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Kirchenmusik?   04.04.2008   Altenburg, Theater
von rls

Kirchenmusik? Kirchenmusik! Zumindest jedenfalls Musik von, mit, aus der Kirche oder über die Kirche. Die Frage, was Kirchenmusik ist und was nicht, bildet einen theologischen Streitpunkt seit vielen Jahrhunderten und ist auch in der Gegenwart keineswegs endgültig gelöst, da immer wieder neue Musik auftaucht, deren religiöser Kontext neu definiert werden muß. Drei Werke mit feststellbarem kirchlichem Bezug (auf diese Formel sei die Frage hier mal heruntergebrochen) hat sich das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera für sein 7. Sinfoniekonzert vorgenommen, das in traditioneller Weise nach zwei Aufführungen in Gera eine dritte in Altenburg in dessen leider nur mäßig gefülltem Theater erlebt.
Den Auftakt bildet Felix Mendelssohn Bartholdys 5. Sinfonie, von der Chronologie her eigentlich seine zweite, aber nach der Uraufführung wieder in der Schublade verschwunden und daher erst posthum publiziert. Apostrophiert ist dieses Werk mit "Reformationssinfonie", und der deutlichste Ausdruck findet sich in der Verarbeitung des Lutherchorals "Ein feste Burg ist unser Gott" im vierten Satz. Vor den vierten hat der Herr aber den ersten, zweiten und dritten gesetzt, und das wird dem Orchester an diesem Abend zum Verhängnis. Gastdirigent Roman Brogli-Sacher (derzeit in Lübeck verpflichtet und aus der Schweiz stammend, nicht etwa, wie man anhand der zweiten Hälfte seines Nachnamens erwarten könnte, aus Österreich) schafft es jedenfalls nicht, das Orchester vom Neben- zum Miteinandermusizieren zu führen. Zwar gelingt der schöne choralartige Auftakt des ersten Satzes bei den Streichern, aber das folgende Blech agiert viel zu schräg, beißt sich mit dem Holz und soll lange Zeit ein akuter Unruhefaktor bleiben; auch die Lautstärke läßt im Verhältnis der einzelnen Instrumentengruppen untereinander immer wieder etwas zu wünschen übrig, die Dynamik erhält so ungewollt nervös wirkende Züge. Wenigstens haben die ersten Violinen offensichtlich einen guten Tag erwischt, der Pianopart im ersten Satz jedenfalls sitzt - im Gegensatz zur Dynamik bei den ersten Paukeneinsätzen und dem Durcheinander vor dem Schluß des ersten Satzes, dessen Markanz der Dirigent dann aber gut herausarbeitet. Das Scherzo an zweiter Satzposition besticht durch ein gut gelungenes kammermusikalisch angehauchtes Intro, aber auch hier machen sich bald wieder die Untugenden des ersten Satzes bemerkbar, wenngleich auch einige schön raumgreifende Passagen zu bestaunen sind und die Wiederholung nach dem Trio hörbar tighter gelingt als das Äquivalent vor dem Trio. Die Lage bessert sich im Andante an dritter Satzposition weiter, und das Flötensolo ist zwar noch weit vom Gänsehautlevel entfernt, aber es weist in die richtige Richtung, auch die choralartige Einleitung transportiert den angedachten Charakter besser als viele andere Passagen zuvor. Zum unerwarteten Wendepunkt aber wird die Choralfuge über "Ein feste Burg ist unser Gott" im vierten Satz: Zwar beginnt die Flöte hier einen Tick zu trocken, aber je mehr Instrumentengruppen hinzutreten, umso stärker wird das Miteinander im Orchester, und in der folgenden Themenweiterverarbeitung bekommt man endlich das zu hören, worauf man schon seit Beginn des Werkes gewartet hat. Das Orchester hat hörbar Spaß bei der Sache, auch bei den modernen Wendungen mit flottem Drive, der eigentlich erst hundert Jahre nach der Komposition salonfähig werden sollte, und das Bombastfinale sitzt, vom zu früh kommenden Blech bei den ersten beiden Schlußtönen abgesehen, wie eine Eins und läßt im Hirn des Hörers nur die verzweifelte Frage offen: Warum nicht gleich so?
Die folgende Sonata sopra Santa Maria steht als deutsche Erstaufführung auf dem Programm. Geschrieben um die letzte Jahrtausendwende, hat der Komponist Stefano Gervasoni das gleichnamige Stück aus der Marienvesper Claudio Monteverdis hergenommen und durch unterschiedliche Gewichtungen der Instrumente in der Orchestrierung, die Einwebung von Klangeffekten und andere Veränderungen zu einem zwar notenseitig fast identischen, aber klangbildseitig weitgehend veränderten Werk gewandelt. Das Ergebnis läßt von der Titulierung des Bearbeiters als Genie bis zu seiner Verdammung alle Möglichkeiten offen. Kennt jemand "Ouvertüre zum Fliegenden Hollaender, wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen vom Blatt spielt" von Paul Hindemith? So ähnlich muß man sich Gervasonis Resultat vorstellen - allerdings ohne jeglichen Anflug von Humor. Die Klangeinfälle bleiben Stückwerk, aber das war vom Komponisten auch so beabsichtigt, der den Gesamteindruck erwecken wollte, als wenn man durch eine zerbrochene Glasscheibe schaut. Das kann man mögen oder auch nicht, die Beurteilung der Leistung des Orchesters ist bei einem solchen Stück ohne Partiturmitlesen völlig unmöglich vorzunehmen, und irgendwann fällt einem auch noch auf, daß einige der Klangeinfälle einen gewissen Touch in Richtung Gamelanmusik haben. Ein paar richtige Geniestreiche sind auch bei größtmöglicher kritischer Distanz dabei, zu denen der Schluß des Werkes gehört - diese Aussage ist nicht als doppelbödiger Witz zu verstehen, sondern in Bezug auf den verhallenden ätherischen Bratscheneffekt, der das Finale des Werkes bildet und den Hörer in den Schoß der Heiligen Jungfrau versetzt. Wie wohl er sich dort fühlt, bleibt der persönlichen Konstitution überlassen.
Das Programm nach der Pause verschiebt den Gesamtsieg des Abends an die katholische Fraktion. Giacomo Puccini ist weithin für seine Opern bekannt, aber mit der Messa di Gloria ist auch ein kirchenmusikalisches Werk von ihm überliefert, wenngleich es zu seinen Lebzeiten nur ein einziges Mal aufgeführt wurde und dann in den Schubladen verschwand. Es kursiert die Theorie, das Werk sei kürzer als vorgesehen, weil der Komponist, in Zeitnot befindlich, sonst bis zum bereits fixierten Uraufführungstermin nicht fertig geworden wäre - und tatsächlich folgt nach dem enorm ausladenden Credo nur noch ein vergleichsweise knapp gehaltener Dreierblock aus Sanctus, Benedictus und Agnus Dei. Interessant ist die Frage, ob Puccini in diesem Werk wesentlich von seinem späteren operatischen Stil abgewichen ist oder es wie sein großer Landsmann Verdi gehalten hat - dessen Requiem stellt ja bekanntlich nichts anderes als italienische Oper mit umgehängtem Requiemsmantel dar. Das eröffnende Kyrie klingt noch erstaunlich basisch, erweckt den Anschein einer Streichersinfonie und offenbart, daß sich der Philharmonische Chor Gera, der die ausgedehnten Chorpassagen übernimmt, noch nicht ganz aufeinander eingestimmt hat, wie man an den innerhalb einer Stimme über einen gewissen Zeitraum verteilt erklingenden s-Lauten in "eleison" erkennen kann. Aber zumindest die Dynamik stimmt diesmal von Anfang an. Das Gloria schaltet dann doch um ins Opernfach, im letzten "Qui tollis" wähnt man gar den Soundtrack zu einem Sandalenfilm zu hören, und der dramatische Höhepunkt ab "Quoniam" gelingt Chor, Orchester und Dirigent in fast perfekter Manier. Tenor Francisco Almanza, gebürtiger Mexikaner, freut sich über den katholischen Triumph offenbar so sehr, daß er völlig übermotiviert an seinen ersten Soloeinsatz im Gloria herangeht ("beckmesserisch" möchte man fast sagen), aber im folgenden Credo bei "Et incarnatus" hat er seinen Blutdruck wieder im Griff und kann sich akustisch trotzdem noch gegen alle anderen behaupten. Bariton Teruhiko Komori wiederum bleibt von Anfang an im soliden Bereich, gerät bei "Crucifixus" an die unteren Grenzen seines sinnvoll einsetzbaren Stimmspektrums, macht aber sonst seine Sache gut. Das trifft auch auf den Chor zu, der hier viele Unisonopassagen verabreicht bekommen hat, auch die Dramatik an den Themaübergängen vom Vater zum Sohn und vom Sohn zum Heiligen Geist meistert das Orchester ebenso wie die coole Steigerung vorm letzten Amen, bevor der Satz nach hinten aber ausfasert. Das Sanctus kommt schwer in Schwung, das Benedictus mit einer guten Baritonleistung hängt gleich dran, der Schlußzupfer läßt freilich die Exaktheit vermissen. Die ist im Ufta-Ufta, das Puccini im Agnus Dei auf den Plan setzt, wieder da, die Solisten harmonieren sowohl bei ihrem Duett als auch bei den Dialogen mit dem Chor - und plötzlich ist das große Werk einfach so zu Ende, fast ansatzlos, relativ leise. Das nährt den Verdacht, daß Puccini hier aus Zeitgründen einfach aufhören mußte zu komponieren, um den Termin der Uraufführung nicht zu sprengen. Wie das Werk geklungen hätte, wenn er die nötige Zeit dafür gehabt hätte, darob darf sich jeder in seinem musikalischen Vorstellungsvermögen eine Lösung ausdenken - die Mitwirkenden erhalten für ihren Part jedenfalls einen für die mäßige Kopfzahl des Publikums ausgesprochen lauten Applaus.



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