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Felix Mendelssohn Bartholdy zum 160. Todestag   03.11.2007   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Das nächste richtig große Mendelssohn-Jahr ist erst 2009 (dann begeht die zivilisierte Musikwelt den 200. Geburtstag des großen Komponisten), aber natürlich ist auch ein 160. Todestag ein gewichtiger runder Grund, um sich des Schaffens des einstmaligen Gewandhauskapellmeisters und Gründers des Leipziger Konservatoriums zu erinnern - noch dazu, wenn man als Klangkörper direkt an dieser heute nach dem Gründer benannten Einrichtung angebunden ist. Das Sinfonieorchester der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" war zu diesem Zweck aber ins Gewandhaus ausgewichen und fuhr damit gut, denn obwohl nur das Parkett und einige der Ränge besetzt waren, so hätte diese Besucherzahl wohl nicht in den Großen Saal der Musikhochschule gepaßt - und das, obwohl der Mendelssohnsaal im Gewandhaus parallel ein zweites Gedenkkonzert erlebte. Standen dort Vokalwerke im Vordergrund, so ging es im Großen Saal des Gewandhauses rein instrumental zu, und den Einstieg wählte das Orchester logischerweise mit einer der Mendelssohnschen Konzertouvertüren. "Meeresstille und glückliche Fahrt" könnte man allein vom Titel her auch mit einer Kombination aus John Cages "4'33" und Markus' bezüglich der Spritpreisaussage beängstigend aktuellem "Ich will Spaß" umsetzen, aber das kam beides erst etliche Jahre nach Mendelssohns Tod - statt dessen hatte sich der Komponist zwei Goethe-Gedichte vorgenommen und deren Eindrücke in Musik zu gießen versucht, wobei die "Meeresstille" weniger mit ruhiger See als vielmehr mit einer Art Grabesruhe zu tun hat, die trotz allen elegischen Charakters aber trotzdem nicht diverser "schöner" Momente entbehrt, wie gleich die ersten Takte nach der prägnanten Kontrabaßeinleitung bewiesen. Da könnte es fast als Absicht durchgehen, daß die dramatischeren Passagen zunächst noch fast ineinanderflossen, ihre Lebendigkeit also noch einen gewissen lähmenden Grundcharakter aufwies (man stelle sich die musikalische Entsprechung der Käseschicht auf der Pizza vor), was das Orchester auch entsprechend umsetzen konnte. Den Dialogpassagen fehlte es freilich ein wenig an der notwendigen Exaktheit, die aber durch den schönen Triumphchoral wieder aufgewogen werden konnte. Schlagzeugsoli sind im seinerzeitigen Musikschaffen auch noch recht selten gewesen - mit einem solchen leitete Mendelssohn aber den Triumphpart ein, und der Schlagzeuger des Hochschulorchesters nutzte die rare Gelegenheit, sich ein wenig in den Vordergrund zu spielen, dankbar aus.
Die Beziehungslinie zwischen Mendelssohn und Schostakowitsch zu ziehen fällt auf den ersten Blick schwer. Mendelssohn hat Schostakowitsch aus biologischen Gründen nicht gekannt, Schostakowitsch wiederum erwähnt Mendelssohn in seinen Memoiren ein einziges Mal - allerdings an einer Stelle, die man dreimal lesen muß, ehe man sie in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen beginnt: "In einem alten Buch habe ich davon gelesen, wie die örtlichen Honoratioren sich zusammenfanden - der Gouverneur, der Polizeipräfekt usw. - und das Oktett von Mendelssohn spielten. Und das war irgendwo tief in der Provinz. Aber wenn heute (gemeint ist: Anfang der 1970er Jahre - Anm. rls), meinetwegen in Rjasan, der Vorsitzende des Stadtsowjets, der Chef der Miliz und der Sekretär des Parteistadtkomitees zusammentreffen - was spielen die Herrschaften dann?" Das Oktett stand nicht auf dem Programm des Abends, und auch Dmitri Schostakowitschs Werke zu jüdischen Thematiken (derer es einige gibt, was seinerzeit in der Sowjetunion sowohl ungewöhnlich als auch ungern gesehen war), die nicht schlecht in ein Gedenkkonzert für einen zwar christlich-reformierten, aber seine jüdischen Wurzeln kennenden und posthum rezeptionsgeschichtlich unter ihnen leidenden Komponisten gepaßt hätten, blieben außen vor. Schostakowitsches erstes Violoncellokonzert stellte sich aber zumindest musikalisch ebenfalls als gute Wahl heraus, zumal man mit ihm eine äußerst hoffnungsvolle Solistin kennenlernen konnte: Marie-Elisabeth Hecker ist, obwohl gerade erst im 20er-Alter angekommen, auf dem besten Weg zu einer Cellogröße, und warum das so ist, stellte die in ein bordeauxrotes Kleid gehüllte Saitenartistin an diesem Abend eindruckvoll unter Beweis. Zwar konnte sie aus biologischen Gründen keine russische Seele in ihr Spiel legen, wie das dem Widmungsträger und Uraufführer Mstislaw Rostropowitsch möglich gewesen war, aber das hinderte sie nicht an einer sehr fordernden Spielweise mit großem Körpereinsatz und viiiieeeelllll Vibrato auf den Saiten (sie spielte übrigens auch noch auswendig und für ein Soloinstrument auch erstaunlich leise, so daß man genau hinhören mußte - das Orchester war allerdings im Blechbereich bis auf ein Solohorn unbesetzt, so daß es wenig Gefährdungspotential gab). Das markante eröffnende Viertonthema verfolgte den Hörer durch das ganze Stück, und den oberflächlich betrachtet heiter-unbeschwerten Charakter sabotierten schon die akustisch umgesetzten Köpfungen im ersten, "Allegretto" überschriebenen Satz (man erinnere sich, daß Stalin, mit dem nicht nur Schostakowitsch so seine Probleme hatte, im Kompositionsjahr 1959 gerade mal erst sechs Jahre tot war und auch Chruschtschows Tauwetter nur stellenweise wirksam wurde, was der Komponist an dem eisigen Wind merkte, der ihm für die erwähnten Werke zu jüdischen Thematiken entgegenwehte). Dialogarbeit im klassischen Sinne eines Solokonzertes bleibt im ersten Satz selten, aber wenn sie mal da ist, wie zwischen Horn und Cello, dann gelang sie den beiden an diesem Abend spielenden Protagonisten auch auf klassische russische Art und Weise. Und das Moderato des zweiten Satzes im Eingangspart so zu spielen, als habe man den Soundtrack zu einem Film über die Taiga vor sich, muß man als Orchester auch erstmal schaffen, wofür sich der Hochschulklangkörper samt dem Dirigenten Ulrich Windfuhr, der sich mit diesem Konzert zugleich als neuer Dirigierprofessor vorstellte und sehr sparsam dirigierte, ein Lob verdient hat, ebenso wie für die äußerst spannungsgeladene Umsetzung des leisen Schlußparts dieses Satzes. Der dritte Satz heißt Cadenza, was den Kenner verwundert - aber tatsächlich: Die Solokadenz, in Solokonzerten sonst in einem der vier Sätze eingefügt, bekam von Schostakowitsch tatsächlich einen eigenen Satz zugewiesen. Die nächste Verwunderung kommt beim metalgewöhnten Hörer auf, der in diesem Satz das Urbild der Solospots der Achtziger-Metalgitarrenhelden wiederfindet, nur halt vom Cello gespielt - es fehlt eigentlich nur noch der "Hey"-Publikumseinwurf in den Pausen. Das abschließende Allegro con moto weist ebenfalls gleichermaßen rückwärts wie nach vorn: Die Dialogarbeit geschieht per Themenzuwurf auf klassische Art und Weise, das Intro wühlt in der russischen Musikgeschichte und wird bei Mussorgskis "The Hut Of Baba Yaga" fündig, und das Orchester durfte mit finsterem Doom und fiesen Holzbläsereinwürfen auch schon mal einen Blick in den Düstermetal der 1990er Jahre werfen. Donnernder Applaus begleitete die junge Cellistin nach dem dramatisch kürzestmöglichen Schlußpart in die Kabine und mehrmals wieder heraus - zu einer Zugabe ließ sie sich aber nicht hinreißen.
Auch nach der Pause blieb das Programm russisch, denn Peter Tschaikowskis 5. Sinfonie stand an - wieder fällt es schwer, eine Verbindung zu Mendelssohn herzustellen, aber für ein musikalisches Requiem ist besagte Sinfonie generell gut geeignet, denn ihr fast durchgängiger düsterer Unterton, den man nicht allein mit der typisch russischen Melancholie und dem sowieso immer von Selbstzweifeln geplagten Charakter Tschaikowskis erklären kann, paßt durchaus zu einer solchen Situation. Das Orchester setzte die Einleitung des 1. Satzes denn auch schön finster um (man ahnt gar nicht, wie düster eine Klarinette klingen kann), gestaltete die Allegro-Einleitung etwas zu unscharf, war aber beim 1. Forte wieder komplett bei der Sache. Die Powerpassagen gerieten so kraftvoll wie intendiert, während sich in den ruhigeren Passagen mehrmals die den jungen Musikern noch fehlende Routine beim lautlosen Umblättern bemerkbar machte. Für die Störung des fies grollenden Schlusses sorgten allerdings fürchterlich quietschende Schuhe (!) im Publikum, die diesen Part ungewollt ins Lächerliche zogen. Der Besitzer hielt sich im zweiten Satz positiverweise zurück, denn hier setzte das Orchester einen schönen Klarinetten-/Hornchoral an, bekam die Fortissimi auch ohne hörbare Streicher gut hin, ließ aber in der Intensität der Schlußtristesse ein wenig zu wünschen übrig. Was man dort an dunkler Farbe gespart hatte, goß man allerdings in den Trübsinnstopf des an dritter Satzposition stehenden Walzers - ein interessanter Gedanke, zumal durch einen stark konturierten Schluß kontrastiert, der sich auch noch wirkungsvoll von der Andante-Einleitung des Finalsatzes abhob. Dem Orchester gelang ein erstklassig modellierter Übergang des Andantes zum abschließenden Allegro vivace, dominiert durch Tiefblech mit hohen Bosheitsgraden, das auch den zwischenzeitlich einkehrenden Optimismus in Form eines kantablen Filmscores schnell wieder gekonnt in den Boden stampfte. Selbst der Triumphmarsch blieb irgendwie trübsinnig unterstimmt, das eigentliche Finale geriet von der Dynamik her gar noch einen Tick zurückhaltender als der Triumphpart, und so gelang dem Orchester ein irgendwie doch rundes Bild dieses eigentümlichen Werkes, das stimmungsseitig in Mendelssohns Schaffen keine richtige Entsprechung findet. Ob er's gemocht hätte? Keine Ahnung - aber das tat dem Konzerterlebnis mit heutiger Hörerfahrung erstmal keinen Abbruch.



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