www.Crossover-agm.de Was hat uns BACH heute noch zu sagen?
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von Ulrich Thiem

Als Johann Sebastian Bach seinen Dienst beim Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen am 3. Dezember 1717 begann, kam er aus Weimar nicht als die hochgeachtete Person, die er dort viele Jahre gewesen war, sondern als ein soeben aus dem Gefängnis Entlassener. Mit dem Fortgang aus der Residenz des Herzogs Wilhelm Ernst zu Sachsen-Weimar endete für den da schon hochberühmten Zweiunddreißigjährigen die bis dahin wichtigste Zeit seines Lebens. Aber – sie endete im Gefängnis. Eine „Beugehaft“ sollte ihn daran hindern, den Dienst in Weimar zu quittieren und einer Einladung nach Anhalt-Köthen zu folgen. Denn Bach hatte es als einen nicht zu verkraftenden Affront empfunden, nicht Nachfolger des verstorbenen Hof-Capellmeisters Drese zu werden, nachdem man ihn kurz zuvor befördert und zum Anerkannten Vertreter der beiden Hof-Capellmeister Drese Vater und Sohn gemacht hatte (von denen „... der Vater Unterstützung wegen hohen Alters und Krankheit, der Sohn Hilfe wegen Unfähigkeit und Gleichgültigkeit dringend benötigte“, so der Bach-Biograf Hans Franck). Und Herzog Leopold in Köthen hatte ihm ein Einkommen von 400 Talern im Jahr angeboten – gegenüber den 250, die er in Weimar als Violinist und Concertmeister der Herzöglichen Hof-Capelle, als Stellvertretender Fürstlich-Sächsischer Organist an der Hof-Kapelle zu Weimar und als Anerkannter Vertreter der beiden Hof-Capellmeister bezog. Er, Johann Sebastian Bach, berühmt geworden durch seine Organistentätigkeit in Arnstadt, Mühlhausen und Weimar, durch zahllose Konzerte, bei denen er auch seine eigenen Werke aufführte; durch seine Kompositionen, die die Bewunderung aller Musiker erlangten, in deren Hände sie gelangten! Er, der gerade durch den Konzertmeister der Kgl. Dresdner Hofkapelle Volumiers eingeladen worden war, in den Räumen des Dresdner Grafen Flemming gegen den hochberühmten Organisten Louis Marchant aus Paris (dessen Kompositionen Bach sehr schätzte) zu einem Wettstreit anzutreten, in dem es nicht allein um Bach gegen Marchant ging, sondern um die Bedeutung der deutschen gegenüber der französischen Musik! Er, der diesen Wettstreit grandios gewonnen hatte – nicht nur dadurch, daß Marchant der Legende nach Bachs Üben gehört und überstürzt die Flucht zurück nach Paris angetreten hatte, also ohne jegliche Erklärung dem Wettstreit ferngeblieben war, sondern durch ein zweistündiges Non-stop-Konzert dem versammelten Publikum sein überragendes Können gezeigt hatte!
Nun, die Beugehaft vermochte seinen Sinn nicht zu beugen. Sie bestätigte vielmehr einen Zug Bachs, der schon mehrfach Anlaß zu Ärgernis gewesen war und wohl auch der Grund, daß er nicht zum Obersten Musiker in Weimar ernannt worden war: Sein unbeugsamer Starrsinn, vor dem mancher sich bereits fürchtete, der jedoch auch wiederum dazu führte, daß Bach seine Anstellung als Kapellmeister in Köthen wahrnehmen konnte. Denn daß seines Bleibens in Weimar nicht länger sein konnte, wurde klarer mit jedem Tag im Kerker und bestätigte damit seine Unbeugsamkeit. Aus der von Herzog Wilhelm Ernst nicht akzeptierten Amtsniederlegung war nun eine Entlassung in Unehren geworden.
Gemessen an den traditionell orientierten Werten in Thüringen war die Regierung in Anhalt-Köthen sehr fortschrittlich. Während man sich dort meist nur zögernd zu Veränderungen bereitfand, traf Bach in Anhalt auf eine durchaus offene, weitsichtige Situation, in der man frische Impulse gern aufnahm. Der auch im Anhaltinischen nicht unbekannte Bach wurde hier nicht nur gerne gesehen, er hatte hier tatsächlich bessere Möglichkeiten, seine schöpferischen Ambitionen zu verwirklichen. Beispielsweise traf er hier auf ein Orchester, das gerade durch hervorragende Musiker aus Berlin ergänzt worden war und nicht nur eines der damals besten, sondern mit seinen 23 Mitgliedern auch eines der größten in Europa gewesen sein dürfte.
Bis heute ist es Anlaß zu Spekulationen geblieben, warum Johann Sebastian Bach, tief verwurzelt in lutherischer Gläubigkeit und einer der berühmtesten Organisten seiner Zeit, vom lutherischen Thüringen in ein Zentrum der reformierten (d.h. calvinistischen) Kirche hinüberwechselte, wo ihn keine nennenswerten kirchenmusikalischen Aufgaben erwarteten. Vielleicht ist hier zu nennen, daß es ja damals keine Trennung zwischen Staat und Kirche gab, auch nicht in einem reformierten Land, und Bach hier seine im Grunde tolerante Haltung deutlich macht. Er fuhr fort, theologische Schriften zu studieren und seine Werke mit „Soli Deo Gloria“ zu beenden, „Allein Gott die Ehre“. In allererster Linie aber war er wahrscheinlich Musiker, ohne Einschränkung Vollblut- und Berufsmusiker, und in dieser eindeutig fachlichen Orientierung ohne Parteinahme für irgendeine Strömung christlichen Glaubens. Und die Gottesdienste am Hofe oblagen ja auch hier seiner Dienstpflicht – allerdings nur das Begleiten der Lieder -, wenn auch seine Haupttätigkeit im Vorantreiben des Konzertlebens lag. Auch durch das weitere Komponieren von Kirchenkantaten bzw. das Um- und Überarbeiten von solchen besonders aus der Weimarer Zeit (für andere Gemeinden) blieb er mit dieser Form in Berührung. Jetzt hatte er aber eher Huldigungskantaten für die höfische Familie zu komponieren (für die er gelegentlich das Material seiner Kirchenkantaten verwendete – und umgekehrt) sowie Instrumentalstücke in der damaligen Mode. Eine Aufgabe, die er weidlich nutzte und die seinen Ruhm aus heutiger Sicht endgültig festigte. Die Sonaten, Suiten und Partiten, die er in seiner Köthener Zeit für ein Soloinstrument schrieb – z.B. für Violine, Cello und Flöte -, bildeten zu jenem Zeitpunkt wahrscheinlich ein völliges Novum. Abgesehen von seiner genialen Harmonik, die über das damals Übliche wohl weit hinausging, liegt in dieser neuen Kompositionsform sicher sein Hauptverdienst dieser Zeit. Den wortreichen Lobeshymnen über diese Werke will ich mich hier nur prinzipiell anschließen, aber alles Reden und Schreiben über sie verblaßt hinter jeder einigermaßen guten Interpretation ihrer selbst.
Und jetzt werde ich persönlich. Natürlich kann man nicht benennen, wodurch sich eine solche auszeichnet. Lassen wir’s deshalb bei „einigermaßen gut“. Bach und seine Zeitgenossen sind mit eigenen und den Kompositionen anderer recht unverfroren umgegangen – die meisten Kompositionen aus der Weimarer Zeit sind Umarbeitungen Bachs von Werken berühmter Italiener, besonders Vivaldis. Und vielleicht hat man das auch später beibehalten, ohne daß darüber geredet wurde. Aber irgendwann tauchten die studierten Musikgeschichtler auf, Musikwissenschaftler, die einen status quo errichteten und festlegten, wie ein Werk zu sein hat und zu interpretieren ist. Bearbeitungen wurden mehr und mehr verpönt, was ich persönlich im Prinzip gutheiße. Aber je weiter die Zeit voranschritt, umso mehr Erkenntnisse waren zu verarbeiten. Heute nun steht man bei der Interpretation alter Musik vor der Frage, ob diese Kompositionen in historisierender Weise zu spielen sind oder nicht. Ob man sie spielt, wie sie damals gespielt wurden, worauf sich ja heute Tausende von hervorragenden Musikern spezialisiert haben: Mit auf Barockstandard zurückgebauten Instrumenten und einer Interpretationsart, die der damaligen möglichst nahekommen soll, wobei man allerdings auf keine eindeutigen und somit verbindlichen Informationen zurückgreifen kann. Oder ob man die jahrhundertelange Arbeit der Instrumentenbauer schätzt, die ja stets versuchten, die Instrumente immer besser, immer wohlklingender zu bauen, und auch alte Kompositionen so spielt, wie es heutigem Empfinden entspricht. Die unterschiedlichen Standpunkte treffen heute ziemlich hart aufeinander; das gegenseitige Akzeptieren fällt schwer. Umso mehr plädiere ich dafür, beide Arten der Interpretation gelten zu lassen und deren jeweilige Vorzüge zu genießen. Dieses Problem dürfte in der Kirchenmusik einen nicht geringen Platz einnehmen ...
Und auch zu den Bearbeitungen möchte ich mit einer Empfehlung schließen, nachdem ich von Bands Bachsche Werke in höchst fragwürdigen Bearbeitungen gehört habe: Eigenmächtige Bearbeitungen wie die Interpretation von Bachs Inventionen – z.B. mit Blockflöte und E-Gitarre – sollten lieber die Feuertaufe sehr kritischer Beurteiler erlebt haben, bevor sie aufgeführt werden. Vier oder gar sechs Ohrenpaare hören besser als die der beiden Musizierenden. Und hier ergibt sich vielleicht sogar die Chance der echten Zusammenarbeit mit einem Kirchenmusiker, der der Band-Musik eher nicht sehr aufgeschlossen ist ... Hinweise von Fachleuten sind nicht immer schlecht, liebe Bandleute, selbst wenn es der Hinweis auf unsinnig hohe Phonzahlen ist. (Die Rockmusiker, die mit mir in den Siebzigern an der Dresdner Musikhochschule studiert haben, sind statistisch zu mehr als 50% hörgeschädigt.) Bach übrigens spielte am liebsten auf dem Clavicord, einem kleinen Cembalo – wegen seines weichen, zarten Klanges.

Ulrich Thiem, Jahrgang 52, Studium Cello in Dresden, schon frühzeitig Beschäftigung im Band-Bereich mit Spirituals und eigenem. Seit 1975 öffentliches Auftreten als Improvisator, ab 1977 auch mit Blues-, Jazz-Stücken. 1978 Beginn der freischaffenden Tätigkeit (hauptsächlich in Berlin / Orchesteraushilfen). 1980 Gründung der Gruppe BACH & BLUES DRESDEN. Konzerttätigkeit in vielen Ländern West- und Osteuropas, USA, Kanada, mit vielen, sehr unterschiedlichen Besetzungen. Kontakt: Tel./Fax 0351-8030470, Email bach.blues.thiem@faxvia.net



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