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7. Sinfoniekonzert   15.03.2007   Chemnitz, Stadthalle
von rls

Düstere Zeiten, verpackt in Musik, bildeten das Programm des 7. Sinfoniekonzerts der Saison 2006/07 für die Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz. Wenngleich der Terminus "Ernste Musik" ja eigentlich nur ein abrechnungstechnischer Begriff der GEMA ist (da selbst der fluffigste Walzer noch unter diese Kategorie fiele), man hätte ihn bedenkenlos über diesen Abend (dessen Programm bereits am Vorabend erklungen war und am rezensierten Abend zudem als Liveübertragung auf Deutschlandradio Kultur lief) schreiben können. Dabei betätigten sich die Chemnitzer mit dem ersten Werk sogar archäologisch: Der Name Oskar Fried mag dem Klassik-Insider durchaus geläufig sein, denn der Mann hatte seinerzeit als Dirigent Gustav Mahlers 7. Sinfonie und "Das Lied von der Erde" des gleichen Komponisten uraufgeführt. Aber wer weiß heute noch, daß Fried auch komponiert hat (außer einer Schrägpopuntergrundband, welchselbige sich in Anlehnung an den zu Lebzeiten größten Erfolg des Komponisten "Das trunkene Lied" benannte, wobei allerdings auch möglich ist, daß der von Fried vertonte Nietzsche-Text als Bandnamensinspirator herhalten mußte)? Dabei würden zumindest die Mahler-Anhänger beim Hören seines Werkes durchaus vor Freude im Dreieck springen - zumindest kann man diesen Schluß aus der hier gehörten Aufführung seines Melodrams "Die Auswanderer" ziehen, dem man einen gewissen Mahler-Gestus nicht absprechen kann. 1906 komponiert und 1913 uraufgeführt, geriet die Uraufführung wegen Soundproblemen (man soll die Sprechparts akustisch nicht verstanden haben) zum Debakel, das Stück verschwand in der Schublade, wurde von Fried 1934 bei seiner Emigration mit in die Sowjetunion genommen und wäre dort vermutlich untergegangen, wenn in diesem Fall nicht dem KGB (!) zu danken wäre, denn in dessen Archiv überdauerte es die Zeiten und konnte nunmehr wieder ausgegraben werden. Fried hat einen Text von Émile Verhaeren in dessen deutscher Übertragung durch Stefan Zweig als Grundlage für seine Komposition gewählt, diesen allerdings nicht vertont - er läßt die Textparts live einsprechen, und zwar von einer weiblichen Einzelperson. Damit ist klar, warum die Aufführung von 1913 schiefgehen mußte, denn selbst hier und heute, mit Mikrofonunterstützung, konnte sich Christine Gloger akustisch nur dann durchsetzen, wenn das Orchester leise rote (oder schwarze) Teppiche unter sie legte, denn sobald das Orchestervolumen etwas anzog, war sie zwar noch zu hören, aber nicht mehr zu verstehen (den Fauxpas, sie zu Orchestertutti deklamieren zu lassen, hatte Fried wohlweislich schon vermieden). Paradoxerweise schlich sich beim Hören aber der Eindruck ein, daß es des vokalen Parts eigentlich generell überhaupt nicht bedurft hätte - die immensen musikalischen Wellen, die Fried auftürmt, ohne auch nur ein einziges Mal in Undurchsichtigkeit oder gar Willkürlichkeit zu verfallen (okay, gut, einmal schon: da gab es mal so einen fürchterlich schrägen Violineneinsatz, dessen Originaltreue und ggf. Sinnhaftigkeit hinterfragt werden dürfte), wirkten auch so schon eindrucksvoll genug, um das Szenario zu schildern, das am Anfang des 20. wie am Anfang des 21. Jahrhunderts keinen Deut seiner Aktualität eingebüßt hat und das sich um die Entwurzelung des Menschen durch die Urbanisierung und deren konsequente Weiterentwicklung, die Globalisierung, dreht. War es damals noch der Moloch Stadt (das Attribut "Industrie-" in einigen Fällen noch sinnvoll ergänzbar) als zentrales Schreckensbild, der heute seinen offenen Schrecken zwar verloren hat, weil man sich an ihn gewöhnt hat, obwohl er unmerklich immer noch die Kraft aus dem Land saugt und sie nicht im hundertprozentigen Umfang wieder zurückgibt, so spielt das Thema der Entwurzelung in der heutigen Globalisierungsdebatte eine nicht zu unterschätzende Rolle, und man sollte nicht den Fehler begehen, jeden diesbezüglichen Mahner gleich in die völkische Ecke zu stellen (wie man später Hans Grimms "Volk ohne Raum", das ähnliche Szenarien behandelte, ebenfalls in eine extreme Ecke manövrierte, ohne es überhaupt gelesen zu haben - tut man das nämlich, enthüllt sich ein recht harmloses Gebilde, das vor seinem Entstehungshintergrund puren Mainstream darstellt und dessen wenige völkische Ausfälle keineswegs genügen, es als wegweisend für die nationalsozialistische Ideologie hinzustellen). Fried als Jude und politisch Linker (er soll 1921 der erste ausländische Künstler gewesen sein, der von Lenin ins damalige Sowjetrußland eingeladen wurde, wo er am Bolschoi-Theater Beethovens Neunte dirigierte) läuft diesbezüglich sicher keine Gefahr, vor irgendwelche Karren gespannt zu werden, und so bleibt zu hoffen, daß sich "Die Auswanderer" in den Spielplänen hält, denn abgesehen von den bisweilen arg gekünstelt wirkenden Sprechparts zeigte das Melodram an diesem Abend keinerlei Schwächen, bestach vielmehr durch seine Eindringlichkeit, das Können im Vertonen von Resignation, Aufbruch und auch schierer Brutalität (lautstärketechnisch befand man sich hier nicht selten an einer gewissen Grenze) und die Fähigkeit, das Ganze umzusetzen, ohne dabei den tonalen Boden zu verlassen. Im Gegensatz zu Mahler blieb Fried beim regulären Orchesterinstrumentarium, stockte lediglich das Schlagwerk etwas auf (allerdings eben ohne etwa den Hammer heranzuziehen, den Mahler in seiner 6. Sinfonie zur Fällung des Helden benutzt hatte) und experimentierte zum Ende hin mit einem Fernorchester, das auf einer der Emporen Platz genommen hatte und einen zumindest zweiseitigen Surroundsound ermöglichte. Komischerweise wurde dieses Prinzip nicht bis zur Katastrophe weiter verfolgt - plötzlich endete das Werk einfach. War nicht die komplette Partitur im KGB-Archiv erhalten geblieben, oder was wollte uns der Komponist mit diesem eher offenen Schluß, der die Eindringlichkeit des vorherigen Vortrages irgendwie konterkarierte, sagen? Wir wissen es nicht. Was wir wissen, ist, daß das Orchester samt Dirigent Niksa Bareza eine sehr gute Leistung vollbracht hat und die Laut-Leise-Dynamics weitgehend bruchlos auszureizen imstande war. So entstand ein raumgreifendes Werk gewaltiger Intensität, bei dem man nur überlegte, wie es denn nun ohne die Sprechparts geklungen hätte ...
Den zweiten Teil des Konzertes bestritt die Philharmonie mit Dmitri Schostakowitschs 8. Sinfonie, auch einem nicht eben häufig erklingenden Werk, das zweifellos im Schatten seines Vorgängers, der 7. Sinfonie, steht. Diese, auch als "Leningrader" bekannt, enthält im ersten Satz die wohl eindringlichste akustische Umsetzung einer vorstoßenden Panzerarmee, welche die Musikgeschichtsschreibung bis heute kennt (da verschwinden selbst die polternden kriegslüsternen Black Metaller von Marduk in der Bedeutungslosigkeit). Solche Extreme lotet die 8. (der man den Beinamen "Stalingrader" verlieh) nicht aus, ist auch alles andere als triumphal konzipiert (wie es die sowjetische Öffentlichkeit 1943 erwartet hatte, denn der Krieg hatte sich zu wenden begonnen), sondern eher als eine Art Requiem für die Millionen von Gefallenen, zu denen in den letzten beiden Kriegsjahren noch einige weitere Millionen kommen sollten. Und genau hier lag die Krux der Programmgestaltung des Konzertes. Schostakowitschs Sinfonie hatte zweifellos auch hochdramatische Passagen, "Aufschreie" quasi, eingewoben, blieb aber in der Gesamtintensität hinter Frieds Melodram deutlich zurück, was der realen Dramatik der Themenkomplexe antagonistisch gegenüberstand (ohne Frieds Auswandererschicksale schönreden zu wollen - aber im Vergleich mit den Schrecknissen des Zweiten Weltkrieges müssen sie einen bis zwei Schritte hintanstehen). Blendete man diese Diskrepanz aus, zeigte sich auch in Schostakowitschs Werk ein Kosmos von vielfältigen musikalischen Einfällen bis hin zu den für Schostakowitsch typischen Anklängen an bestimmte thematisch passende Fremdthemen - Sibelius' Tuonela-Trauerthema etwa wird im Falle der Achten immer wieder ins Feld geführt. Der Fünfsätzer beginnt im Trauergestus und endet auch in einem solchen, koppelt in seinem Verlauf aber Trauer und Kriegsschrecken mit einigen lichten Momenten, zu denen beispielsweise einige wunderbare Holzbläsersoli gehören, die eine dunkelromantische Ader zeitigen, wie sie paradoxerweise erst im Heavy Metal der 1980er Jahre (Candlemass!) wieder in die Musikwelt zurückkehren sollte, bevor sie ab den 1990ern von finnischen und britischen Bands weiter popularisiert wurde. Apropos Finnland: Sollte jemand wissen wollen, woher die Leningrad Cowboys die Idee für ihren ursprünglichen fluffigen Musikmix gewonnen haben könnten - er wird ebenfalls hier in Schostakowitschs Achter fündig (natürlich in dem Falle noch ohne E-Gitarren). Die Kontraste zwischen diesen lichten Momenten und der unsagbaren Trauer bzw. den Schrecknissen hervorragend herausmodelliert zu haben darf sich die Robert-Schumann-Philharmonie samit ihrem Dirigenten Niksa Bareza (der als 1936er Jahrgang ja selbst noch etwas vom Zweiten Weltkrieg mitbekommen haben dürfte) als großes Verdienst gutschreiben, wenngleich wie erwähnt die Relation zu Frieds Werk etwas in Schieflage bleibt. Vielleicht hätte man hier die Siebente spielen (die beschriebene Szenerie im ersten Satz hätte die Verhältnisse treffender abgebildet) und für die beiden anderen Kriegssinfonien Schostakowitschs (neben der Achten noch die ähnlich requiemhafte Neunte, entstanden 1945 und wiederum auf parteiinternes Unverständnis stoßend, warum es wieder keine große Siegessinfonie geworden war, wo man den Krieg doch gewonnen hatte) einen gesonderten Konzertabend ansetzen sollen. Betrachtet man aber die beiden Werke für sich, bleibt die Erinnerung an einen eindringlichen und hochklassigen Konzertabend mit einer interessanten Ausgrabung und einem reizvollen Wiederhören.



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