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Lieben Sie Brahms?   08.04.2008   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Rhetorische Fragen sind so eine Sache, denn die hier als Konzertmotto ausgegebene bekommt paradoxerweise doch eine Antwort: "In dieser Form nicht." Brahms' Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 B-Dur op. 83 bestreitet die erste Hälfte des 7. Rundfunkkonzertes und wird in einer, sagen wir, zweifelhaften Art und Weise dargeboten. Dafür sind vor allem Abstimmungsprobleme zwischen den drei beteiligten Parteien verantwortlich. Gerhard Oppitz am Klavier hat offensichtlich seinen fixierten Stil, seine individuelle Herangehensweise, und die erweist sich als nur bedingt kompatibel mit der des MDR Sinfonieorchesters. Diese Differenzen auszugleichen und ein großes Ganzes zu formen wäre eigentlich Aufgabe des Dirigenten, aber der junge Ungar Domonkos Héja steht erst zum zweiten Mal am Pult des MDR Sinfonieorchesters und kennt es daher noch nicht so in- und auswendig, um es mit einfachen Mitteln in die gewünschte Richtung zu führen; ob er schon öfter mit Oppitz gearbeitet hat und ob dieser offensichtlich sehr von sich selbst überzeugte Mann überhaupt Verbiegungen seiner Linie zugelassen hätte, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten. Dabei geht alles so gut los mit dem butterweichen Horneinsatz des ersten Satzes Allegro non troppo - aber sobald das Klavier einsetzt, ist es aus mit der Harmonie unter den Mitwirkenden, auch wenn das erste Orchestertutti wieder sitzt. Äußeres Zeichen für die Disharmonie, die da von der Bühne erschallt, ist die Lautstärke des Klaviers. Spielt das Orchester mezzoforte oder lauter, bleibt vom Klavier akustisch wenig übrig - schweigen weite Teile des Orchesters, deckt das Klavier alles andere zu, was besonders bei den Celloteppichen und den als Unisono-Zupfpassagen intendierten Parts des ersten Satzes mehr als schade ist. Der Fortgang dieses Satzes beweist an mehreren Stellen, daß alle drei Parteien zweifellos miteinander können - besonders der herrlich zäh-schleppende langsame Teil mit seinen kammermusikalisch anmutenden Einwürfen entpuppt sich als großes Kino. Aber sie sind viel zu selten, diese Momente, und sie werden von denen überlagert, in denen die interne Balance nicht stimmt. Die eröffnende Passage des zweiten Satzes Allegro appassionato offenbart wieder einen ungedeihlichen Kampf des Klaviers mit den tiefen Streichern, und auch der großartige reine Orchesterpart reißt hier nichts heraus, zumal die Schlußschläge alles andere als tight daherkommen. Im dritten Satz Andante hat der Solocellist seinen großen Auftritt und landet völlig zwischen den Stühlen. Für eine "normale" Aufführung agiert er nicht emotional, nicht "schmalzig" genug - für die generell sehr technokratische Interpretation, die hier zu hören ist, wiederum ist sein Spiel viel zu schmalzig. Apropos Technokratie: Der Dirigent hat außerdem einen Studienabschluß als Schlagzeuger - und das sieht man auch an seinem extrem kantigen Dirigat. Wer das Video zu Kraftwerks "Wir sind die Roboter" kennt, wird das eine oder andere Deja Vu erlebt haben. Der dritte Satz leidet unter ähnlichen Problemstrukturen wie die ersten beiden, und erst im vierten Satz (eine paradoxe Parallele zum Philharmonischen Konzert in Altenburg vier Tage zuvor) beginnen alle Beteiligten richtig miteinander Musik zu machen, wenngleich hier nicht durchgängig. Die rhythmische Abstimmung zwischen Klavier und Orchester in den tänzerischen Passagen beispielsweise funktioniert, das beschriebene Lautstärkeproblem aber bleibt. Für die sonst eher schleppende Tempostruktur nimmt der Dirigent den Schluß dieses Satzes und damit auch des Werkes erstaunlich schnell, aber wenigstens ziehen hier alle an einem Strang, bevor der Schlußton leider die gesamte Krux der Aufführung in Sekundenbruchteilen zusammenfaßt: Um genau diese setzt der Pianist eher ein als das Orchester - nicht viel, aber doch überdeutlich hörbar. Komischerweise stört sich das Publikum im nur etwas über halbvollen Gewandhaus daran absolut nicht, sondern feiert die Protagonisten lautstark ab. Trotzdem läßt sich der Pianist nicht zu einer Zugabe hinreißen - nicht ohne Grund vielleicht ...
Wäre dies das Ende des Konzertes gewesen, so wäre man den pelzigen Geschmack auf der Zunge nicht so richtig wieder losgeworden - aber es gibt ja noch einen zweiten Teil, und mit diesem schaffen es Orchester und Dirigent, die Scharte des ersten Teils locker wieder auszuwetzen. Auf dem Pult liegt die 2. Sinfonie von Alexander Zemlinsky, ein Werk, dem man im Konzertsaal nicht oft begegnet, das aber die Entdeckung zweifellos lohnt, zumal in einer so guten Interpretation wie der dieses Abends. Wer etwa Gustav Mahler zu extrem findet, aber nicht auf Musik der gleichen Stilistik verzichten möchte, findet mit dieser Zemlinsky-Sinfonie erstklassiges Ersatzfutter. Zemlinsky, immerhin Lehrer von Klangexperimentatoren wie Arnold Schönberg, verfährt in diesem seinem letzten Jugendwerk (geschrieben kurz vor der 30er-Altersmarke) nach der Devise, Bewährtes zu verfeinern und Experimente nur in einigen blitzartigen Einfällen unterzubringen. Wo bei Mahler eine ganze Schlagzeugbatterie steht, begnügt sich Zemlinsky mit einem Pauker. Der Dirigent wählt ein sehr schleppendes Tempo, und damit fährt er gut; überhaupt macht sich ein erstaunlicher Wandel in seinem Dirigierstil bemerkbar, denn alles Maschinelle ist plötzlich von ihm gewichen, er dirigiert deutlich weniger kantig, im Schlußteil fast raumgreifend und "wogig". Aber der Reihe nach: Läßt der Anfang mit einer eher unrunden Passage von Hörnern und tiefen Streichern noch einen Rückfall in den ersten Teil befürchten, so wenden die machtvollen ersten Tutti (hier verleiht das schleppende Tempo noch eine Extraportion Wucht) das Blatt zum Besseren. Generell sind viele Passagen stark tiefenlastig gehalten, die Hörner leisten teils furiose Arbeit, und auch das Gesäge gegen Satzende sitzt wie eine Eins, den Raum für eine der wenigen Tempoverschärfungen der Sinfonie bereitend. Experimente gibt's im Scherzando an zweiter Satzstelle: Die originelle flatternde Einleitung weist bereits auf Schostakowitsch voraus, und das gesamte Orchester wird phasenweise über einen Offbeat geführt, der diese Parts viel schneller anmuten läßt, als sie eigentlich sind. Zudem macht sich hier und da ein leicht orientalischer Touch breit, und als gliederndes Element spendiert der Komponist verschiedenen Instrumentengruppen eine markante viertönige Stakkatostruktur, die hin und her fliegt und auch mit zum Eindruck des scheinbar hohen Tempos beiträgt (interessanterweise ordnet die Satzbezeichnung "Nicht zu schnell" an - das ist auch klar, denn wenn man schon das Grundtempo hoch legt, entsteht aus dem Offbeat und der Viertonstruktur ein einziges Chaos). Das Adagio an dritter Stelle gerät naturgemäß schon von der Anlage her düster, und auch diesen Eindruck reproduzieren Dirigent und Orchester hervorragend; über der kargen Landschaft leuchtet hier und da eine kammermusikalische Blüte, deren erste gleich in der Einleitung erblüht, wo Horn und Fagott zwar einen Tick zu hart einsetzen, aber dann richtig schön harmonieren. Ein feister Tuttipart gesellt sich hinzu, machtvoll und düster, aber trotzdem bei weitem nicht so abgründig, wie das ein Mahler an gleicher Stelle konzipiert hätte - anhand der drei Niederschmetterpassagen mit geschickt gewählten Tempovariationen kann man schön Vergleiche ziehen. Kleine Verbesserungsvorschläge liefert das Blech mit diversen nicht so butterweichen Einsätzen, aber der hochspannende leise Schluß des Satzes versöhnt. Der bombastische Start des vierten Satzes wirkt als Kontrast, aber er verklingt schnell und macht einem großen gezupften Themenpart der Streichergruppen Platz. Die Solovioline kann mit dem auch auf die ganze Sinfonie zutreffenden Urteil "nicht kompliziert, aber schön" apostrophiert werden, die kammermusikalisch anmutenden Einlagen zeigen eine sehr gute Abstimmung untereinander (na also!), in dem mit den Bässen beginnenden Tiefstreichersolo entdeckt man noch einen kleinen Rückgriff auf Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung", zwei Tempoverschärfungen schießen fast aus dem Nichts heran, und ein bombastischer Schluß rundet das Werk und damit den Konzertabend auf hohem Niveau und wieder mit dem erleichterten Seufzer "Na also!" im Gedächtnis des Hörers ab. Ein schönes Beispiel, wie man sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht und dabei gleich noch ein Goldstück zutage fördert.



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