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Sielos 2005 Jugend-Musikfestival   19.11.2005   Klaipeda (LIT)
von Ulrich Thiem

"Europa, oben rechts"; reizvolles Baltikum - eine Gegend, die ich indirekt durch Ciurlionis, durch Grass, Bobrowski und S. Lenz kennen gelernt hatte. Wie gern nahm ich die Einladung an, dorthin zu fahren, zu dem Christlichen Jugend-Musikfestival "Sielos (Seele) 2005" in Klaipeda! Außer uns, BACH & BLUES (in der Besetzung Annette Roth, Violine und Ulrich Thiem, Cello) war die Band Lightguide, ebenfalls aus Dresden, dorthin eingeladen, allerdings flogen wir nicht zusammen. Aber wir hatten dann eine gemeinsame Unterbringung unterm Dach im Gemeindezentrum der Baptisten Klaipedas (betont wird die erste Silbe), die ihre alte Kirche 1991 zurückerhalten hatten. So wie dieser 125 Jahre alte Bau waren auch die anderen Kirchen nach der Wende in der Sowjetunion zurückgegeben worden wie z.B. die katholische Kirche, in fast fertigem Zustand vom Stadtsowjet konfisziert und dann zum Konzertsaal ausgebaut, nachdem die beiden Priester wegen Sabotage oder sonstiger imperialistischer Machenschaften für 10 Jahre ins Gefängnis gekommen waren ...
Das Festival wechselt innerhalb Litauens von Stadt zu Stadt; 2005 war es in Klaipeda, in einem neu gebauten, von einem Ehepaar aus Kanada gestifteten Christlichen College. Dieses sieht sich als "Christliche Universität", ist wohl die einzige weltweit und wurde 2000 eröffnet. Neben den Büros und Studien-Sälen gibt es ein extra Gebäude mit der Kantine, einem Fitnessraum und einem Mehrzwecksaal mit ca. 300 Sitzplätzen, in dem das Festival stattfand.
Das Musik-Fest umfasste den Auftritt von etwa 40 Gruppen (vom Solo bis zu 15 Mitwirkenden), die ab Vormittag je 10 Minuten Zeit zum Soundcheck hatten, ebensoviel wie dann nachmittags/abends während der Kurzkonzerte. Schon wenn man nur die Liste der (m.E. viel zu vielen) Mitwirkenden las, war zu erwarten, dass der Zeitplan nicht eingehalten werden konnte. Das Konzert, das gleichzeitig ein Wettbewerb um den Preis einer CD-Produktion war, konnte nicht um 16 Uhr beginnen, weil alle Gruppen ihre Soundcheck-Zeiten überzogen hatten ..., und erst nach 16.30 Uhr wurden dann die geduldigen, fröhlichen Gäste hereingelassen. BACH & BLUES war als Beginn des Konzertes angesetzt - wir fanden das durchaus unserer Musik entsprechend: Klassische Wurzeln der Musik am Anfang des Konzert-Marathons mit Violine und Cello, hinübergehend zu Blues-Jazz. Man hatte wohl von uns eher seriösen und nicht mehr ganz jungen Streichern (ich bin 53) ausschließlich Klassik erwartet, so dass das jugendliche Publikum schon beim zweiten Kurz-Stück johlte, als es unerwarteterweise immer fetziger wurde, und am Schluss wollten die "wowwows" gar nicht enden. Unser Auftritt war die klassischste Klangfarbe des gesamten Musik-Geschehens, das allerdings schon sehr unterschiedliche Handschriften aufwies. Da waren die typischen Liedermacher zu hören, Flamenco-Gitarristen, große und kleine Chöre, Heavy Metal, Showtanz-Gruppen, Saxophon, Rap, Gitarren-Rock, oftmals auch mit Keyboards, erstaunlich viele Solosänger(innen) mit Playback, Geige, Sacro-Pop, Akkordeon, ungesunde Phon-Zahlen bei einem allerdings ziemlich guten Sound und sehr viel - ja, seichter Kitsch. Das muss aus deutscher Sicht einfach so gesagt werden. Aber dafür gibt es ja die echten Unterschiede zwischen den Mentalitäten der Völker, insofern ist das also nur eine Feststellung, kein schlechtes Qualitätsurteil. Den Abschluss in tiefer Nacht bildete der Auftritt von Lightguide, sympathischen, freundlichen Jungen, die einen angenehm-weichen menschlichen Eindruck, dann aber sehr harte Musik machten. (Das ist für uns als Eltern-Generation ein echter Widerspruch, aber dafür sind wir wohl doch einfach zu alt, so wie wir auch annehmen und akzeptieren, dass mancher junge Zuhörer zu unserer Musik keinen Zugang findet.) Alles war recht gut organisiert - außer der knappen Zeit zum Soundcheck sowie dem schlecht bemessenen Gesamt-Ablauf/selbstdarstellerischer Überziehung des Limits. Der Start und das Ende mit uns Gästen aus Dresden war sinnvoll geplant, die Anlage hatte eine gute Klangqualität, und erstaunlich war das westliche Equipment der Gruppen.
Das alles fand übrigens beim Einbruch des diesjährigen Winters statt, der manchen unfreiwilligen Rutscher im Schneematsch zur Folge hatte. So blieb man lieber in der Kantine, wenn man seine Ohren mal etwas ausruhen lassen wollte, denn draußen war es feucht, unwirtlich geworden. Ganz diszipliniert wurde drinnen nicht geraucht, es gab keinen Alkohol.
Am nächsten Morgen waren wir in die (sehr gut besuchte) lutherische Kirchgemeinde zur Mitgestaltung des Gottesdienstes eingeladen. Dieser wurde mit mehr als 2 Stunden zum längsten meines Lebens: Nach einer langen Predigt und unseren Musik-Stücken sowie den Liedern des Chores das Verlesen der Verstorbenen des zu Ende gehenden Kirchenjahres und dann Abendmahl mit voller Liturgie ... Das von uns erbetene Kurzkonzert (im sofortigen Anschluss) schmolzen wir daraufhin zusammen auf 1 Stück von J.S.Bach; denn offenbar sah man den Gottesdienst dort mehr als Hort der Traditionen-Pflege als den einer zeitgenössischen Auseinandersetzung ...
Bemerkenswert waren die doch recht zahlreichen deutschen Namen beim Verlesen der Verstorbenen. Im kleinen Kreis bekamen wir auf unsere Anfrage dann vom Geschäftsführer des "Vereines der Deutschen in Klaipeda/Memel" eine hochinteressante Geschichtslehrstunde über Litauen nach dem 2. Weltkrieg. So wurde uns u.a. berichtet, dass Litauen heute zu 90% katholisch ist und der Anteil der (fast ausschließlich deutschstämmigen) Lutheraner nur 1% beträgt. Diese sind als Preußen bzw. Hugenotten (also Franzosen, die während der Gegenreformation von Preußen aufgenommen worden waren) vor ca. 250 Jahren dorthin gekommen und haben die Geschicke des Baltikums seither maßgeblich mitbestimmt. So nimmt es nicht wunder, dass die großen Städte, wie auch die Hafenstadt Klaipeda mit ihren 10 km Hafenanlagen und bemerkenswerten Speicherbauten in Fachwerkbauweise ein deutlich mitteleuropäisches Antlitz haben. Diese Städte werden seit der Wende mit hohem Maßstab und stolz herausgeputzt - auf Kosten der ländlichen Gegenden in der schier endlosen Ebene, die leider einen deprimierenden, weil sehr post-sowjetischen Eindruck des Verfalls macht. Aber man spricht oft darüber, seit Mai 2004 in der EU zu sein und jetzt erst richtig und hoffnungsgetrieben anpacken zu können ...
Man gewinnt insgesamt den Eindruck, dass die Litauer stolz und selbstbewusst, aber nicht nationalistisch sind. Eindeutig, aber ohne Hast auf einem westlichen Weg, haben sie sich von ihrer russischen Vergangenheit, die ohnehin nicht so stark ins Gewicht fällt wie in Lettland oder gar in Estland, offenbar sehr schnell gereinigt: Mit niemandem war russisch zu reden, und alles Sowjetische ist außer den unvermeidlich hässlichen Wohn- und Industriebauten irgendwie getilgt. Die meisten Jugendlichen sprechen ein erstaunlich flüssiges Englisch, einige auch etwas deutsch.
So haben wir nicht nur ein Stück Mitteleuropa bzw. deutsche Kultur dort präsentieren dürfen, sondern auch ein gutes Stück Geschichtsunterricht genossen und auch Bescheidenheit gelernt.
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