www.Crossover-agm.de Rockmusik. Zur Ästhetik und Soziologie eines Massenmediums
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von Peter Wicke

Scheinwerferbatterien reißen in vielfarbigem Licht die Band aus dem Dunkel der Bühne, die Halle erzittert unter dem tosenden Lärm der Fans, während der Sänger an die Rampe tritt und zum stampfenden Rhythmus des Schlagzeugs die Musik beginnt ... Szenenwechsel: Zwischen den flackernden Lichteffekten in einer Diskothek die Schatten frenetisch tanzender Jugendlicher, die Lautstärke ist ohrenbetäubend, nichts stört die Hingabe an die Musik, unerschöpflich scheint die Energie, die die Körper in Bewegung hält ... Und noch einmal Szenenwechsel: Unter den dröhnenden Kopfhörern einer Stereoanlage ein Vierzehnjähriger, die Augen geschlossen, die ihn umgebenden Wände des Zimmers von oben bis unten mit Postern und Aufklebern tapeziert, auf dem Plattenteller dreht sich eine Schallplatte, nur ein leichtes rhythmisches Wiegen des Oberkörpers verrät die selbstvergessene Anteilnahme an dem, was über Stecker und Kabel zu ihm dringt ...

Rockmusik — wer kennt sie nicht, diese Bilder jugendlicher Fans, die unablösbar mit ihr verbunden sind. Doch was steht eigentlich hinter ihnen; was macht die Faszination dieser Musik aus, die sich in solchen und ähnlichen Bildern spiegelt? Welche Wirklichkeitserfahrung steckt in ihr? Welche Bedeutungen und kulturellen Werte sind in die motorisch hämmernden Rhythmen, die oft schrillen Klänge eingeschlossen, werden über die Songs an ein Massenpublikum weitergegeben?

Dieses Buch ist der Versuch einer Antwort darauf. Es will den sozialen und kulturellen Ursprüngen der Rockmusik nachgehen, um die Zusammenhänge zu rekonstruieren, in denen sich ihre so verschiedenartigen Spielweisen entfaltet haben, zum Träger jeweils spezifischer Bedeutungen geworden sind, Werte verkörpern, die tief in die Lebensverhältnisse ihrer jugendlichen Fans hineinreichen. Es geht darum, jene Schichten dieser Musik freizulegen, die hinter der Oberfläche der klanglichen Erscheinung, hinter ihren Stilformen und Spielweisen verborgen liegen, ihnen Sinn geben und sie verstehbar machen. Platten und Songs sind keine isolierten Objekte; sie sind vielmehr die Symptome eines übergreifenden kulturellen Gesamtzusammenhangs, der den sozialen und politischen Verhältnissen ebenso geschuldet ist wie den jeweils besonderen Lebensbedingungen ihrer Hörer. [...]

Nichts hat die Massenkultur des zwanzigsten Jahrhunderts einschneidender verändert als seinerzeit der kometenhafte Aufstieg der Beatles. Gegenwärtig gehören etwa achtzig Prozent der auf Tonträgern veröffentlichten und verbreiteten Musik im weitesten Sinne der einen oder anderen Spielart der Rockmusik an. Allein in England und den USA, ihren klassischen Ursprungsländern, erscheinen jährlich zusammengenommen etwa zehntausend Singles und achttausend LP-Produktionen in diesem Bereich; bei angenommenen zehn Titeln pro Langspielplatte also insgesamt etwa einhunderttausend Songs in jedem Jahr. Die Rock'n'Roll Show "Aloha From Elvis In Hawaii" mit Elvis Presley wurde im Januar 1973 aus dem International Center in Honolulu durch das Fernsehen über Satellit weltweit ausgestrahlt und hat nach Schätzungen von Demoskopen etwa ein Drittel der Weltbevölkerung erreicht. Nahezu zwei Milliarden Zuschauer in 150 Ländern der Erde soll die Satelliten-Übertragung des sechzehnstündigen Doppelkonzens "Live Aid" am 13. Juli 1985 aus dem Wembley-Stadion in London und dem John-F.-Kennedy-Stadion in Philadelphia, mit Originaleinspielungen aus Sydney, Moskau, Tokio, Peking, Köln und Wien, vor den Fernsehschirmen vereinigt haben. [...] In der Rockmusik nur eine exklusive "Jugendmusik" sehen zu wollen, die allein mit der Phase des Heranwachsens verbunden ist, zielt deshalb am Problem vorbei, selbst wenn Jugendliche als die Altersgruppe mit dem intensivsten Umgang an Musik die zentrale Bezugsgruppe bilden. Schon durch das quantitative Schwergewicht in den Gesamtrelationen der zeitgenössischen Musikproduktion setzt die Rockmusik Bedingungen und hat kulturelle Auswirkungen, die sie zum Symptom von viel weiterreichenden und grundsätzlicheren Veränderungen der Musikkultur werden lassen. Damit gilt es, in ihr die Perspektiven einer Entwicklung zu sehen, die zwar ignoriert oder sogar zu bekämpfen versucht werden kann, mit Sicherheit aber nicht aufzuhalten sein wird. Aus der Verbindung von Musik, Show, Licht, Poesie, Politik und neuerdings auch Video ist hier eine Kunstpraxis entstanden; die auf der Grundlage der Technologie moderner Massenkommunikation auch ein neuartiges künstlerisches Selbstbewußtsein geltend macht, das mit dem bloßen Hinweis auf den vermeintlichen musikalischen und inhaltlichen Nonsens kommerzieller Geschäftstüchtigkeit jedenfalls nicht zu erledigen ist. Vielmehr gehört es zu dessen Besonderheit, daß es sich auf die technischen und ökonomischen Bedingungen der von den Medien organisierten kulturellen Massenprozesse kompromißlos einläßt und darin selbst zum Medium wird Rockmusik ist ein Massenmedium, durch das hindurch kulturelle Werte und Bedeutungen zirkulieren, soziale Erfahrungen weitergegeben werden, die über ihre klingende Materialität weit hinausgehen. Die "Inhalte" von Rocksongs sind nicht reduzierbar auf das, was unmittelbar erklingt oder gar in der verbalen Textaussage zum Ausdruck gebracht scheint. Für ihre Hörer ist das nur das Medium, von dem sie selbst aktiven Gebrauch machen, es in den Zusammenhang ihrer Lebensverhältnisse integrieren, darin als Symbol einsetzen, das ihre eigenen Erfahrungen öffentlich macht. Wie bei einem Puzzle, wo jedes Einzelstück nur zum Teil durch seine Form und seine Gestalt definiert ist, in gleichem Maße auch durch den gesamten Bildkontext und seinen Platz darin, so sind auch die "Inhalte" von Rockmusik nicht allein in der musikalischen Form der Songs begründet, sondern zugleich durch die Kontexte bestimmt, die ihnen von ihren Fans gegeben werden, andererseits aber auch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Produktion und Verbreitung, mit den institutionellen Zusammenhängen, in denen sie stehen, schon vorausgesetzt sind. Rockmusik ist damit nicht nur eine Angelegenheit von Text und Musik. Sie ist eine sehr komplexe kulturelle Form, in die die Musik ebenso einbezogen ist wie Tanzformen, Massenmedien, Medienbilder, Images und Kleidungsstile. Sie ist ein durch Musik produzierter sozialer Raum für kulturelle Aktivitäten der verschiedensten Art. Ihrer musikalischen und stilistischen Heterogenität korrespondieren jeweils unterschiedliche soziale und kulturelle Kontexte, in denen sie in wechselnden Bedeutungen erscheint, durch immer wieder andere Charakteristika, Funktionen und Gebrauchsweisen definiert ist. Das macht es unmöglich, sie etwa an eine fest umrissene musikalische Definition binden zu wollen.

Im folgenden soll deshalb, unbekümmert um die Systematik von Begriffen und Kategorien, erst einmal die Sache selbst zum Sprechen gebracht werden. Es geht um eine Art Porträt dieser Musik, um die ihr wesentlichen Züge, wie sie sich in der Vielfalt ihrer stilistischen Erscheinungsformen und der atemberaubenden Dynamik ihrer Entwicklung ausgeprägt haben. Die dafür adäquate Darstellungsform war die des Essays, der sich in die Einzelheiten versenken darf und doch das Ganze im Blick hat, mosaikartig aus den Einzelaspekten ein Gesamtbild zusammenfügt. Natürlich meint das nicht, statt kontrollierbarer Aussagen in das Halbdunkel metaphorischer Unverbindlichkeiten und Ungenauigkeiten zu flüchten, in die in der Rockliteratur so verbreitete journalistische Oberflächlichkeit auszuweichen. Es sind Versuche einer theoretisch reflektierten Annäherung, die hier vorgelegt werden, zusammengefaßt in jeweils in sich geschlossenen Einzelstudien mit wechselnden Gesichtspunkten, deren Zusammenhang aber erst wirklich ein Bild von dieser Musik ergeben kann. Anders ist einer Musik, die selbst noch so in Bewegung ist und sich jeder Systematik durch die Dynamik ihrer eigenen Entwicklung gleich wieder entzieht, wohl kaum beizukommen. Vollständigkeit in der ohnehin nicht mehr überschaubaren Fülle von Einzelerscheinungen, Daten, Fakten, Namen, Stilen und Trends ist so weder notwendig noch angestrebt. Worum es geht, ist vielmehr das Auffinden jener Fragestellungen, auf die die Entwicklung des Rock eine Antwort darstellt, die Rekonstruktion der kulturellen Faktoren, sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Widersprüche, denen er seine Existenz verdankt.

"Ästhetik" und "Soziologie" im Untertitel dieses Buches stehen dabei für Zugangsweisen, die die Art der Problemsicht umreißen. Wer daraus die Erwartung auf theorieintensive Kategoriengebäude, normative Wertkriterien oder empirisch-statistische Datenfülle ableitet, wird sich enttäuscht sehen. Eine "Theorie des Rock" muß an der Praxis dieser Musik entwickelt werden, und das sind hier die musikalischen, kulturellen und sozialen Zusammenhänge, aus denen sie mit der Vielfalt ihrer Spielweisen entstanden ist und zu immer wieder neuen Formen gefunden hat. Das freilich verlangt eine entsprechend komplexe Sicht, für die die Ästhetik wie die Soziologie als Wissenschaftsdisziplinen ein geeignetes theoretisches Instrumentarium liefern. Doch nicht dieses steht hier zur Diskussion, sondern das, was damit zutage gefördert wurde. So eröffnet die Betrachtung des Rock unter soziologischem Gesichtspunkt die Möglichkeit, seine Entwicklung auch als Bestandteil des Alltags und der Freizeit seiner Fans zu sehen und darin verstehen zu lernen; wogegen das theoretische Instrumentarium der Ästhetik die lautstarken Klänge, die pittoresken Gebärden, die oft obskuren Verkleidungen entschlüsseln hilft, den Code aufspürt, nach dem persönliche und kollektive Erfahrungen zu Songs umgeschmolzen werden: Doch selbst wenn auf diese Weise der Blick auf komplexere Zusammenhänge gelenkt wird, als dies bei der bloßen Beschreibung der musikalischen Ereignisse und ihrer Chronologie der Fall wäre; einen wirklich umfassenden Erklärungsansatz kann und will auch das nicht liefern. Es ist nicht mehr als ein Versuch, verstehen zu lernen und verstehbar zu machen, was mit dieser Musik eigentlich entstand.

In ständiger Bewegung wie der Gegenstand selbst ist auch seine Terminologie. Der Begriff "Rockmusik" steht für sehr Verschiedenartiges, hat nahezu in jedem Entwicklungsabschnitt Bedeutungswechsel erfahren. Die Grenzziehungen zu anderen Gattungen der populären Musik, zu anderen Bereichen der Musikkultur sind fließend und unterliegen fortwährender Veränderung. War früher einmal die Bezeichnung "Beatmusik" verbindlich und im deutschen Sprachraum auch noch lange verbreitet, so ist daraus inzwischen eine Art Stilbegriff geworden, der nur noch auf die britische Entwicklung Anfang der sechziger Jahre und die hiervon unmittelbar beeinflußten Gruppen Anwendung findet. Erst in der Mitte der sechziger Jahre setzte sich das vom amerikanischen Rock'n'Roll abgeleitete Kürzel "Rock" mehr oder weniger allgemein durch, verlor damit aber auch jene spezifische Bedeutung, die es zuvor einmal als Bezeichnung für die direkt vom Rock'n'Roll abgeleiteten Spielweisen besessen hatte. Rockmusik wird inzwischen aus sehr unterschiedlichen musikalischen Quellen gespeist — auch solchen, die, wie die Musik eines Philip Glass oder Steve Reich, eines Edgar Varése oder John Cage, ebenso wie die Musik außereuropäischer Kulturen oder der europäischen "Klassik", aus ganz anderen Traditionszusammenhängen stammen. Rock'n'Roll spielt darunter zwar nach wie vor noch eine dominante, keineswegs aber eben ausschließliche Rolle mehr. Der Begriff selbst geht auf die Bluessprache und den Slang der nordamerikanischen Neger zurück, wo to rock sowohl eine harmlose Metapher für das Tanzen als auch einen recht obszönen Euphemismus für den Geschlechtsakt darstellt. Diese hintergründige Zweideutigkeit hat sich übrigens in vielen Texten bis heute erhalten, selbst wenn die vordergründig sexuelle Bedeutung inzwischen weitgehend neutralisiert ist.

Es existieren allerdings auch hiervon abweichende Bezeichnungsmodalitäten — Pop, Popmusik, Rock & Roll (im Unterschied zu Rock'n'Roll) usw. —, die für reichlich Verwirrung sorgen, da sie zum Teil synonym, zum Teil in mehr oder weniger eigenständiger Bedeutung verwendet werden. Dies ist für die folgende Darstellung insofern von Belang, als sie sich bei den zitierten Autoren und Musikern in schöner Eintracht alle beieinander finden. Ihre Verwendung im Zitatzusammenhang erfolgt dann jedoch immer bedeutungsgleich mit dem Begriff Rockmusik.

Der Autor verdankt viele wesentliche Anregungen Gesprächen und Diskussionen, die zu führen er Gelegenheit hatte; und er ist all jenen verpflichtet, die ihn mit Material, Informationen und ihren Kontakten bei den oft sehr aufwendigen Recherchen unterstützt haben. Dank schuldet er sowohl Musikern, Vertretern der Industrie wie Fans, die ihm geduldig zuhörten und seine "seltsamen" Fragen beantwortet haben, dabei oft tiefe Einblicke in ihre Gedankenwelt und ihr Alltagsleben offenbarend.

Gedankt sei an dieser Stelle für ihre hilfreiche Unterstützung: Moe Armstrong (Sibony West Records Oakland/California), Clarence Baker (Misty In Roots, London), Chris Bohn (New Musical Express, London); Iain Chambers (Universaria Navale, Neapel), Chris Cutler (Recommended Records, London), Geoff Davies (Probe Records, Liverpool), Monika Döring (LOFT, Berlin), Simon Frith (University of Warwick, Coventry), Reebee Garofalo (University of Massachusetts, Boston), Larry Grossberg (University of Illinois, Champaign/Illinois), Charles Hamm (Dartmouth College, Hanover/Vermont), Nick Hobbs (All Trade Booking, London), Peter Hooten (The Farm Liverpool), David Horn (University Library, Exeter), Mike Howes (Ministry Rehearsal Studios, Liverpool), Roben Lloyd (Vindaloo Records, Birmingham), Paul MacDonald (ZTT, London), Greil Marcus (Berkeley/California), Richard Middleton (Open University, Milton Keynes), Charles Shaar Murray (New Musical Express, London), Paul Rutten (University Nijmegen, Nijmegen/Niederlande), Mark E. Smith (The Fall, Manchester), Philip Tagg (Göteborgs Universitet, Göteborg), Geoff Travis (Rough Trade Records, London), John Walters (BBC Radio One, London), Paul Willis (Wolverhampton), Tony Wilson (Granada TV, Manchester) — sowie all jenen, deren namentliche Nennung hier nicht erfolgt ist.

Mein ganz besonderer Dank gilt jedoch der Lektorin des Reclam-Verlages, Frau Barbara Fleischhauer. Ohne ihre unerschöpfliche Geduld und ihr Verständnis für dieses schwierige Projekt, das keiner Terminstellung standhalten konnte, wäre der folgende Text wohl nicht entstanden.

Berlin-Pankow, April 1986

Peter Wicke

© Autor & Reclam Leipzig 1987 & Cambridge University Press 1990



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