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All Freaks-Tour mit Alev, Kaminari, Bionic Angel, Kill The Audience   03.11.2004   Leipzig, Moritzbastei
von rls

Unter dem All Freaks-Banner läuft eine Aktion von und mit Nachwuchsbands aller Coleur, die sich gegenseitig unterstützen und auch von diversen Partnern in der Musikindustrie supportet werden. Oben genannte vier Bands zogen in diesem Rahmen also einige Wochen quer durch die Clubs von Deutschland und machten an einem angenehm lauen Mittwochabend im November (keine Alltäglichkeit in diesem Monat - zum Reviewzeitpunkt wenige Tage später ist der erste Schneefall auch im Tiefland schon zu registrieren gewesen) in Leipzigs Moritzbastei Station.
Als ich mit einiger Verspätung in der Lokalität ankam, hatten Kill The Audience offenbar ihrem Namen schon alle Ehre gemacht, denn in der großen Veranstaltungstonne tat sich gähnende Leere auf, und ein guter Teil der wenigen an den Wänden lehnenden Menschen bestand aus Musikern der anderen Bands. Gut, so schlecht waren Kill The Audience nicht, allerdings sollen sie einer Aussage des Sängers kurz vor Gigende zufolge normalerweise anders klingen. Neben besagtem Sänger standen an diesem Abend noch ein Akustikgitarrist, ein Akustikbassist (!) und ein Samplerbediener auf der Bühne. Im Gesamtergebnis zeigte sich dann irgend sowas Ähnliches wie Gothic, den der Sänger durch genretypischen Klagegesang zu prägen versuchte, was ihm aber aus mehreren Gründen nicht gelang. Einerseits hatte er eine zwar keineswegs schlechte, aber doch reichlich austauschbare Stimme, und andererseits fehlte es den Songs deutlich an Wiedererkennungseffekt, an eigener Identität und an großen Melodien. Daß der einzige Song, welcher im Gedächtnis haften blieb, ausgerechnet das Depeche Mode-Cover war, spricht nicht unbedingt für Kill The Audience. Wenn die Saitenfraktion dann doch ab und zu mal eine schöne Harmonie zustandebrachte, konnte man sicher sein, daß die Computerdrums jeglichen Anflug von Emotion schnell wieder negierten. So blieben diesbezügliche Wohlfühlergebnisse auf die ohne rhythmischen Background vorgetragenen Werke beschränkt. Von Stil und Umsetzung her hätten Kill The Audience in der Inkarnation dieses Abends vermutlich eher aufs Wave Gotik Treffen gepaßt; mir jedenfalls war die Tatsache, daß ich aufgrund meines Zuspätkommens nicht den ganzen Gig sehen mußte, ganz recht, und auch die spärliche weitere Bevölkerung der großen Tonne spendete nur Höflichkeitsapplaus.
Ein gutes Stück voller wurde es bei Bionic Angel, was auch dem geschickten Schachzug der Laufwege in der Moritzbastei zu verdanken war - der Weg vom oberen zum unteren Discofloor, die sich im Verlaufe des Abends beide zu füllen begannen, führt nämlich durch die große Tonne, so daß über die Zeit hinweg doch der eine oder andere Interessent in der Tonne "hängenblieb". Nicht-Kenner von Bionic Angel (wie der Rezensent) wußten bei den ersten Songs noch nicht hundertprozentig, was sie vom symbolischen Mummenschanz des Quintetts halten sollten, bis bei den ersten Ansagen des Sängers der parodistische Aspekt im Black Metal der Band eindeutig hervortrat. Die selbsternannte "satanischste Gay-Band" orientierte sich musikalisch etwas an Samael oder verwandten Combos, die mit einer rhythmischen Kälte als Stilmittel spielen und einigen Passagen daher etwas Maschinenhaftes verleihen, wenngleich bei Bionic Angel ein menschliches Wesen trommelte und mir immer dann am besten gefiel, wenn dieses maschinelle Element zugunsten von etwas Abwechslung und dem einen oder anderen Break zurückgefahren wurde. Der Keyboarder wiederum parodierte Janne Wirman von Children Of Bodom, der bekanntermaßen ein Keyboard mit einer hochgeklappten, also durch Druck nach hinten spielbaren Tastatur verwendet, damit die Leute im Publikum auch schön sehen, was für aberwitzige Läufe er da spielt. Der Bionic Angel-Keyboarder hatte dieses Merkmal manualisiert - er kippte sein Instrument immer mal nach vorn, hielt es dann mit einer Hand fest, damit es nicht umfiel, und demonstrierte die einfach gestrickten einhändigen Klangteppiche, die er mit der freien Hand spielte. Den Aktivposten auf der Bühne bildete der in ein auffälliges Gewand (eine Mischung aus Rocker und Muezzin) gehüllte Sänger, der auch vokalistisch mit vielseitigen Artikulationen zwischen Gebrüll, Geschrei und Gesang zu überzeugen wußte. Das nur ausnahmsweise über Midtempo hinausgehende Songmaterial, das einem pseudosakralen Intro folgte, blieb allerdings auch bei Bionic Angel einer der Schwachpunkte des Gigs - es war relativ unauffällig und hinterließ zumindest nach einmaligem Hören keinen bleibenden Eindruck. Trotzdem wurde die Band recht gut beklatscht.
Kaminari bildeten den eigentlichen Anlaß meiner Anwesenheit und wurden der Erwartungshaltung, die sie bei mir mit ihrem gutklassigen Debütlongplayer "Faraday's Daydream" (dessen Material selbstredend den Set dominierte) ausgelöst hatten, durchaus gerecht. Der traditionsbewußte Sound des Quintetts pflügte irgendwo in der Nähe von Sinner (vor 1998!) das Hardrockfeld, wohingegen ich mich mit der Umschreibung "rockige Variante von Iron Maiden" nicht so recht anfreunden kann, wenngleich es im Sound durchaus einige NWoBHM-Anklänge festzuhalten gibt, andererseits aber auch klitzekleine Schieler zu den ganzen The-Bands der Jetztzeit, mit denen die Band aber ansonsten nicht viel gemeinsam hatte - zumindest könnten die Mitglieder fast deren Väter sein und sind außerdem technisch viel zu gut. Mit Gitarrist Bernd hatten Kaminari den wohl besten Musiker des ganzen Abends in den Reihen, der sich auch gerne beim oft gepflegten, aber nicht überstrapazierten Tapping zusehen ließ und mit seiner phantasievollen Soloarbeit auch aus dem einen oder anderen durchschnittlicheren Song noch ein kleines Kunstwerk zu machen imstande ist. Sänger Bobbes wußte mit seiner flächig-angerauhten Stimme ebenfalls zu überzeugen (die leichten Schwierigkeiten im Finden der Idealmelodielinie in Relation zum musikalischen Unterbau, die das Studiomaterial verriet, fielen live wenig ins Gewicht), das Publikum versetzte die Stimmung von Bionic Angel aufs nächsthöhere Level, und so stellten Kaminari bis dahin die Gewinner des Abends dar.
Aber da waren noch Alev. Die erste Minute des Sets ließ bitterbösen Industrial-Lärm vermuten, bevor sich das Bild schrittweise zu klären begann, sowohl musikstilistisch als auch soundlich. Letzteres war leicht: Der Soundmensch drehte die extrem dominante Snare schrittweise etwas herunter (wenn auch nicht bis auf das wünschenswerte Maß - ich stand nur etwa einen oder zwei Meter vor ihm, hatte also die gleichen akustischen Verhältnisse wie er). Dagegen versagen im Falle von Alev gängige Stilschubladen (außer so allumfassenden wie "Crossover" oder "Alternative"). Man stelle sich also die Guano Apes vor, dichte ihnen an, sie seien sowohl Metalfreaks als auch Anhänger von Pink Floyd - das ergibt als Schnittmenge ungefähr Alev. Träumerische Wegschwebeparts wechselten sich also ab mit bombastischen Metalattacken und hüpfkompatiblen Grooves, bei denen selbst der Rezensent nur mit äußerster Mühe auf dem Boden bleiben konnte und diesen Versuch schließlich ganz bleiben ließ. Daß es mir auch hier schwerfällt, mich Tage nach dem Gig noch an einzelne Songs zu erinnern, mag in diesem Fall deren Komplexität geschuldet sein, die aber erstaunlicherweise nicht zu schlechterer Live-Nachvollziehbarkeit führte. Dazu hat die Band in Gestalt von Alev Lenz ein absolutes As im Ärmel: Die kleine Sängerin wirbelte nicht nur wie ein Samum über die Bühne, sondern sang trotz aller Bühnenaktivität selbst schwierige Passagen (derer es im Material nicht wenige gab) ohne Probleme, einen Song anstelle im dominanten Englisch auch mal in Türkisch intonierend. Daß sie auch noch klasse aussieht, sollte der Vermarktbarkeit der Band (im positiven Sinne gemeint) nicht abträglich sein, und sie schaffte es sogar, dem US-Wahlsieg von George W. Bush noch etwas Positives abzugewinnen: "Dann gehen uns wenigstens die politischen Themen, über die wir singen können, nicht aus!" Das Publikum belohnte die reife Leistung von Alev mit enthusiastischem Applaus und zeigte sich lediglich enttäuscht, daß ob des fortgeschrittenen Zeitpunktes (auch die große Tonne sollte noch in die Disconacht integriert werden) keine Zugabe mehr gespielt werden durfte. Trotzdem: Alev waren ein Erlebnis, und wenn ich nicht grundsätzlich nicht wetten würde, dann würde ich wetten, daß die Band richtig groß werden kann. Solche Bands zu entdecken und zu fördern, dafür ist ein Projekt wie All Freaks da, und solche Bands wird auch CrossOver weiter mit offenen Ohren begleiten.



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