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Gipfel-Sinfonik   10.06.2007   Leipzig, Gewandhaus
von rls

"Abschied ist ein scharfes Schwert", bekundete vor Jahren Schmusebarde Roger Whittaker. Nun nimmt auch Fabio Luisi Abschied vom MDR Sinfonieorchester, an dessen Pult er elf Jahre lang gestanden hat, davon die letzten acht Jahre als alleinverantwortlicher Chefdirigent - in seinem Fall ist die Klinge des Abschiedsschwertes allerdings nicht ganz so scharf, denn der Dirigent wird auch in Zukunft immer mal noch den Sprung aus Dresden, seinem neuen Arbeitsort als Doppelchef von Sächsischer Staatskapelle und Semperoper, zurück in die Messemetropole oder an einen der zahlreichen anderen Spielorte des MDR Sinfonieorchesters unternehmen und als Gast mit dem Orchester musizieren. Zum Abschied seiner offiziellen Amtszeit gedachte er mit dem Orchester gemäß dem Titel der Veranstaltung noch zwei sinfonische Gipfel zu erklimmen.
Man kann ja zwischen der Historie des Bergsteigens und der Historie der Musik einige erstaunliche Parallelen ziehen, und die offenbarten sich auch im Programm dieses Abends. Dessen erster Teil beinhaltete nämlich Beethovens 6. Sinfonie, auch als Pastorale bekannt und für das sinfonische Schaffen der Wiener Klassik zusammen mit einigen weiteren Beethoven-Sinfonien, speziell der 5., schon so etwas wie einen Gipfelpunkt darstellend, vergleichbar also mit der Situation, als Edward Whymper 1865 mit dem Matterhorn den letzten noch unbezwungenen Viertausender der Alpen erstieg und den Aufstiegsweg von der nördlichen, also schweizerischen Seite her als viel leichter erkannte als den bis dahin versuchten südlichen von der italienischen Seite her, auf dem wenige Tage später der Italiener Jean Antoine Carrel den Gipfel erreichte. Diese paradoxe Dualität findet ihre Entsprechung in Beethovens Schaffen, denn er schrieb die 5. und 6. Sinfonie parallel, in die erstgenannte all die Schwierigkeiten, die einem das Schicksal so in den Weg legt, packend und die zweitgenannte deutlich weniger konfliktbeladen inszenierend, wenngleich auch diese mehr als Friede, Freude, Eierkuchen enthält, womit wir wieder bei Whymper wären, der im Abstieg auf der eigentlich recht einfachen Route vier seiner Seilschaftsmitglieder verlor. Wer mit der Geschichte des Whymper-Aufstieges vertraut ist, wage einfach mal das Gedankenexperiment, die fünf Beethovenschen Sätze zu übertragen; hier die Titel: "I. Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande." "II. Szene am Bach." "III. Lustiges Zusammensein der Landleute." "IV. Gewitter, Sturm." "V. Hirtengesang. Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm." Daß Beethoven dabei auch den einen oder anderen eher skurrilen Einfall in Töne gießt, mag nicht verwundern - so klingt die Eröffnung des dritten Satzes phasenweise weniger nach einem lustigen Zusammensein der Landleute, sondern eher nach wütendem Bauernaufstand, wenn der Grundherr mal wieder eine Horde Wildschweine quer durchs Weizenfeld jagt und dabei die halbe Ernte zertrampelt und zerwühlt wird. Aber selbst diese Deutung würde dem Beethovenschen Vorhaben, Stimmungen des Landlebens in Töne zu gießen, ohne aber deshalb ein "Konzeptwerk" zu fabrizieren, nicht entgegenstehen. Das Orchester braucht ein wenig Zeit, bis es die fließende Atmosphäre der ersten Sätze so richtig verinnerlicht hat, bringt aber ein niedliches Vogelstimmenterzett zustande und läßt den Hörer, so dieser geistig locker und entspannt genug ist, auf einer grünen Wiese Platz nehmen, wo die Idylle nicht mal durch hölzern-derbe Bauernspäße gestört werden kann (soll heißen: man erschrickt auch am erwähnten Beginn des dritten Satzes noch nicht richtig) und nur ein Gewitter die Szenerie sprengt, das Beethoven mit den seinerzeit geläufigen Mitteln inszeniert. Die Steigerungen und Dramatiken werden vom Orchester samt dem äußerst energisch dirigierenden Luisi (man hat jede Moment Angst, bei seinen wilden Sprüngen auf dem Pult würde er einmal nicht mehr auf, sondern neben diesem landen) gut umgesetzt, wenngleich ein Gipfelpunkt nach heutigen Maßstäben anders aussieht.
Und damit sind wir schon beim zweiten Teil des Abends, der wiederum seine alpinistischen Parallelen findet. Nachdem alle größeren Alpengipfel bestiegen waren, suchten die Bergsteiger in anderen Gebirgen nach lohnenden Gipfeln, entdeckten und bestiegen solche im Kaukasus, in den Anden, im Pamir und nicht zuletzt im Himalaja - und plötzlich standen da keine Viertausender mehr zu Buche, sondern Fünftausender im Kaukasus, Sechstausender in den Anden, Siebentausender im Pamir und schließlich sogar Achttausender im Himalaja - um noch höher hinaus zu kommen, muß der Bergsteiger der Zukunft dann aber andere Planeten besuchen und kann auf dem Mars beispielsweise den Olympos Mons ersteigen, der immerhin eine Höhe von ungefähr 20000 Metern hat. Mit der Ersteigung des Mount Everest durch Edmund Hillary und Tensing Norgay anno 1953 war im irdischen Maßstab nach zahlreichen Zwischenstufen ein Schlußpunkt erreicht, und ähnliches galt auch für die Sinfonik, denn nach Mendelssohn, Bruckner und Mahler erklomm Richard Strauss 1915 mit seiner sinfonischen Dichtung "Eine Alpensinfonie" quasi den Everest der traditionellen Sinfonik (komme niemand und führe Olivier Messiaens "Turangalila-Sinfonie" ins Feld - das ist einer dieser unbesteigbaren Drei- oder Viertausender in den chilenischen Anden, auf deren Hängen derartig lockere Schutthalden liegen, daß jeder Versuch des Betretens mit dem Verschüttetwerden unter einer Steinlawine bestraft wird), was er offenbar auch selbst erkannt hatte, denn in den etwa 30 Jahren, die er danach noch am Leben war, widmete er sich diesem Genre nie wieder. Mit Windmaschine, Kuhglocken, vier Harfen, einem Heckelphon und einer monströsen Orchesterbesetzung (immerhin müssen die Streicher im eröffnenden Part "Nacht" gleich mal 20 verschiedene Instrumentallinien spielen) fuhr der Komponist eine Materialschlacht sondersgleichen auf, die allerdings durch das großartige tonmalerische Ergebnis mehr als gerechtfertigt wird und nicht unter das Verdikt "Riesige Felsblöcke nach Murmeltieren geworfen" fällt. Das MDR Sinfonieorchester wird dem Anspruch des Komponisten an diesem Abend in größtenteils ausgezeichneter Weise gerecht, denn allein der "Sonnenaufgang" erstrahlt schon in einer selten gehörten Pracht, und die Umsetzung des Gewitterinfernos kann wohl nur derjenige richtig beurteilen, der selbst im Hochgebirge schon mal in ein kräftiges Gewitter gekommen ist, bei dem die Blitze nur ein paar Meter von einem entfernt in den Hang jagen, der Wind tobt und der Regen, manchmal noch mit Hagel gepaart, unaufhörlich niederprasselt. Daß der Komponist bisweilen etwas märchenhaft agierte, kann man natürlich nicht dem Orchester anlasten, aber die Dramaturgie wird dadurch schon ein wenig beeinträchtigt - noch nicht durch das seltsame Faktum, daß Strauss direkt aus "Dickicht und Gestrüpp" auf den "Gletscher" aussteigt (wo das geht, muß er mir mal zeigen - oder er hat schlicht und einfach Altschneefelder bzw. Lawinenbahnen mit einem Gletscher verwechselt), wohl aber durch die gesamte Zeiteinteilung der Sinfonie, deren 20 Parts allesamt ineinander übergehen: Für den Anstieg berechnet Strauss nämlich deutlich weniger Zeit als für den Abstieg, was ein eher seltenes Phänomen im Alpinismus ist (es tritt z.B. auf, wenn man beim morgendlichen Aufstieg auf dem Gletscher noch über Schneebrücken hinweggehen konnte, diese beim Abstieg aber durch die Sonne aufgeweicht worden sind und man deshalb zeitraubende Sicherungsmaßnahmen ergreifen muß, um nicht in eine Gletscherspalte oder einen Bergschrund zu stürzen) - man kommt in seiner Musik relativ gesehen also eigentlich viel zu früh auf den Gipfel, selbst wenn man den erhöhten Schwierigkeitsgrad des Abstieges durch das sich gleichzeitig entladende Gewitter mit einrechnet. So ist nach dem Gewitter ein bißchen die Luft aus der Sinfonie raus, was aber immerhin wieder mit der realen Situation korrespondiert, wenn man erschöpft wieder absteigt und eigentlich nur noch zum Lagerplatz und in die Horizontale will, ohne noch einen Blick auf die Schönheiten der Umgebung zu werfen. Nichtsdestotrotz macht das Orchester seine Sache gut und spielt lebendig genug, um den Hörer noch sicher zur Berghütte zu geleiten, bevor der Hüttenwirt, ähem, der Dirigent mit stehenden Ovationen verabschiedet wird - man weiß, man wird ihn wiedersehen, und man freut sich darauf.



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