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Alle Wünsche sind dahin   16.06.2009   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Und wieder eine Idee aus der Programmkonzeptionsfraktion der Leipziger Musikhochschule, die auf den ersten Blick absonderlich anmutet, aber schnell ihre immanente Logik preisgibt und sich nach der Aufführung dann sogar als Volltreffer herausstellt: "Die beiden Pädagogen", ein einaktiges Singspiel, das Hochschulgründer Felix Mendelssohn Bartholdy weiland im zarten Alter von elf Jahren geschrieben hatte, kommt nach dem September 2008 noch ein zweites Mal auf die Bühne, diesmal aber nicht um eine der Streichersinfonien als "Vorprogramm" ergänzt, sondern um "Wonne der Einsamkeit", eine Collage aus Werken von Fanny Hensel, welchselbige bekanntlich Felix' vier Jahre ältere Schwester war und mit FMB nicht nur geschwisterlich-innig verbunden war, sondern auch kompositorisch durchaus großes Talent offenbarte, wenn sie das denn durfte - komponierende Frauen waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch eine Seltenheit und hatten es gemäß dem traditionellen Rollenverständnis schwer, sich durchzusetzen. Ebenjenes Rollenverständnis ist das zentrale Thema der Rahmenhandlung, die Regisseurin Jasmin Solfaghari und ihre Kompagnons Helmut Kukuk, Jörg Rothkamm, Miriam Konert und Carolin Seidl um die Collage gestrickt haben und die dann später auch noch auf "Die beiden Pädagogen" übergreift: Fanny kämpft gegen die Hürden, die ihr besagtes traditionelles Rollenverständnis auf ihren kompositorischen Weg stellen, und schafft es tatsächlich, einige von ihnen aus dem Weg zu räumen - immerhin selbst diejenige, die ihr die eigene Familie aufbaut, selbst ihr geliebter Bruder ringt sich erst nach langer Zeit zur Publikationserlaubnis ihrer Werke durch. Auch sonst herrscht keineswegs nur Friede, Freude, Eierkuchen in den Häusern Mendelssohn und Hensel, aber andererseits ist die Verbundenheit gerade zwischen Felix und Fanny so stark, daß sie beide auch noch fast gemeinsam ins frühe Grab führt - zwar wird die Schlußszene der Collage, in der beide Hand in Hand vor einem Grabkreuz und einem verdorrten Baum stehen, im Programmheft als "Das Geschwisterpaar trauert über den Verlust eines geliebten Menschen" deklariert, aber die alternative Deutung auf den eigenen Doppeltod 1847 hin drängt sich förmlich auf. Bis es aber soweit kommt, erleben wir auch noch viele erbauliche, manchmal auch dramatische Momente, werfen einen Blick in den Briefwechsel innerhalb der Familie wie nach extern (die Briefe rieseln gleich in der Ouvertüre nach den Schneeflocken vom Himmel) und erleben Fanny vor allem als extrem romantisch komponierend - romantischer als Lied Nr. 2 aus dem Liederkreis, den Fanny dem 1829 in London weilenden Felix zudachte, kann man wohl kaum noch komponieren, ohne sich nicht ins Lächerliche zu begeben. Neben diesem Lied gibt es eine hübsche Orchesterouvertüre, einige Nummern aus Oratorien, Kantaten und anderen musikdramatischen Werken sowie eine Weltpremiere, die der Collage auch den Namen verleiht: "Wonne der Einsamkeit" ist ein zweistrophiges Lied für Sopran mit Klavierbegleitung, das Jasmin Solfaghari in Berlin ausgegraben hat und das Manuela Fraikin einige eigentümliche Betonungsschemata und Tempovariationen auferlegt, derer sie sich hier jedoch gekonnt entledigt, während ihr realer oder gespielter Akzent vor allem in den Sprechpassagen eher gußeiserne Fragezeichen vor die Stirn des Hörers schlägt - ein Problem, das sie mit Fachkollegin Diana Kuznetsova teilt. Dazu kommt eine Textverständlichkeit in der Nähe des absoluten Nullpunktes - das macht der kleine Hochschulchor deutlich besser, wenngleich der wiederum mit ausfasernden t-Auslauten in der bombastischen Schlußnummer "Gott unser Schild" zu kämpfen hat. Dafür stimmt wenigstens die Dramatisierung, etwa der urplötzliche Stimmungsschwenk in "Hero und Leander", den Helmut Kukuk und das studentische Orchester problemlos stemmen, oder die Schizophrenieszene mit der Ghostsängerin am Fenster in der gleichen Komposition, die ein King Diamond auch nicht mit größerer Sinistrität hinbekommen hätte. Die meisten Herren singen gut, ohne aber zu glänzen (Stephan Scherpe, der für den eigentlich vorgesehenen Simon Wallfisch in der Rolle des Felix eingesprungen ist, quält sich in den Höhen allerdings etwas zu sehr), das Humorlevel reißt indes einiges wieder heraus, und Alexander Voigt als Wilhelm Hensel (Fannys Ehemann) sorgt mit seinem frustrierten Abgang nach einer mißglückten Gesangsprobe, in der er deklamiert, er werde jetzt "wieder Maler ... wieder Maler ... Gustav Ma(h)ler", für Lachstürme im gut gelaunten Publikum.
Selbige Gesangsprobe bildet die Brücke zum zweiten Teil: Fanny probt mit ihrer Familie "Die beiden Pädagogen" für eine Aufführung im Rahmen der Sonntagsmusiken im Hause der Mendelssohns ein, was in der in die Collage eingeflochtenen Szene noch völlig im Fiasko endet, während der zweite Teil dann offenbar die Generalprobe darstellt, denn da klappt immerhin fast alles - für den feinen Unterschied zur 2008er Aufführung sorgen zwei Dinge: Erstens hat Jasmin Solfaghari behutsam einige Probeszenen mit Regiehinweisen und leicht danebengehenden Dingen eingeflochten (und das so geschickt, daß es niemals aufdringlich oder gar Selbstzweck wird), und zweitens hat sie diesmal die Dialogtexte neu geschrieben, was wieder eine schöne Gelegenheit darstellte, dem Affen Zucker zu geben, wenn etwa der vermeintliche Professor Hitzig als Gastdozent der Universität Bologna vorgestellt wird, der verliebte Carl sich seine Elise im wagneresken Kampf mit Schwert und Hörnerhelm erobert oder das männliche Familienoberhaupt als Banker reihenweise Seitenhiebe auf die aktuelle sogenannte Finanzkrise losläßt. Ansonsten stimmt das Material mit der 2008er Aufführung prinzipiell überein (man lese das Grundsätzliche also in dessen Rezension nach), allerdings mit nuancenhaften Veränderungen - so scheint die Ouvertüre gegenüber damals einen Tick beschleunigt worden zu sein (ohne das jetzt per Stoppuhr beweisen zu können). Auch die Probleme mit der Textverständlichkeit aus dem ersten Teil bleiben, wenngleich in etwas abgeschwächter Form, erhalten (an etliches erinnert man sich dann doch noch vom letzten Jahr her - im Programmheft bekommt man statt der Texte anderes, allerdings nicht weniger interessantes Material, beispielsweise umfangreiche Auszüge aus den bereits erwähnten Briefen), und Stephan Scherpe quält sich immer noch durch die Höhen, obwohl er weiter unten eine sehr gute Figur macht. In der Besetzung dieses Abends ist Alexander Voigt als Kammerdiener Luftig bzw. Wilhelm Hensel, der schon 2008 in der gleichen Rolle dabei war, der eindeutige Gewinner - sein blitzartiges Wechseln zwischen wienerischem und berlinerischem Dialekt nötigt Respekt ab und ist nebenbei bemerkt auch noch storyimmanent eingeflochten, sorgt auch beim Publikum für Heiterkeit und bringt ihm verdientermaßen den lautesten Schlußapplaus ein. Zudem stimmt die Balance zwischen Sängern und Orchesterlautstärke diesmal noch besser als vor einem Dreivierteljahr, während diverse etwas harmonischer gedachte Passagen wie schon damals auch an diesem Abend etwas zu kratzbürstig geraten. Zudem bekommt der Affe in der großen Vorschlußszene so viel Zucker, daß er förmlich über die Bühne rast, sprich diese ausgedehnte Szene wahlweise in den puren Klamauk oder ins pure Chaos abdriftet - manchmal ist weniger eben doch mehr. Aber selbst hier ertappt man sich dann doch beim Lachen anstatt beim Gedanklich-Kritisieren, und so wird am Ende doch noch alles gut: Der Schlußchor ist mächtig, aber kurz, der Applaus des halbvollen Großen Saales der Hochschule nicht euphorisch, aber doch herzlich, und unterm Strich paßt alles irgendwie zusammen. Ziel erreicht? Ziel erreicht.



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