www.Crossover-agm.de Ian Anderson & Vogtland Philharmonie Greiz/Reichenbach   25.08.2006   Wernesgrün, Brauerei-Gutshof
von rls

"Too Old To Rock'n'Roll, Too Young To Die" hieß das Jethro Tull-Album, das im Geburtsjahr des Rezensenten erschien, welchselbiges nun auch schon wieder 30 Jahre zurückliegt. Angesichts der im Rezensionskopf genannten Künstlerbeteiligung hätte man also durchaus vermuten können, daß Jethro Tull-Bandkopf Ian Anderson 30 Jahre nach besagtem Album nun den ersten Teil des Titels tatsächlich wörtlich genommen hätte - die Vermutung übersieht aber gleich mehrere Faktoren. Zum einen schien Anderson in den dazwischenliegenden Jahren schon mehrmals "too old to rock'n'roll" gewesen zu sein, denn er mußte sich mehrere Male am Kehlkopf operieren lassen - aber wie ein Stehaufmännchen kehrte er immer wieder auf die Bretter, die einen Teil seiner Welt bedeuten (der andere Teil sind seine ausgedehnten Farmen auf der britischen Insel, wo er u.a. Lachse züchtet), zurück. Zum zweiten sind Orchesterkooperationen nichts Neues für Anderson - bereits 1985 nahm er gemeinsam mit dem London Symphony Orchestra Orchesterarrangements von Tull-Klassikern auf, allerdings war damals die Zeit für derartige Projekte nicht gerade günstig, da quasi alle Kooperationen Orchester plus Band automatisch in die Rondo Veneziano-Kopisten-Schublade gesteckt wurden, bei der Kritik damit durchfielen und vom medienhörigen Publikum folglich im Laden gemieden wurden (was zur Folge hatte, daß man etliche von ihnen später für kleine Geldbeträge aus diversen Wühlkisten angeln konnte). Zum dritten letztlich war die Veranstaltung an diesem Abend mit "Symphonic Rock" übertitelt, und damit war klar, daß sich der mittlerweile 59jährige Anderson offensichtlich doch noch nicht zu alt zum Rocken und Rollen fühlt. Das stellten die reichlich zwei Stunden Nettospielzeit dann auch eindrucksvoll unter Beweis.
Aber der Reihe nach: Zunächst überraschte der für eine nicht eben strukturstarke Region wie das Vogtland doch recht erhebliche Eintrittspreis von 38 Euro in Kombination mit der Tatsache, daß der Brauerei-Gutshof trotzdem rappelvoll war. Scheinbar hat die Wernesgrüner Brauerei mit Veranstaltungen wie dieser (die in ein dreitägiges Sommerfest eingebettet war, wobei man am Folgesamstag noch Chris Norman und am Sonntag neben den Wernesgrüner Blasmusikanten Tony Marshall erleben konnte) den Nerv der heimat- und traditionsbewußten Vogtländer getroffen, die trotz einer gewissen Aufgeschlossenheit für Experimente doch am liebsten aufs Altbewährte setzen. Lebendiger Beweis dafür war besagter Freitagabend: Die Tull-Klassiker kannte man seit Jahrzehnten und war gespannt, wie sie in den orchestralen Versionen umgesetzt würden und was sich hinter der Ankündigung "spielen Jethro Tull u.a." verbergen würde. Zunächst betraten Anderson und die vier für den Rockaspekt verantwortlichen Mitmusiker allein die Bühne und intonierten zwei Songs in noch etwas zurückhaltender Manier, deren zweiterer allerdings gleich mal der Klassiker "Living In The Past" war, der quellenseitig quasi das Motto für den kompletten Gig abgab, wenngleich die Umsetzungen aus dem Hier und Heute stammten. Nach "Living In The Past" nahm das Orchester seine Plätze ein, und der während der ersten beiden Songs am Akkordeon (!) agierende John übernahm neben den Keyboards nun auch noch den Dirigentenjob, wenngleich Anderson ihm diesen mitunter, allerdings in eher scherzhafter Manier, streitig zu machen versuchte. Überhaupt war der Frontmann bestens aufgelegt, reihte in vielen Ansagen einen Joke an den anderen und sprintete, wenn er gerade keine Gesangsverpflichtungen zu erfüllen hatte, kreuz und quer über den vorderen Teil der Bühne, dabei in gekonnter Manier und exakt wie ein Schweizer Uhrwerk (dazu muß man sich mit einem Orchester im Rücken ja disziplinieren) seine Querflötenparts intonierend. Gesangsseitig hörte man ihm natürlich an, daß er nach seinen Operationen nicht mehr ganz der Alte ist, wenngleich er im Vergleich zu den Sängern anderer Siebziger-Bands wie etwa Ian Gillan den Vorteil hat, daß er bei Jethro Tull von Anfang an mit seiner Naturstimme gearbeitet und Extreme, wie sie Gillan etwa in "Child In Time" auslotete, stets gemieden hat, so daß der altersbedingte Stimmkraftabfall trotz der Operation bei ihm weniger deutlich ausfällt als bei Gillan, der "Child In Time" ja schon seit der "Purpendicular"-Tour anno 1996 nicht mehr im Set hat. Anderson dagegen wirkte von der Gesamterscheinung her mitunter, als ob er in einen Jungbrunnen gefallen sei; allerdings hatte er mit Ausnahme von Bassist Dave auch ausschließlich Musiker an der vorderen Bühnenfront bei sich, die alterstechnisch der Generation seiner Söhne angehörten. Neben Trommler James (dessen Instrument der Soundmensch dankenswerterweise so eingepaßt hatte, daß es eben gerade nicht die gesamte Orchesteruntervegetation verdämmte), Keyboarder/Dirigent John und Gitarrist Kit betraf das auch noch den Special Guest des Abends, nämlich die Violinistin Lucia, die im Gegensatz zu den Orchestermusikern elektrisch verstärkt agierte und in weiten Teilen des Sets wichtige Rollen bekleidete, was gar so weit reichte, daß einige Stücke ihres ersten Soloalbums "Songs From A Farther Room", u.a. ein Satz aus einem Konzert für Solovioline des Finnen Jean Sibelius, in der Setlist auftauchten. Trotz dessen recht wilden Gestus wurde die erste Hälfte des Sets von eher zurückhaltenderen Nummern geprägt, bekam durch das diesen Setteil abschließende "Bourree" und besonders die simpel betitelte Mozart-Adaption "Moz Art" (in dem der Türkische Marsch und etliche andere bekannte Themen des Salzburger Jubilars durch den halben Quintenzirkel und ein Drittel der gängigen Tanzrhythmen der Gegenwart gejagt wurden und erstmals ein richtiges Geben und Nehmen zwischen Orchester und Band stattfand, die vorher zwar auch miteinander, aber noch nicht ineinander verschränkt musiziert hatten) aber auch ein paar Gewürze kredenzt, die verhinderten, daß der Set allzu eintönig ausfiel - eine Gefahr, die bei reiner Aneinanderreihung der eher folkig-ruhigen Tull-Stücke vermutlich bestanden hätte. Besagte Stücke sind für eine Umsetzung mit Klassikmusikerunterstützung natürlich prädestiniert, und so grub man beispielsweise "Life's A Long Song" aus und schraubte den Anteil von "Aqualung"-Stücken durch die Interpretation von "Wond'ring Aloud", dem geringfügig abfallenden "Cheap Day Return" und dem wunderbaren "Mother Goose" ein gutes Stück über die reine Klassiker-Quote. Die Stimmung im Publikum war schon in der ersten Sethälfte sehr ordentlich, steigerte sich in der zweiten aber nochmal enorm und war auch durch einen Regenschauer und die Tatsache, daß der Sound dann zwar lauter, aber leider auch weniger transparent ausfiel, nicht abzukühlen. Die Basis dafür legte gleich das erste Stück nach der Pause, nämlich ein Exzerpt von "Thick As A Brick" (in dem Anderson bewies, daß er trotz seines ausgeprägten Egos durchaus auch mal zurücktreten kann - die Flötenparts der ersten Songhälfte spielte nämlich nicht er, sondern die Orchesterflötenfraktion), das aber im weiteren Setverlauf noch getoppt werden konnte. Bei "Aqualung" etwa zeigte sich, daß das fiese Hauptriff mit Posaunenunterstützung gleich doppelt so fies klingt - tja, und dann gab es noch die beiden absoluten Highlights im Set, wobei das erste nicht mal aus dem Tull-Fundus stammte: Led Zeppelins "Kashmir" war so ziemlich das Letzte, mit dessen Auftauchen in der Setlist der Rezensent gerechnet hätte, aber auch hieran war Lucia schuld, denn sie hat dieses Stück auf ihrer Platte stehen. Ich kenne diese Studioversion nicht, aber die Liveversion setzte Maßstäbe für die Umsetzung einer Klassik-Rock-Kombination: spielfreudig, aber trotzdem eng am Original orientiert, paßgenau, ideenreich, glashart und mit einem druckvollen Sound, der gerade noch an der Grenze der eindeutigen Durchhörbarkeit aller bühnenaktiven Mitstreiter angesiedelt war, die dann später, wie bereits bemerkt, leider unvorteilhaft überschritten wurde. Das zweite Highlight bildete den Abschluß des regulären Sets: "Budapest" gehört in die Reihe der eher verkannten Tull-Klassiker, da es erst auf der 1987er LP "Crest Of A Knave" stand, als Tull längst nicht mehr so im Fokus der Rockwelt standen wie Anfang der Siebziger (obwohl sie für diese Platte völlig überraschend einen Grammy für die "beste Hardrock/Heavy Metal-Performance" bekamen und die in diesem Jahrgang mit "... And Justice For All" favorisierten Metallica in die Röhre gucken ließen). Schon im Original zehn Minuten lang, verlängerten etliche Improvisationsstrecken der Soloinstrumente den Song noch einmal ein gutes Stück, ohne ihn aber zu zerfasern, und so geriet er praktisch zur grandiosen Zusammenfassung des kompletten Sets, dem als Zugabe dann nur noch ein Stück folgen konnte, nämlich "Locomotive Breath", das mit einem schönen neuen Intro ausgestattet wurde, aber trotz hochklassiger Umsetzung nicht ganz an die Genialität von "Budapest" anknüpfen konnte. So endete ein Konzert, das in seiner Kombination aus Vergangenheit und Gegenwart durchaus das Attribut "progressiv" im wörtlichen Sinne verdient hatte, welches man Anderson auch in den Siebzigern zu Recht schon angehängt hatte, als er die Querflöte im Rock salonfähig machte.



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