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Capella Fidicinia   15.12.2006   Leipzig, Versöhnungskirche
von rls

Mit dem Weihnachtsoratorium von good old JSBach wird man in der Adventszeit allerorten bombardiert (jedoch nicht an den Tagen, für die dieses Kantatenwerk ursprünglich mal geschrieben worden war ...); schon etwas seltener ist die "Historia der Freuden- und Gnadenreichen Geburth Gottes und Marien Sohnes, Jesu Christi, 1664" zu hören, die von Heinrich Schütz stammt, gern apostrophiert als "Vater der deutschen Musik", wiewohl Lateinkundige behaupten, daß dies falsch übersetzt sei und eigentlich "Vater der deutschen Musiker" heißen müsse, was wiederum inhaltlich die zweifelhaftere der beiden Versionen wäre, denn einen umfangreichen Lehrbetrieb hatte Schütz nicht aufgezogen, wie er ihn aus seiner eigenen Lehrzeit bei Giovanni Gabrieli in Venedig von 1609 bis 1613 kennengelernt hatte (wer hier übrigens die Sache mit der "deutschen Musik" anzweifelt, dem sei gesagt, daß Giovanni Gabrieli unter den italienischen Komponisten der damaligen Zeit derjenige war, der die deutschen Tugenden wie Ordnung und Klarheit am intensivsten in sein Schaffen einfließen ließ und nicht zuletzt deshalb von zahlreichen Kompositionsschülern aus dem nordeuropäischen, speziell deutschen Raum aufgesucht wurde - und ganz nebenbei bemerkt hatte wiederum Gabrieli seine Lehrzeit in Deutschland verbracht, nämlich von 1575 bis 1579 in München, wo Orlando di Lasso der dortigen herzoglichen Hofkapelle vorstand). Die Datierung der Schützschen Weihnachtshistorie, die o.g. Titelzitat verrät, sagt dem Kundigen bereits, daß es sich um ein Spätwerk des Meisters handelt, der exakt 100 Jahre vor JSBach geboren worden war, mithin anno 1664 bereits 79 Jahre zählte und, nachdem er sich aus dem offiziellen Hofdienst in Dresden hatte zurückziehen dürfen, offensichtlich Zeit und Muße hatte, einige ihm besonders am Herzen liegende Projekte zu realisieren, zu denen er in den vorherigen Jahrzehnten entweder amtsbedingt nicht die notwendige Zeit oder kriegsbedingt nicht die notwendigen Ressourcen zur Verfügung hatte. Eines dieser Projekte ist nun also die besagte Weihnachtshistorie, und die hatte sich die Capella Fidicinia auf die Agenda mehrerer Konzerte in der Adventszeit 2006 gesetzt.
Nun ist Heinrich Schütz für die Capella Fidicinia keineswegs Neuland. Schon der langjährige Leiter Hans Grüß hatte Schütz-Werke mit dem Ensemble einstudiert (nachzuhören auch auf diversen Eterna-Schallplatten und re-releast beispielsweise auf der Berlin Classics-CD "Weihnachtliche Chormusik"), und so begab sich der aktuelle Ensemblekopf Martin Krumbiegel (richtig: ein Sproß der vielgestaltigen Leipziger Musikerfamilie, die u.a. auch den Prinzen-Frontmann Sebastian Krumbiegel hervorbrachte) nicht auf dünnes Eis, als er die Weihnachtshistorie ins Programm hievte. Diese hat nur den einen Nachteil, daß sie, um allein ein Konzertprogramm füllen zu können, dann doch etwas kurz ist, so daß man sich etwas einfallen lassen mußte. Die Kreativabteilung hatte mehrere gute Ideen und auch eine nicht so gute, so daß das Programm letztlich immerhin einen Zeitraum von mehr als 1600 Jahren umspannte. Man eröffnete mit "Veni, redemptor gentium" von Ambrosius von Mailand, einem frühchristlichen Gesang aus dem 4. Jahrhundert, und ging beinahe nahtlos in das Lutherlied "Nun komm, der Heiden Heiland" über, was gleich mal für die erste und gelungene Überraschung sorgte. Luther hatte den Text in seiner Grundstruktur von Ambrosius übernommen, aber neue Musik dazu geschrieben, wobei er auf musikalische Einfälle des 12. Jahrhunderts zurückgriff - und deren Tonsprache paßte so gut zum ambrosianischen Hymnus, daß man das komplette Geistliche Konzert "Nun komm, der Heiden Heiland" von Johann Hermann Schein brauchte, um dieser Überraschung Herr zu werden, zumal Schein 100 Jahre nach Luther die Zeilen des Lutherliedes übernommen und zwischen diese jeweils eine konzertante Verarbeitung gesetzt hatte, die sich ebenfalls prächtig ins Gesamtbild einfügte. Ein Auftakt nach Maß also, was das Konzeptionelle anbelangte - aber auch einer, der schon das größte Manko des Abends deutlich machte: Die schwierige Kirchenakustik wirkte sich nicht selten sabotierend auf die Bemühungen der Sänger aus. Dazu unten noch mehr.
Der Boden für die Ausrollung von Schütz' rotem Teppich in den Stall nach Bethlehem war also bereitet. Die Weihnachtshistorie zeichnet sich durch eine klare Struktur aus: Der Evangelist rezitiert im Tenor die relevanten Bibelstellen (oder diesen unmittelbar nachempfundene Deklamationen - als Vorlage wurden Lukas und Matthäus herangezogen), und unterbrochen wird das Ganze durch Intermedien, in denen die weiteren Personen ihre Auftritte haben, also das komplette weihnachtliche Personal von den "Fürchtet euch nicht"-Engeln bis hin zu Joseph, dem wiederum ein Engel seine Translokationsrouten bekanntgibt. Unwillkürlich zieht man Vergleiche mit JSBachs Oratorium und stellt fest, daß Bach die Struktur zwar aufgeweicht, aber doch noch erkennbar übernommen hat, wenngleich er in den "Intermedien" (die bei ihm natürlich nicht mehr so heißen) eine deutlich größere Vielfalt an den Tag legt. Immerhin aber hatte schon Schütz selbst den Kapellmeistern seiner Zeit eine gewisse Freiheit bei der Gestaltung der Intermedien gestattet, und diese haben sich Martin Krumbiegel und sein Ensemble auch zu Herzen genommen, indem sie die Historie an vier Stellen unterbrachen und weitere Werke einschoben. Das war also die nächste Überraschung im Programm, und zwar eine mit geteiltem Erfolg. Die ersten drei eingeschobenen Werke stammten nämlich ebenfalls von Schütz (zwei sechsstimmige Motetten aus der "Geistlichen Chor-Music, 1648" und ein Geistliches Konzert für Sopran, Tenor und Basso continuo aus dem Jahre 1639) und hatten auch thematisch einen Bezug zu Weihnachten als der Geburt des Erlösers - sie paßten somit perfekt ins Programm. Das konnte man vom vierten Werk nun ganz und gar nicht behaupten. Mit diesem spannte sich der zeitliche Bogen nämlich bis in die jüngste Vergangenheit, und das einzige, was Reinhard Pfundts Kleines geistliches Konzert für Bass, Violine, Zink und Orgel (das an diesem Abend seine Uraufführung erlebte) im Programm hielt, war die Tatsache, daß die vier benötigten Instrumente bzw. Gesangsstimmen eben zufällig gerade anwesend waren. Eine weihnachtliche Thematik war völlig unerkennbar (zumindest was den Text angeht, denn der stammt aus dem im Evangelischen Gesangbuch unter Nummer 361 zu findenden Paul-Gerhardt-Lied "Befiehl du deine Wege"), und Pfundts moderne Tonsprache paßt zu der Schützschen ungefähr so gut wie Sauerkraut zur Vanillesoße, was zumindest auch ein Teil des Publikums so sah, denn da gab es doch nicht selten ungläubiges Köpfeschütteln zu sehen, und der Beweis am Applausometer konnte nur deshalb nicht angetreten werden, weil das Programm komplett ohne Pause durchlief. Zumindest vom einmaligen Hören her gibt Pfundts Komposition aber auch dann, wenn man sie ohne den deplazierten Kontext im Rahmen dieses Konzertes betrachtet, keinen richtigen Grund zu überschwenglicher Freude, hat man doch nicht selten den Eindruck, daß alle vier Beteiligten fröhlich aneinander vorbeimusizieren, bis sie in wenigen wirklich gelungenen Momenten dann doch mal kurz zu einem harmonischen Miteinander finden, das gewollt und nicht zufällig erscheint. Wenn man aber die Idee, den Orgelpunkt warm auslaufen zu lassen, nachdem die anderen drei schon schweigen, als ideentechnischen Höhepunkt der Komposition bezeichnen muß, liegt das eine oder andere schon im Argen, und wären da nicht die erwähnten wirklich gelungenen Momente gewesen, der Rezensent hätte sich eher an die Anekdote eines bekannten Organisten und Pianisten erinnert gefühlt, der bei einer Radio-Liveübertragung einer Schönbergschen Kammermusiktrio-Komposition so fürchterlich mit seinen beiden Kollegen auseinandergeriet, daß sie bis zum Schluß nicht wieder zueinanderfanden - mit Schweißperlen auf der Stirn erwarteten sie die Reaktionen, bekamen aber überraschenderweise das Feedback, daß das Stück ja sehr interessant, nur halt etwas kompliziert strukturiert gewesen sei ... Wie gesagt: Bei Pfundts Werk kann man das so nicht replizieren, denn ansonsten wären ja auch die gelungenen "Treffpunkte" nicht zustande gekommen, und da es das erste Mal ist, daß der Rezensent ein Werk von ihm hörte, kann auch keine Einordnung in den Schaffenskontext vorgenommen werden. Trotzdem: Ein großer Wurf sieht anders aus, und wie gesagt: Der Kontext dieser Uraufführung hätte unglücklicher nicht gewählt werden können. Falls es unter der Oberfläche noch Faktoren gegeben haben sollte, die sich dem Rezensenten wie auch dem anderweitig normal veranlagten Hörer nicht erschlossen haben, bittet er herzlich um Entschuldigung und für diesen Fall dann um vielleicht eine Erläuterung im Programmzettel - der vorliegende gibt nämlich diesbezüglich keine Informationen preis und wäre auch noch mit den SWV-Nummern der gespielten Werke sinnvoll ergänzbar gewesen (amüsanterweise hat man auch die Weihnachtshistorie virtuell gekürzt, weil der Zettel sonst nicht gereicht hätte - so fielen das letzte Intermedium und das letzte Rezitativ weg, die die gleichen Titel wie ihre unmittelbaren Vorgänger aufweisen; gesungen bzw. gespielt wurden sie aber natürlich).
Bildete das Pfundt-Werk den einen großen Problemfall des Abends, so stellte wie schon erwähnt die Kirchenakustik den anderen dar. Die Sänger standen schon erhöht hinter den Instrumentalisten, die Instrumentalisten waren kopfzahlseitig allenfalls durchschnittlich besetzt, spielten keine überlauten Instrumente und hielten sich mit diesen auch noch so weit wie möglich zurück - und dennoch schafften es die Sänger nicht, sich akustisch so viel Raum zu verschaffen, wie es wünschenswert gewesen wäre. Man mußte sich also bisweilen sehr anstrengen, um die wirklich guten Gesangsleistungen durchhören zu können, und vor allem um die Sopranparts beispielsweise in der Verkündigungsszene war es richtig schade. Nur einer blieb die ganze Zeit hindurch richtig gut vernehmbar, und das war Martin Krumbiegel selber. In seinen Rezitativ-Tenor-Partien stellte das kein Kunststück dar, denn da lag nur ein leichter Basso continuo drunter, aber sein voluminöser Tenor dominierte beispielsweise auch das deutlich kräftiger unterlegte Geistliche Konzert von 1639. Allerdings rechtfertigte er seine akustisch hervorgehobene Position auch mit einer sehr guten Gesangsleistung, zudem rochierte er geschickt zwischen Dirigentenpult, Sängerreihe, Solistenposition und Rezitativstandort, so daß trotz dieser multiplen Belastung keine Lücken im Programm entstanden. Die Instrumentalisten leisteten durchweg solide Arbeit, keiner spielte sich in den Vordergrund, was in diesen Schützschen Werken auch nicht intendiert ist. Und dafür, daß die Kirchenakustik sie dann doch zu weit in den Vordergrund stellte, können sie ja nichts. Wenn man sich Mühe gab, konnte man mit gutem Willen alle relevanten Linien auch der Sänger heraushören (und sich da an starken Leistungen erfreuen - die "gehackten" Parts im Geistlichen Konzert von 1639 möchte ich nochmal bei gutem Sound hören), und so gibt es letzten Endes doch genügend Gründe, das Konzert als insgesamt gelungen einzustufen, was auch das fleißig applaudierende Publikum in der vielleicht zu einem Viertel gefüllten Kirche (das ist angesichts ihrer Größe und des veranstaltungstechnischen Overkills in einer Musikstadt wie Leipzig in der Vorweihnachtszeit schon ein sehr gutes Ergebnis) unterm Strich so sah, denn spätestens der bombastische Schlußdankespart der Weihnachtshistorie (wo es auf Einzelwirkung nicht mehr ganz so ankommt) hatte alle versöhnt.



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