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Legenden - Jubiläumsgala zum 60jährigen Bestehen der Staatsoperette Dresden   03.10.2007   Dresden, Staatsoperette
von rls

Stärker noch als etwa Oper oder Sinfoniekonzert gilt die Operette heute als vom Aussterben bedrohte Spezies aus der Sammelgattung "Klassische Musik" (daß etwa die Operettengala beim Altenburger Musikfestival jedes Jahr ein paar mehr freie Plätze vorheriger Stammgäste, die aus biologischen Gründen nicht mehr anwesend sein können, sieht, darf da durchaus als programmatisch gewertet werden); immerhin handelt es sich um ein Genre, dessen letzte ernstzunehmende Neukompositionen irgendwann aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen, das sich also nicht mehr aktiv weiterentwickelt. Nun hat die Staatsoperette Dresden offensichtlich einen klassischen Satz der BWL-Professorin des Rezensenten, nämlich "Wenn ein Markt stirbt, dann ist es ja doof, wenn Sie mit ihm sterben", verinnerlicht, widmet sich außer dem Operettenfach also auch verwandten Genres, ohne dabei anderen Kulturbetrieben der sächsischen Landesmetropole allzusehr in die Quere zu kommen (wobei es natürlich schon mal die eine oder andere auch mal von den anderen induzierte Überschneidung gibt, die dann aber meist in eine reizvolle Gegenüberstellung mündet - man kann beispielsweise im Winter 2007 "Die Fledermaus" sowohl durch die Semperoper als auch durch die Staatsoperette flattern sehen). Bisweilen findet also auch eine Oper den Weg auf die Bretter des alten Gasthofes in Dresden-Leuben, das große zweite Standbein des Hauses stellt allerdings die US-Antwort auf das Genre Operette, nämlich das Musical, dar, und hauptsächlich mit diesem bekommt man dann auch größere Zahlen von Zuschauern außerhalb des "silbernen" Alters ins Haus, wenngleich die ausgeprägte Jugendarbeit der Staatsoperette natürlich in beiden Standbeinen Anknüpfungspunkte findet. Nachdem 2002 die Schließung der Einrichtung drohte (da hatte das Jahrhunderthochwasser gleich mal argumentative Vorarbeit geleistet ...), zeigte sich die Liebe der Dresdner Einwohner zu "ihrer" Staatsoperette - innerhalb kürzester Zeit eine Unterschriftenaktion mit einer Zahl von Menschen, die mehr als einem Fünftel der Dresdner Einwohnerschaft entspricht, hinzubekommen dürfte einzigartig sein und nur dann übertroffen werden, wenn man in Leipzig das Gewandhaus schließen wollen würde (eine Idee, auf die dort positiverweise erst gar niemand kommt).
Anno 2007 jährte sich die Gründung der Staatsoperette Dresden (die allerdings noch nicht ganz so lange so heißt und irritierenderweise heute auch gar nicht mehr vom Staat, sondern von der Stadt getragen wird) nun also zum 60. Male - Grund genug für eine "Legenden" überschriebene Jubiläumsgala, und weil deren Kartennachfrage kaum befriedigt werden konnte, mußte man sie summa summarum gleich an drei Abenden spielen. Anno 1947 hatte man das Haus mit Lehárs "Die lustige Witwe" eröffnet - damals eine programmatische Wahl (zweieinhalb Jahre nach Kriegsende zur Eröffnung ausgerechnet Adolf Hitlers Lieblingsoperette zu spielen war ein deutliches Zeichen, daß die Kultur auch durch solche "Liebhaber" nicht beschädigt werden kann - das sollten sich all jene hinter die Ohren schreiben, die heute beim nächstbesten Schulmassaker erstmal pauschal alle Metalbands an den Pranger stellen), die konsequenterweise Folgen für eine Festgala namens "Legenden" haben mußte. Aber eine komplette Aufführung der Operette hätte zweieinhalb Stunden gedauert und damit keinen Raum mehr für das zweite Standbein des Hauses gelassen. Was tun? Man erstellte eine "Best Of"-Fassung, die nach einem "Festlied" auf Lehár-Musik von Wolfgang Amberger launig-humorig in "Märchenonkel-Manier" moderiert wurde und im wesentlichen aus den größten Hits samt Grande Finale bestand. Christian Grygas als gut textverständlicher Danilo ging also selbstverständlich ins Maxim zu den herrlich überdrehten Grisetten, und die politisch natürlich völlig unkorrekte Feststellung, daß das Studium der Weiber schwer sei, entwickelte sich zum größten Partybrüller der ersten Hälfte, offenbarte aber zugleich, daß das Publikum scheinbar doch noch nicht in kompletter Stärke auch 1947 schon anwesend gewesen war, wie der Moderator schwarzhumorig einwarf - dann hätte man nämlich ein temposichereres Mitklatschen erwarten dürfen. Titelheldin Hanna Glawari, gesungen von Ingeborg Schöpf, ließ den Hörer anfangs mit angestrengten Höhen noch etwas zittern (das Volumen dagegen stimmte von Anfang an), aber im Verlaufe der Auftritte zeigte sie, daß sie auch immens sanft-leise Höhen mit Kuschelkompatibilität beherscht. Kleines Detail am Rande: Im Liebesduett spielte der erste Violinist, der solistisch zu agieren hatte, nicht etwa nach dem Dirigenten, sondern nach Hanna, und das klappte ausgezeichnet, während ansonsten Solisten und Orchester doch ein paar kleine Abstimmungsprobleme offenbarten, die den insgesamt positiven Gesamteindruck aber nicht entscheidend zu trüben vermochten.
Nach der Pause stand kein ganzes oder halbes Werk mehr auf dem Plan, sondern ein bis drei Stücke aus Musical- oder verwandten Produktionen der Staatsoperette. Das Orchester der Staatsoperette, jetzt übrigens wechselnd unter zwei Dirigenten, nämlich neben Chef Ernst Theis (der den ersten Teil allein bestritten hatte) in Schwarz noch Assistent Christian Garbosnik in Weiß, eröffnete nach der Festrede von Intendant Wolfgang Schaller (deren zentrales Thema der Umzugswunsch in einen noch zu errichtenden Neubau am Wiener Platz war) mit der Ouvertüre zu Leonard Bernsteins "Candide" - keine schlechte Wahl, auch keine schlechte Umsetzung, aber Pech, daß der Rezensent genau dieses Stück anderthalb Monate zuvor als Konzertstück mit dem Simon Bolivar Youth Orchestra of Venezuela unter Gustavo Dudamel im Leipziger Gewandhaus gehört hatte, und da wurden im Direktvergleich schon zwei Dinge deutlich: Erstens hat das Gewandhaus eine deutlich bessere Akustik (selbst wenn man mit der Orchesterempore nicht den idealen Sitzplatz erwischt hat), und zweitens ist ein Sinfonieorchester daran gewöhnt, daß es selbst die Bilder mit musikalischen Mitteln an die Wand zaubern muß, also keine Unterstützung von Sängern, Kostümen, Bühnenbildern, Videoprojektionen oder ähnlichen Beigaben, die es im Musiktheater so gibt, bekommt - und den Unterschied in der Ausdruckskraft (der sich keineswegs auf die alleinige Orchestergröße limitierte) bemerkte man dann schon, ohne daß man dem Operettenorchester deshalb irgendwie einen Vorwurf machen müßte. Später sollten sich noch weitere Probleme offenbaren, die die Orchesterwirkung beeinträchtigten, für die das Orchester aber auch nichts konnte - an vorderster Stelle wäre da die Technologie zu nennen. Die Sänger sangen mit Kopfmikros und waren daher deutlich vernehmbar, im Refrain von "America" aus Bernsteins "West Side Story" brachten sie es allerdings fertig, das komplette Orchester zu übertönen und dem Refrain daher einen Teil seines Reizes zu nehmen. Und wenn wir einmal bei den Negativa sind: Derer gab es noch zwei weitere, beide mit dem gleichen Background: Deutsche Sänger sind eben deutsche Sänger und deutsche Instrumentalisten deutsche Instrumentalisten, denen es nicht leicht fällt, über ihren teutonisch-hölzernen Schatten zu springen, wenn das Stück das verlangt. So scheiterte Jessica Glatte mit Bernsteins "Glitter And Be Gay" (ebenfalls aus "Candide") an der Hürde, hier eine Parodie auf klassische Opernarien hinzulegen (man höre die köstlichen "Königin der Nacht"-Einwürfe!), aufgrund viel zu großer Ernsthaftigkeit, und Bettina Weichert setzte "Wein' nicht um mich, Argentinien" aus Webbers "Evita" in emotionaler Hinsicht völlig gegen den Baum - gerade hier hätte man (trotz des Textes, der in seiner deutschen Version schon viel vom Liebreiz des Originals verloren hat) dahinschmelzen dürfen, können, ja müssen, aber weder Solistin noch Orchester konnten sich dazu hinreißen lassen, nahmen das Stück teutonisch bierernst und gerieten damit auf die Verliererstraße. Auf der Siegerstraße dagegen sonnten sich andere, und die waren positiverweise deutlich in der Überzahl (es sei allerdings angemerkt, daß der Rezensent, nimmt man den Applaus als Gradmesser, wohl der einzige im vollbesetzten Saal war, der dieses Evita-Problem bemerkte) und sorgten für eine nicht enden wollende Partystimmung beim Publikum. Jessica Glatte bekam noch mehrere Gelegenheiten, die "Candide"-Scharte auszuwetzen, und nutzte sie mit einer starken Leistung etwa in Bernsteins Balkonszene "Tonight", ebenfalls aus der "West Side Story", Marcus Günzel überzeugte nicht nur in "Willkommen" aus "Cabaret" (Kander/Ebb), sondern auch als souveräner angehumorter Moderator des restlichen Abends, Markus Liske und Gerd Wiemer wandelten den Titeltrack aus Gerd Natschinskis "Mein Freund Bunbury" (für 1965 in der DDR ausgesprochen gewagt, eine Gattung vom Klassenfeind zu übernehmen und gleich noch zumindest etwas "monotones Yeah Yeah Yeah" im Ulbrichtschen Sprachgebrauch einzubasteln) in eine Art Funpunk um - und dann war ja da noch das Stück, das die "Legenden"-Überschrift am meisten verdiente, nämlich Frederick Loewes "My Fair Lady", 1965 in Dresden als DDR-Premiere auf die Bühne gekommen und am zweithäufigsten gespielte DDR-Operetten-/Musicalinszenierung. Schon "Kann eine Frau nicht sein wie ein Mann" mit Tom Pauls war musikalisches Kabarett der Extraklasse, aber danach wurde ein alter DEFA-Bericht über die 1965er Inszenierung eingespielt, die mit Marita Böhme und Peter Herden ein absolutes Bühnentraumpaar zusammengeführt hatte. Ebenjene standen nun über 40 Jahre nach der Premiere und etwa 30 Jahre nach Auslaufen dieser Inszenierung im Rahmen der Gala wieder auf der Bühne, erhielten allein schon für ihr Erscheinen frenetischen Applaus und machten mit "Es grünt so grün" deutlich, daß sie zwar noch nicht ganz so alt sind wie Johannes Heesters, aber Alter auch in ihrem Fall vor Konservierung gewisser künstlerischer Potenzen nicht schützt, obwohl man Marita Böhme schon deutlich anmerkte, daß die Höhen einen Tick weit fehlen. Das nahm ihnen allerdings keiner übel, und ihr Applausgrad wurde erst wieder im Schlußapplaus nach dem Titeltrack aus Cole Porters "Anything Goes" reproduziert, dem folgerichtig zwei Zugaben angehängt wurden. Das Schlußbild machte übrigens am besten deutlich, warum die Staatsoperette den angestrebten Neubau braucht: Es paßten schlicht und einfach nicht alle Mitwirkenden nebeneinander in einer Reihe auf die Bühne.



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