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Farin Urlaub Racing Team   26.11.2008   Leipzig, Arena
von rls

Nur gut, daß Jan Vetter, bekannt und beliebt als Farin Urlaub von Den Ärzten aus Berlin (aus Berlin!), seine Soloband nicht etwa Farin Urlaub Racing Zone oder so ähnlich getauft hat - deren Kürzel wäre deutlich unvorteilhafter ausgefallen und würde zudem in einem antagonistischen Gegensatz zur Musik stehen, sofern man ausschließlich die letzten anderthalb Stunden des Leipzig-Gigs an diesem Novemberabend heranzieht. Der Rezensent traf, weil sein vorheriger Termin deutlich länger gedauert hatte als vorgesehen, nämlich erst kurz nach 20.30 Uhr in der Arena ein, machte sich deshalb aber zunächst keine Sorgen, denn Die Ärzte hatten 364 Tage zuvor an gleicher Stelle auch erst eine halbe Stunde nach planmäßiger Anstoßzeit 20 Uhr begonnen. Aber nix da: Das Farin Urlaub Racing Team hatte erstens keine verpassenswerte Vorband dabei (auch keine nicht verpassenswerte, sondern gar keine) und spielte laut Aussage eines der Saalordner tatsächlich schon seit kurz nach acht - über die erste halbe Stunde des Gigs kann der Rezensent also nichts sagen, und alle folgenden Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die noch folgenden drei halben Stunden. "Gobi Tadic" wurde justament live gesucht, was auch schon auf "Die Wahrheit übers Lügen", der neuen CD und gleichzeitig dem ersten unter diesem Bandnamen laufenden Studioalbum, der Fall gewesen war. Daß es sich um eine starke Liveband handeln müßte, war eigentlich von vornherein klar, denn einige der Musiker sind schon seit den Zeiten dabei, als Farin Urlaub nominell noch Soloplatten herausbrachte, und die erste CD unter dem Banner Farin Urlaub Racing Team war eine Liveplatte mit dem schönen Titel "Livealbum Of Death" gewesen. Daß der Status der Truppe in den letzten Jahren weiter gestiegen ist, verdeutlicht die Tatsache, daß man auf der letzten Tour in Leipzig noch das Haus Auensee bespielte, diesmal aber in die drei- oder viermal größere Arena auswich, und obwohl die nicht ausverkauft war (und schon gar nicht zweimal, wie das Die Ärzte anno 2007 geschafft hatten), so trat doch das Paradoxon auf, daß sich das Publikum als deutlich enthusiastischer und feierfreudiger erwies als das kopfzahlmäßig größere 364 Tage zuvor. Im Schnitt schien es zudem etwas jünger zu sein. Ob der Fakt, daß auf der Bühne mehr Damen als Herren aktiv waren, mit zum Enthusiasmus des Publikums beitrug, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden, aber der Fakt, daß Backingsängerin Simone, die in den Duettparts mit Farin auch leadvocalseitig zum Zuge kam, mit "Simone"-Gesängen auf eine bekannte Gipsy Kings-Melodie gefeiert wurde, könnte durchaus einen Baustein im Argumentationshaus bilden. Keine religiöse Anspielung sollte man in der Tatsache vermuten, daß in voller Besetzung zwölf Personen auf der Bühne standen, allerdings stellte sich schnell heraus, daß die vier Herren rechts außen nicht nur zwecks symmetrischen Bühnenbildes und somit als Gegengewicht zu den vier Backingsängerinnen auf der linken Seite fungierten: Das Bläserquartett, von den Busters aus Berlin (aus Berlin!) ausgeliehen, wirkte zwar nicht durchgängig mit, aber wenn es dabei war, dann setzte es starke, bunte und interessante Akzente, die nötigenfalls sogar mal bis zur Jethro Tull-artigen Querflöte reichten, zumeist allerdings auf bewährte Trompete-Posaune-Sax-Kombinationen setzten. Wenn also mal Skafaktor angesagt war, dann waren diese Herren kaum schuldlos daran, während es die vier Backingdamen auf der anderen Seite durchaus bis in den Black Gospel schafften und auch damit reizvolle Farbtupfer setzten. Auch die Rockfraktion war symmetrisch angeordnet - links eine Rhythmusgitarristin (namens Nessie - dieses Wesen hatte man sich doch eigentlich etwas anders vorgestellt ...), rechts eine Bassistin und der singende und leadklampfende Farin zentriert vor dem Schlagzeug (ebenfalls mit weiblicher Bedienung). Leadklampfend? Richtig - dieses bei Den Ärzten doch eher seltene Stilmittel findet im Kontext dieser Band häufiger Anwendung. Apropos Die Ärzte: Bei Solotouren von (Ex-) Mitgliedern berühmter Bands wartet man ja immer gespannt, was aus dem Repertoire der berühmten Band im Liveset landet - die Antwort hier: In den anderthalb Stunden, die der Rezensent gehört hat, stand kein einziger Song von den Ärzte-Alben, die der Rezensent besitzt (es sind nicht alle, zugegeben). Und das Schöne: Man vermißte so eine Einlage auch nicht - mit drei Alben und einer Liveplatte hat Farin Urlaub locker genügend Highlights für eine Zweistundenshow in der Hinterhand. Selbst Ausgrabungen wie "Wo ist das Problem?" (war zu Zeiten des Solodebüts "Endlich Urlaub!" "nur" B-Seite) fielen keineswegs ab, weder qualitativ noch stimmungsmäßig. "Wo ist das Problem?" könnte freilich auch mancher Politpunkanhänger fragen, denn so sehr politisch fiel der Set nicht aus, die eine oder andere Spitze gegen Nazis in den Ansagen und den Song "Lieber Staat" mal außen vor gelassen (letztgenannter behandelt eine Art Szenario, wie es einen und zwei Tage später an gleicher Stelle schon wieder erschollen sein könnte, denn da gastierten Die Toten Hosen in der Arena, und da gab es doch vor 20 Jahren mal einen Song namens "1000 gute Gründe" ...). Dafür gab's eine Extraportion Spielfreude in Gestalt vielseitiger, oft fröhlicher Rockmusik mit verschiedenen randständigen Influenzen, das Ganze übrigens bei deutlich besserem Sound als 364 Tage zuvor (und das, obwohl ein ganzer Sack voll Instrumente und eine deutlich größere Zahl Gesangsmikrofone abzumischen war und nicht nur je drei wie damals) und mit nur recht kurz gehaltenen Ansagen ohne minutenlanges launiges Gelaber (das kann man als Positivum wie als Negativum werten, je nach persönlicher Disposition); überhaupt hatte man den Humorfaktor Der Ärzte eher durch einen allgemeinen Freudenfaktor ersetzt, der sich dann etwa in der Mitmachnummer "Zehn" äußerte - nichts Neues zwar (Subway To Sallys Aufforderung "Und der Schrei ..." taucht dunkel im Hinterkopf auf), aber doch immer wieder wirkungsvoll, so wirkungsvoll, daß es im ausgedehnten Zugabenteil gleich nochmal als Reprise kommt. Und alle, die Ärzte-Material vermißt haben, konnten Verwandtschaftsanalysen starten: Natürlich springt Jan Vetter nicht mal eben komplett über seinen Schatten und schreibt solo völlig abseitiges Material, natürlich kennt man seine Sorte Humor in den Lyrics und entdeckt Parallelen (zum Beispiel zwischen Unsichtbarkeit und Unrockbarkeit), natürlich läßt sich auch in den Songs mancher ungewollte oder vielleicht sogar gewollte Querverweis finden, und plötzlich ertappte man sich dabei, den Refrain von "Teenager-Liebe" vor sich hin zu trällern, obwohl der Song, der da gerade von der Bühne kommt, mittlerweile schon ganz andere Wendungen genommen hat. Sollte da die große schlanke brünette 2008er Abiturientin mit der schwarzen Hose und dem blaugrünen Spaghettiträgerhemdchen, die einen Meter links des Rezensenten tanzt, mitschuldig sein? Und wie kriegt man diesen Refrain jetzt wieder aus dem Hirn heraus, wenn er dort anderthalb Wochen später immer noch sitzt? Hiiilfääääh!



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