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Unbekannte deutsche Romantik   21.01.2007   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Archäologische Arbeit ist immer was Interessantes, und das trifft auf die reale Bedeutung des Terminus ebenso zu wie auf seine übertragene, die man beispielsweise im Kulturbetrieb finden kann. Auch der MDR geht im klassischen Musikbereich erfreulicherweise dieser Tätigkeit nach und hatte nunmehr drei Werke aus dem 19. Jahrhundert ausgegraben, die seinerzeit große Popularität genossen hatten, aber nach einigen Jahren oder auch Jahrzehnten der Blüte in den Archiven verschwunden waren. Den "test of time" hatten sie jedenfalls unterschiedlich gut bestanden, stellte sich nach den zwei Stunden im nicht ausverkauften, aber doch ordentlich besuchten Gewandhaus heraus. Was war passiert?
Heinrich Marschner gehört zu jenen Persönlichkeiten, die man im wesentlichen nur noch dadurch kennt, daß in vielen Städten eine Straße in einem im 19. Jahrhundert errichteten Stadtviertel nach ihm benannt ist. Dem ist in Leipzig nicht wesentlich anders, und dabei handelt es sich immerhin um Marschners Studienort, zudem die Stadt, in der der reichlich 30jährige Komponist seine ersten Operntriumphe feierte, nachdem seinem in Preßburg entstandenen Erstling "Der Kiffhäuser Berg" noch wenig Erfolg beschieden war (und er noch nicht ahnen konnte, mit seiner Orthographieversion Jahrhunderte später Anlaß zum Schmunzeln zu geben). Die Ouvertüre zu seiner Oper "Der Templer und die Jüdin" war 1829 bereits vor der Oper selbst im Rahmen eines Gewandhauskonzertes uraufgeführt worden, und ebenjene Ouvertüre hatte das MDR Sinfonieorchester nun auch wieder aufs Pult geholt. Sie erwies sich als wenig auffälliges, aber gut inszeniertes Stück Musik, das die dramatische Handlung in ihrer Abfolge schon etwas vorwegnimmt, die Höhen und Tiefen also ähnlich setzt wie die komplette Oper. Ob sich allerdings daraus die teilweise recht polternden Brüche erklären (die besonders im Schlußteil auffallen), muß offenbleiben - fest steht allerdings tatsächlich, daß Marschner als eine Art missing link zwischen den Opernansätzen Webers und Wagners durchgehen kann, denn während der erstere noch komplett handlungsbezogen polterte, erhob der zweitere das Gepolter teilweise zum Selbstzweck. Sollte darin der Grund gelegen haben, daß der feinnervige Robert Schumann Marschner als recht anstrengend empfand (auch menschlich übrigens), weil er ihn eben als missing link erkannte? Eine Frage, die offenbleiben muß - fest steht, daß die Ouvertüre für heutige Hörgewohnheiten recht unprätentiös daherkommt und einige nette Ideen enthält, aber kaum auffällt. Das Orchester musizierte solide, riß aber keine Bäume aus - nicht zuletzt eben, weil Marschner selten welche gepflanzt hatte.
Daß Joseph Gabriel Rheinberger nicht nur Komponist und Dirigent, sondern auch ein äußerst fähiger Organist war, dürfte bei einem Blick auf sein Werkeverzeichnis keine Überraschung sein. Der gebürtige Liechtensteiner, der als Zwölfjähriger nach München kam und bis zu seinem Tode dort aktiv bleiben sollte, hat 20 Orgelsonaten und zwei Orgelkonzerte hinterlassen (von der "kirchlichen Gebrauchsmusik" zu schweigen), und das zweite der Konzerte gab es an diesem Abend im Gewandhaus zu hören. Vergleicht man Rheinberger mit den spätromantischen Sinfonikerkollegen Bruckner und Mahler, fällt prinzipiell auf, daß er weniger experimentiert, daß er dem Mahlerschen strukturierten Chaos durchhörbarere Elemente entgegensetzt, die eher rückwärts in die Zeiten, als man sich noch nach den Regeln der Harmonielehre richtete, denn vorwärts in die Zeiten, als man jene Regeln genüßlich in alle Einzelteile zerlegte und selbige in mehr oder weniger wahllos wirkender Manier wieder zusammenbaute, weisen. Selbst der recht komplexe dritte Satz des 1894 uraufgeführten zweiten Orgelkonzertes wirkt eher leichtfüßig, zwar sinfonisch angehaucht, aber eleganter, zwar virtuoses Spielvermögen verlangend, aber nicht zum Selbstzweck vor sich herfrickelnd. Das Problem an diesem Abend war nun, daß man sich etwas Mühe geben mußte, um solcherart Tugenden herauszuhören, besonders in den ersten beiden Sätzen, denn da gab es zwei Problemfälle zu vermelden. Einerseits stimmte die voluminöse Relation zwischen Orgel und Orchester nur partiell. Zog der Erfurter Domorganist Silvius von Kessel am Spieltisch, den man gleich links hinter den Violinen parterre hingestellt hatte, nämlich nur gedackte Register, wurde er selbst durch zurückhaltendere Orchesterpassagen fast völlig verdeckt. Warf er dagegen einen Prinzipalchor an, hatte das Orchester wenig Chancen, sich irgendwie bemerkbar zu machen. Das nicht gelungene Zusammenspiel zwischen diesen beiden Komponenten manifestierte sich andererseits auch noch in etlichen ungenauen Einsätzen, die man am besten nachvollziehen konnte, wenn man auf das Einsetzen der Trompete und der Orgel achtete, von denen mal die eine, mal die andere einen Tick früher einsetzte (daß Rheinberger diese minimalen Verschiebungen als Stilmittel eingesetzt haben könnte, erscheint angesichts der Evolution der musikalischen Ideen sehr zweifelhaft). Skurrilerweise stimmte dann aber im dritten Satz nahezu alles: Orchester und Orgel harmonierten timingseitig wie eine Einheit, und selbst das Lautstärkeproblem wirkte irgendwie besser ausbalanciert - vielleicht hatten die Ohren aber auch nur 20 Minuten gebraucht, um sich auf die Kombination einzustellen und ihre Wahrnehmung zu schulen. Ein Phänomen, das sich nicht ganz klären lassen wird, das vielleicht auch auf verschiedenen Plätzen (der Rezensent saß links hinten auf der Saalempore) unterschiedlich ausgeprägt gewesen sein könnte. Den Pausenapplaus hatten sich sowohl Jac van Steen (richtig, genau der, der sechs Tage zuvor an gleicher Stelle am Pult des Bundesjugendorchesters gestanden hatte) und das Orchester als auch der Organist zumindest mit diesem prächtigen dritten Satz redlich verdient.
Nach der Pause hatte man die 3. Sinfonie von Louis Spohr auf die Agenda gehievt. Spohr besaß seine instrumentalen Meriten auf einem anderen Gebiet, denn er galt als Violinvirtuose, allerdings balancierte er die Sinfonie so aus, daß sie nicht zu einer reinen "Streichersinfonie" wurde. Das 1827/1828 geschriebene und 1829 auch schon zum ersten Mal in Leipzig aufgeführte Werk galt seinerzeit als Meisterstück der sinfonischen Ära jenseits von Beethoven, und überhaupt findet man Spohrs Namen sehr häufig auf den Programmzetteln der Gewandhauskonzerte jener Jahre und Jahrzehnte, bevor der langjährige Kasseler Hofkapellmeister vom Dunkel der Musikgeschichte verschluckt wurde. Nach dem Hören der 3. Sinfonie c-Moll weiß man auch, warum - der Grund ist der gleiche wie bei Marschner: Spohr war rückblickend betrachtet ein missing link, diesmal zwischen Beethoven und den großen spätromantischen Sinfonikern. Das waren zwar Schumann und selbst Mendelssohn strenggenommen auch, aber deren Werke hatten dann wieder andere Qualitäten (etwa die aus heutiger Sicht fast hittige Eingängigkeit von Mendelssohn), denen es Spohr gebrach; er schuf gut anzuhörende "Gebrauchsmusik", aber eben nichts "für die Ewigkeit". Der Gerechtigkeit halber darf man natürlich nicht zu erwähnen vergessen, daß diese "Gebrauchsmusik" durchaus viel Hörspaß macht, speziell im teilweise rasenden Finale, das vom Orchester auch mit der intendierten Lebendigkeit herübergebracht wird. Und da wäre ja auch noch das Beste am ganzen Werk, nämlich der Larghetto-Satz, ein einfach nur schönes Stück Musik, das den Begriff der Romantik auf seine heutigen Deutungen überzubinden scheint und zu dem man eigentlich nur noch bedingungslos und hingebungsvoll den Arm um die schöne Frau auf dem linken Nachbarsitz legen möchte. Das Orchester verdient sich ein Lob dadurch, daß es diese Idylle nicht durch allzu schmalzige Interpretation trübt, und so bleibt nach dem erwähnten Finale die Erkenntnis, einem guten und unterhaltsamen Konzert gelauscht zu haben, in dem man aber auch verstanden hat, warum manches Kulturerbe heutzutage präsenter ist und anderes weniger präsent. Allerdings hätte das Ganze doch etwas mehr Applaus verdient gehabt als den doch recht müde wirkenden des Publikums an diesem Abend - daß eine maximal halbe Kopfzahl sechs Tage zuvor beim Bundesjugendorchester deutlich lauter und ausdauernder applaudiert hatte, gab dann doch irgendwie zu denken.



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