil 2: Der Alptraum eines jeden Organisators wird in Chemnitz wahr. Hier die Geschichte: Einen Tag zuvor streckt eine Grippe Dirigent Frank Beermann nieder, der Arzt erteilt Auftrittsverbot. Was tun? Man beschließt, David Marlow zu fragen - der junge Dirigent hatte an der Einstudierung von Richard Wagners "Tannhäuser", das für den vierten Adventssonntag auf dem Programm steht, mitgearbeitet, hat aber am Samstagabend zuvor die Premiere von Eduard Künnekes "Der Vetter aus Dingsda" zu dirigieren und weiß zuvor noch nichts von Beermanns Ausfall. Nachdem die Künneke-Premiere vorüber ist, bekommt er die alles entscheidende Frage gestellt, bejaht sie und stürzt sich in die Arbeit, um seine persönliche zweite Premiere innerhalb von nicht mal 24 Stunden vorzubereiten. Am Vormittag des Aufführungstages um 11 Uhr ruft Jon Ketilsson, der Darsteller der Titelrolle, völlig aufgelöst bei Regisseur Michael Heinicke an - seine Stimme hat sich über Nacht verabschiedet, er kann nicht singen. Sechs Stunden bleiben noch bis zum Beginn um 17 Uhr. Innerhalb von zwei Stunden macht Heinicke einen Ersatz ausfindig, einen norwegischen Tenor namens Ivar Gilhuus, der rein zufällig in Berlin weilt und die Rolle schon gesungen hat. Der Norweger sagt zu, springt ins Taxi, ist per Bahn 15 Uhr in Leipzig, wo ihn Heinicke mit dem Auto abholt und bei wechselhaften Straßenverhältnissen 16.30 Uhr wieder in Chemnitz ist, eine halbe Stunde vor Beginn. Die geht noch für ein paar operative Absprachen drauf, und die Situation ist gerettet: Ketilsson spielt Tannhäuser und bewegt dazu seine Lippen, Gilhuus steht am Bühnenrand und singt dazu (die ersten beiden Aufzüge noch mit Notenunterstützung, den dritten dann komplett auswendig). Man kann den Hut nicht tief genug ziehen - immerhin dauert die Oper knappe vier Stunden, und sowas völlig ohne gemeinsame Probe durchzuziehen grenzt an Verrücktheit, an Wagemut. Die Chemnitzer und der Norweger sind verrückt genug, wagen es - und werden belohnt. Michael Heinicke steht um 17 Uhr vor dem Publikum, erzählt die hier wiedergegebene Geschichte, und reichlich vier Stunden später sind alle glücklich und zufrieden.
Heinicke hatte in Chemnitz "Tannhäuser" bereits 1995 auf die Bühne gebracht, aber der Rezensent hat die Aufführung damals nicht gesehen, kann also keine Vergleiche ziehen. Die 2009er Inszenierung, die sich Wagners selbst erstellter Pariser Fassung von 1861 widmet, zeichnet sich jedenfalls durch Bodenständigkeit aus: Größere gesellschaftspolitische Relevanz sucht man vergebens, aber ein reines Historiendrama ist es nun auch wieder nicht. Titelheld Tannhäuser vergnügt sich im ersten Aufzug im Reich der Venus per polygamer Konstruktion, will aber zurück ins irdische Dasein, um mit der thüringischen Landgrafennichte Elisabeth in trauter Zweisamkeit zu leben. Seine Erfahrungen aus dem Venusberg werden ihm im Sängerwettstreit auf der Wartburg freilich zum Verhängnis, und er entgeht der Vernichtung durch die buchstabengläubigen Konkurrenten nur, indem er sich auf Fürsprache Elisabeths zum Bußpilgern nach Rom verpflichtet. Allerdings verweigert ihm der Papst die Absolution, wonach Elisabeth und letztlich auch Tannhäuser sterben. Das letzte Wort spricht freilich der Vorgesetzte des Papstes, indem er durch das Symbol des grünenden Pilgerstabes Tannhäuser doch Vergebung zuspricht und damit die Unfehlbarkeit des Pontifex ad absurdum führt. Heinicke und sein Bühnenbildner/Kostümchef Peter Sykora setzen diese Handlung mit einem interessanten Mischkonzept um: Die Protagonisten tragen relativ neutrale moderne Kleidung zwischen seriös und sexy (letztgenanntes Attribut beschränkt sich auf die Assistentinnen der Venus, wird dort aber mit den halbtransparenten und geschlitzten pastellfarbenen Umhängen, die wirkungsvoll mit den langen dunklen Haaren korrespondieren, konsequent ausgereizt), bewegen sich aber auf einer unterschiedlich belegten Bühne, in deren Hintergrund ein gotischer Chorschluß steht, der in den drei Aufzügen von Süden nach Norden wandert: Im ersten Aufzug nimmt er das südliche Drittel der Bühne ein, mittels einer Plexiglaswand von den anderen zwei Dritteln abgegrenzt (wo sich das Venusreich aus dem Bühnenboden erhebt, aber auch die "neutralen" Szenen stattfinden, etwa die erste [Wieder-] Begegnung Tannhäusers mit seinen Sängerkollegen), im zweiten Aufzug, der komplett auf der Wartburg spielt, steht er zentriert, und der dritte Aufzug zeigt eine spiegelsymmetrische Version des ersten. Das ist alles nicht weiter spektakulär, aber es paßt zur Handlung und versucht nicht permanent, irgendwelche Bedeutungsebenen hervorzubringen, bei denen Wagner die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde. Ein paar Seitenhiebe allerdings kann sich auch Heinicke nicht verkneifen, und die bilden dann das Salz in der Suppe. Feinen Humor verrät der Regisseur in der ausladenden Begrüßungsszene vor dem Sängerwettstreit, als die Besucher mit völlig unterschiedlichem Stil an den Wettbewerbsleiter, den thüringischen Landgrafen Hermann, und seine Nichte Elisabeth herantreten. Auch die Tatsache, daß Tannhäuser als einziger der Wettbewerbsteilnehmer (und auch anders als alle Besucher) unbewaffnet erscheint, verdient Aufmerksamkeit, ebenso wie die politische Empörung, als der "Ausländer" Biterolf empört aufspringt, während Wolfram von Eschenbach die "deutschen Lande" preisend besingt. Daß die Schar der Venus-Assistentinnen, die schon während der Ouvertüre in tonlosem Bühnenspiel Tannhäuser umgarnen, dies in einer Szenerie tun, die fast an den Showdown in "Predator 2" erinnert, kann freilich Zufall sein, muß aber nicht. Als ein zentraler Einfall stellt sich indes die Besetzung heraus: Venus als Verkörperung der Sünde und Elisabeth als Verkörperung der keuschen Tugend werden von ein und derselben Person in bis auf Nuancen identischem Kostüm gespielt. Natürlich ist Heinicke nicht der erste mit diesem Einfall, und Wagner hat mit der Szeneneinteilung, daß beide Frauengestalten nie gleichzeitig agieren müssen, ja auch schon eine Steilvorlage geliefert. Aber wenn man mal genauer darüber nachdenkt, offenbart sich in dieser Doppelbesetzung der Gedanke über die blitzartige Verwandlungsfähigkeit der Frau aus einem Engel in einen Teufel et vice versa. Man(n) kann dieses Phänomen freilich auch auf eine theoretische Ebene zurückversetzen, wie Wagner das letztlich auch tut bzw. seine Protagonisten tun läßt, und das ist unterm Strich wahrscheinlich auch besser so.
Was gibt es von der musikalischen Seite zu berichten? David Marlow am Dirigentenpult entledigt sich der schweren Aufgabe in äußerst professioneller Manier (selbst ein Handyklingeln, als er gerade den Einsatz zum zweiten Aufzug gibt, meistert er souverän), wenngleich natürlich gestalterisch manche Feinheit noch auf der Strecke bleibt. Aber besonders im dritten Aufzug legt die Robert-Schumann-Philharmonie im Graben eindrucksvolle düstere Bilder vor, die zugleich genügend Energie transportieren, um den Hörer nicht im Sumpf der Depression verschwinden zu lassen. Gesanglich beginnt Astrid Weber als Venus zunächst eher mäßig dramatisch (Anna Nesyba gestaltet ihren Hirtenknaben da durchaus schneidender), aber sie kann auch in der zurückhaltenderen Manier überzeugen und schwingt sich im zweiten und dritten Aufzug dann auch noch zu explosiven Leistungen auf, während sie das bekannte Gebet der Elisabeth so dunkelromantisch gestaltet, wie es ihr Wagner mit dem bisweilen arg holprigen Versmaß samt entsprechender Melodik eben ermöglicht. Alle Augen und Ohren freilich ruhen auf Ivar Gilhuus, und der erfüllt seine immens schwierige Aufgabe in beeindruckender, mit Worten kaum zu schildernder Weise - daß er in der Mitte des ersten Aufzuges stimmlich mal kurz wackelt und für ein Aussprachetraining natürlich auch keine Zeit mehr blieb, verblaßt vor dem beschriebenen Hintergrund zur Bedeutungslosigkeit, und selbst bei rein objektiver Betrachtungsweise hätte sein Gesang für eine sehr positive Bewertung genügt. Dementsprechend erntet er vehemente Bravorufe, lauten Applaus und von Astrid Weber einen dicken Kuß, und das Publikum verläßt das Opernhaus mit dem Gefühl, einer ungeplant außergewöhnlichen Aufführung beigewohnt zu haben - man muß als Organisationsteam solche Begleitumstände natürlich nicht öfter erleben als unbedingt nötig, aber was alle Beteiligten daraus gezaubert haben, war zweifellos sehens- und hörenswert. Die Daten für die nächsten, dann vermutlich wieder "normalen" Aufführungen: www.theater-chemnitz.de



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