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Jethro Tull, Saori Jo   11.06.2009   Leipzig, Parkbühne
von rls

Gewitter mit Starkniederschlägen waren für diesen Nachmittag und Abend angedroht, und dann sollten Jethro Tull auch noch open air spielen ... Aber der alte Charlie hatte den gestohlenen Griff offensichtlich rechtzeitig wieder zurückgebracht, denn schon im Laufe des Nachmittags ließen die Niederschläge im Raum südlich von Leipzig deutlich nach, und um 19.45 Uhr fiel südwestlich des Leipziger Zentrums der letzte Tropfen Regen für die nächsten Stunden, die Wolken lösten sich gar auf, so daß man den letzten Teil des Sets an den Bäumen sogar noch spätabendlichen Sonnenschein betrachten konnte. Freilich hat die Parkbühne einen strukturellen Nachteil, der sich mittlerweile eigentlich herumgesprochen haben sollte: Wegen der Anwohner des Musikviertels (sic!) gilt ein relativ strenger Curfew, aber für dieses Konzert war trotzdem 20 Uhr als Anfangszeit verbrieft worden. Wer sich darauf verlassen hatte (wie der Rezensent, der 19.50 Uhr am Einlaß eintraf), mußte feststellen, daß Saori Jo (mal wieder eine von Ian Andersons Jungkünstlerinnenentdeckungen?) zu diesem Zeitpunkt ihren Job bereits getan hatte, ergo hier unreviewt bleiben muß.
Jethro Tull legten dann pünktlich 20 Uhr ohne große Sperenzien los und überraschten den Hörer, indem sie quasi einen Spezialset zum 40jährigen Jubiläum ihres "Stand Up"-Albums spielten. Selbiges war anno 1969 ihr zweites gewesen und bildete nach dem noch etwas konfusen Debüt "This Was" den ersten von etlichen Meilensteinen in der Tull-Geschichte; zudem war es das Einstiegsalbum von Gitarrist Martin Lancelot Barre, dem nach Bandkopf Ian Anderson dienstältesten Tull-Mitglied, das übrigens den Job des ausgestiegenen Urgitarristen Mick Abrahams erst im zweiten Anlauf bekam, nachdem sich die Kooperation Tulls mit Tony Iommi (der kurze Zeit später mit Black Sabbath zu Weltruhm kommen sollte) und David O'List (der bei The Nice gegen den übermächtigen Keith Emerson keinen Stich sah) nach jeweils kurzer Zeit wieder zerschlagen sollte. Tull eröffneten den Gig also mit "Nothing Is Easy" und "A New Day Yesterday" von besagtem "Stand Up"-Album und spielten in der Folge auch noch weiteres Material dieses Albums, das eher nicht zum Standardrepertoire gehört, u.a. "Fat Man", während man mit "Bourree" natürlich von vornherein rechnen konnte. Auffällig war, daß Anderson in der Ansage des letztgenannten Stückes zwar erwähnte, daß es sich hier um Material von good old Bach handelt, aber nicht, daß er sich ja hier in der weltweit als solche apostrophierten Bachstadt befand, in der selbiger mehr als ein Vierteljahrhundert gewirkt hatte. Nebenbei bemerkt: Auch Bach war bei der Bewerbung um das Thomaskantorat nur der dritte Sieger in der Auswahl gewesen und kam zum Zuge, weil die beiden Erstplazierten absagten - eine witzige Parallele zum Einstieg Martin Barres bei Tull! Barre erwies sich im Gig als wichtige Stütze, die Andersons buntscheckige Erscheinung mit dem extrem gesetzten Habitus von Bassist David Goodier kombinierte und damit quasi eine Achsenbildung in der Band ermöglichte. Zudem ist der Mann ein enorm vielseitiger Gitarrist und sorgte quasi im Alleingang für den Hardrockfaktor des Sets, wenn er kräftige Riffs auspackte, von denen das in "Aqualung" selbstredend den energisch-zupackenden Höhepunkt des Sets markieren sollte. Spielfreudemangel brauchte man jedenfalls nicht zu beklagen, auch Anderson selbst war in guter Form, und an seinen eigenartig "schwankenden" Gesang, der dadurch zustandekommt, daß Anderson seine Position vorm und seinen Abstand zum Mikrofon immer wieder in Sekundenbruchteilen variiert, gewöhnte man sich dann auch relativ schnell, zumal der Soundmensch nach etlichen Songs eine recht gute Balance in annehmbarer Lautstärke zustandebrachte, die erst gegen Setende hin durch die alte Soundmenschkrankheit des Reglerhochziehens wieder beeinträchtigt wurde. Und Andersons Humor in den Ansagen kann man sowieso nicht wiedergeben, sondern muß ihn selbst erleben (wenngleich man als Nichtmuttersprachler im Regelfall nur die Hälfte versteht - aber auch die reicht, um sich vor Lachen zu biegen), wobei man dann gleich noch sein unauffälliges, aber wirksames "Dirigieren" des eigenen Klangkörpers bewundern darf. Anderson ist zu sehr Profi, um seine Mitmusiker (neben den beiden Genannten sind derzeit noch Keyboarder/Akkordeonist John O'Hara und Drummer Doane Perry dabei, letztgenannter das drittdienstälteste Mitglied mit einem knappen Vierteljahrhundert) nicht ihre Talente ausspielen zu lassen und sich selbst auch mal in den Hintergrund zu stellen (wo nötig, übernahmen dann auch mal Barre oder O'Hara seine Flötentöne in echter oder keyboardsimulierter Form) - aber Ordnung und Banddisziplin müssen sein. Daß das Ganze trotzdem frisch und nicht in Routine erstarrt klingt, liegt natürlich auch an den erwähnten immer mal wechselnden Setlisten, wobei Tull es sich leisten können, zugunsten der einen oder anderen Ausgrabung auch mal einen Klassiker wegzulassen (an diesem Abend fehlten u.a. "Living In The Past" und der US-Hit "Bungle In The Jungle"). Und wie schon beim Orchestergig 2006 in Wernesgrün bildete die positivste der ausgegrabenen Überraschungen ein Longtrack, damals "Budapest" vom "Crest Of A Knave"-Album, diesmal der Titeltrack vom Album "Heavy Horses", ein epischer Folk-/Hardrockknaller vom Allerfeinsten, dessen Qualitäten sicherlich nicht viele Hörer noch präsent hatten, der aber im besten Sinne einer Wiederentdeckung lauthals bejubelt wurde. Überhaupt erwies sich das Publikum als ausgesprochen gut gelaunt und feierfreudig, natürlich ganz besonders im Schlußteil des Sets, der die drei absolut unverzichtbaren Songs enthielt: "Thick As A Brick" (nicht ausgespielt, aber mit einem größeren Exzerpt), "Aqualung" und als Zugabe "Locomotive Breath". Damit waren 100 Minuten Spielzeit gefüllt (das darf sich manche halb so alte Band, die auch nur halb so lange spielt, hinter die Ohren schreiben), und im allerletzten Schein der fast untergegangenen Sonne begab man sich heimwärts.



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