www.Crossover-agm.de Die Weihwasserwelle rollt
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von Thomas Rübenacker

"Sakro-Pop" wird zum tönenden Wandteppich

Die Kirche lamentiert schon lange: Ihr laufen die Schafe davon, wegen Sinnkrise und/oder Solidaritätszuschlag, welchen es mittels Einsparung der Kirchensteuer wieder auszugleichen gilt. Zu allem Übel boomt auch noch der Islam, während das Christentum dahinsiecht oder sich in Hunderten von Sekten verzettelt - was nur insofern gutgeheißen werden kann, als es keine Kreuzzüge mehr geben wird. Die Lage pendelt zwischen ernst und hoffnungslos, und dennoch bläst schon wieder ein scharfer Wind ans Kirchenportal, gibt es ungeahnte Konkurrenz: die großen Schallplattenfirmen.

Die nämlich bieten jetzt Gottesdienst zu Hause an, überkonfessionell; füllen das Sinnvakuum mit Instantmystik, laden zur Meditation mit tönendem Mittelalter. Mönchsgesang wabert allenthalben (etwa auf Platz zwei der Charts nach den Three Tenors), der gute alte gregorianische Choral oder - vor allem - Cantus planus, schon nennen Hämeneutiker das "Sakro-Pop". Ein Phänomen, gewiß, aber eines, das nur zum Teil einem spirituellem Defizit entspringt; den Rest besorgt das Marketing, dessen mediales Trommelfeuer jeden mit der Erkenntnis schocken will, daß er haben muß, was alle anderen auch schon haben.

Vor etwas über Jahresfrist brachte die britische EMI eine Doppel-CD "Canto Gregoriano" heraus - und trat so die Weihwasserwelle los. Ein bis dato obskurer spanischer Orden im Kloster Santo Domingo de Silos singt sehr gesetzt, sehr schwammig (dank Hall) und ohne jede Zutat (wie Rhythmuselektronik oder Nigel Kennedy) die Antiphonen, Gradualien und Responsorien des Gregorianischen Chorals, auf lateinisch natürlich, was dann noch entrückter klingt. Und welcher gestandene Katholik hat seinem Papst Paul VI. schon verziehen, daß er die lateinische Liturgie eindeutschen ließ, überhaupt die ganze prunkvoll-theatralische Messe säkularisierte, die Gläubigen so eines Gutteils an mystischer Versenkung bzw. Einlullung beraubend?

Ja, um Entrückung geht es nach wie vor: der unschuldige Mönchsgesang wurde ein solcher Hit, daß andere große und kleine Hersteller flugs ihren eigenen Sakro-Pop auf den Markt warfen. Die Deutsche Grammophon Gesellschaft leiert eine "St. Petersburger Litanei", bei Sony raunt Konrad Ruhland mit den Niederaltaichern Scholaren "Musica Mystica"; "The Vocve Of Russian Orthodoxy" (IMP), "Canticles Of Ecstasy: Hildegard von Bingen" (BMG), "Die Liturgie des Hl. Antonius" (Decca), "Russian Voices" (Koch-Schwann) und "Gregorian Chant" (Metronome) schwangen sich auf die Marktfrequenz ein - und das sind noch lange nicht alle Gregorianica.

Hinzu, das darf nicht vergessen werden, kommen die sakral inspirierten, getönten oder auch nur lackierten E-Kompositionen zeitgenössischer Tonsetzer wie John Taverner ("Akathist of Thanksgiving"), der zum russisch-orthodoxen Glauben konvertierte und "ausschließlich zu Ehren der Mutter Maria" komponiert, des Esten Arvo Pärt ("Magnificat") oder des Polen Henryk Górecki ("Miserere"), die es aus dem elitären Zirkel der Neuen-Musik-Bruderschaft mit geradezu biblischer Gewalt ins Rampenlicht medialer Verkündigung riß: Sollte der Herr für die Seinen also doch Sorge tragen?

Das klingt dann zumeist nach musikalischer Tapete, oder besser: nach tönendem Wandteppich mit eingestickten Heiligenbildchen - und legt den Verdacht nahe, daß zumindest bei Besserverdienenden in unserer Zeit der Raffzahnideologie, der spirituellen Entleerung und Verweltlichung aller Sehnsüchte nach Glaube, Liebe, Hoffnung wiedererwachen. Dunkles Psalmodieren gegen grelles Verkaufsgeschrei, Versenkung ins Ich gegen die Anonymität der ständig wachsenden Masse, meditative Ruhe statt Alltagshektik - Ruhe, ja, denn ruhiger (auch im Sinne von hypnotischer) als Gregorianischer Choral kann Musik kaum sein. Handelt es sich also um klingenden Baldrian, um geweihten dazu? Wird eine "virtual reality" der Sinnsuche vorgetäuscht, also das Gegenteil von Wirklichkeit? Eine Angestellte der "Saturn"-Kette widerspricht: "Die meisten kaufen das doch nur, weil es überall so toll beworben wird oder weil ihre Freunde es schon gekauft haben. Die wissen dann nicht mal, daß das irgendwie geistliche Musik ist. Die müssen es nur haben." Eine Kollegin, die für einen Konkurrenten arbeitet, präzisiert: "Das ist halt eine neue Exotik. Exotischer als irgendwas aus Afrika." Weit haben sie's gebracht, die Missionare, weiß Gott.

Kaum einer über 50 kauft diese Scheiben, die Hauptkundschaft sei "so bis Mitte, Ende 40", der harte Kern "so zwischen 15 und 25". Liegt es daran, daß im Alter das Weltgetümmel sich ohnehin verlangsamt, daß Oma und Opa keine Räucherstäbchen mehr entzünden müssen, sich an den Händen fassen und "Huuuummmmmmm..." intonieren? Oder einfach daran, daß ältere Menschen dann doch lieber ihre "Kleine Nachtmusik", "Lustige Witwe" oder die Egerländer Oberkrainer hören? Daß sie nicht mehr "offen" sind für das Erregend-Neue, auch wenn es auf der Kriechspur mittelalterlicher Gleichförmigkeit daherkommt? "Die Mönche sind jetzt einfach in", meint ein Verkäufer der Musikalienkette "Schlaile"; und impliziert damit, daß sie nicht bleiben: Es gehört zum Wesen der In-Liste, daß nebendran gedruckt die Out-Liste steht. Und daß der Weg allen Fleisches auch hier beschritten wird, oft sehr rasch. Daran möchte man im Alter vielleicht nicht so gerne erinnert werden.

Daß der Sakro-Pop eine Modeerscheinung sei, wird nur scheinbar widerlegt von den hastig angebotenen Gregorianikkursen etwa in Volkshochschulen: Selbermachen zeugt zwar von größerem Ernst als passive Dauerbeschallung, aber die Zahl der Teilnehmer (obwohl relativ hoch) verschwindet neben der von Millionen CD-Käufern weltweit. Ein gewinnend falscher Zauber haftet im übrigen auch diesem Selbermachen an; wenn in London, wie der "Guardian" berichtet, ein großer Kostümverleih, der normalerweise für Film, Fernsehen und Theater arbeitet, Mönchskutten und andere Ordenstracht an Privatleute verleiht, natürlich völlig überbucht - dann darf doch sacht geschmunzelt werden. Ein Oberammergau der gregorianischen Versenkung, frei Haus und besetzt mit Mama, Papa und dem Rest der Sippschaft? Luja, sog i!

aus: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 10.03.1995



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