www.Crossover-agm.de Die Religion der Pop- und Rockmusik. Eine Übersicht
DownloadDownload

von Björn Raddatz

A Vorüberlegungen
B Rock und seine religiöse Wurzel
C Religion rockt
D Rockers Themenabend Religion
E Ist Rock selbst Religion?
F Fazit

A Vorüberlegungen

1 Zum Begriff Rock:

Die Begriffe Rock, Pop und Pop(-ular-)kultur können mit verschiedenen Bedeutungen belegt werden. Wenn man die Popkultur als Oberbegriff nimmt, unter den außer der Musik auch die Pop-Art etwa Roy Liechtensteins, Claes Oldenburgs, Keith Harings und Andy Warhols zählt, dann sind Pop und Rock zwei verschiedene Richtungen in der Musik. Bleibt man im musikalischen Bereich, und das ist in diesem Essay der Fall, dann kann man die drei Begriffe weitgehend synonym benutzen.
Sie beschreiben dann eine spezifische eigenständige Musikkultur auf der Grundlage industrieller Produktion und Distribution, die alle Unter- und Teilbereiche mit einbezieht. Also mache ich begrifflich keinen Unterschied zwischen Rock, Pop und Popularkultur.

2 Guck mal, wer da zwinkert!

Unsere Alltagskultur ist voller Zitate. Ein Werbespruch (zum Beispiel: "Nicht immer, aber immer öfter") wird Teil der Umgangssprache, eine Werbemelodie ein Hit und umgekehrt ein Hit zur Werbemelodie. Und genauso, wie die Werbung zugleich Steinbruch wie Spiegel der Alltags- und auch Popkultur ist, zitiert die Popkultur auch aus dem Bereich der Religion.
Die Beispiele, bei denen Rock ein religiöses Zwinkern im Auge hat, sind zahlreich. In einzelnen Fällen kann sicherlich darüber diskutiert werden, ob das gefundene Beispiel "absichtsvolles Zwinkern" ist, sich also bewußt im Fundus religiöser Phänomene bedient und sie auch in ähnlicher Absicht einsetzt, oder ob evtl. nur "einfach so" gezwinkert wurde, das Beispiel eine Überinterpretation darstellt.

B Rock und seine religiöse Wurzel

1 Afrikanische Stammestraditionen

Die Wiege des Rock steht in Afrika. Seine hervorstechendsten Merkmale sind aus der religiös geprägten rhythmischen Stammesmusik im Westen Afrikas entlehnt. Er ist zum Beispiel bis auf den heutigen Tag nur schwer in Notensysteme zu fassen, erfährt nur selten das Stadium der Verschriftlichung, wie das bei europäischer Musik üblich war. Auch bedient er sich bis heute an den rhythmischen Vorgaben, die aus Afrika mit den Sklaven nach Amerika gelangt sind.

2 Versklavte Baumwollpflücker in den Südstaaten

Die versklavten Afrikaner hatten in Amerika keine Bürgerrechte, selbst ihre Religionen raubte man ihnen. Die einzige Ausdrucksweise, die ihnen in der Öffentlichkeit geblieben war, war ihre Musik. Sie konnten das ihnen aufgezwungene Christentum durch ihre Musik für sich zu einer eigenen kulturellen Ausdrucksweise, in der ihr religiöses Wissen am Leben blieb, umgestalten. Der Gospel und das Spiritual waren geboren.

3 Elvis, der weißeste Schwarze

Die Musik der afroamerikanischen Bevölkerung löste eine große Faszination auch auf die weiße, jugendliche Bevölkerung aus.
Und das ausgerechnet zu der Zeit, wo der Schallplattenspieler und das Radio auch für sie erschwinglich wurden. Ein neuer Markt war geboren! Da Radiostationen sich anfangs noch schwer damit taten, Platten von Schwarzen zu spielen, waren die Manager der Schallplattenindustrie auf der Suche nach einem Weißen, der singen konnte wie ein Schwarzer. In Elvis wurden sie fündig: Er vereinte den kitschig-schwülstigen Stil der Tin-Pan-Alley-Musik der 30er und 40er Jahre und die neuentdeckten schwarzen Musikstile zu einer eigenen, neuen  Musikrichtung, die ihm alsbald - und mit Wirkung bis heute - den Titel eines Königs eintrug.

4 Reibach statt Religion

Damit war der Schritt vom Kirchenraum, wo die Karrieren der meisten schwarzen Rocksängerinnen und Sänger noch lange starten sollten, in den allein auf Profit und Gewinne ausgerichteten Markt geschafft. Das hat sich vordergründig nicht geändert.
Mit Popmusik wird so viel Geld verdient wie nie zuvor, das Geschäft brummt. Aber: Ganz so areligiös ist Rock gar nicht. Auf die Stellen, die deutlich zeigen, daß sich Rock und Religion zumindest berühren, will ich nun den Blick richten.

C Religion rockt

In diesem Teil sollen Beispiele vorgeführt werden, die aufzeigen, wo Religionen sich eine rockige Ausdrucksweise geben.

1 Der Kirchentag rockt: Sakro-Pop

Beim Sakro-Pop handelt es sich um nicht mehr als eine zeitgemäße, poppige Version des Kirchenliedes. Er bemüht dabei das Schema, entweder aus einer vorher existierenden, weltlichen Melodie ein Kirchenlied zu machen, indem er sakrale Texte einfügt (diese Möglichkeit wurde immer schon zur "Herstellung" von Kirchenliedern verwendet), oder einen weltlichen Stil zu kopieren (so macht es Sakro-Pop am häufigsten). Im neuen Evangelischen Gesangbuch (EG) ist Sakro-Pop reichlich vertreten. Es finden sich Anleihen alten Stils (alte Melodie, neuer Liedtext) an der     Popmusik: Zum Beispiel ist das Lied "Morgenlicht leuchtet" (EG 455), das dort als gälisches Volkslied gehandelt wird, bekannt durch Cat Stevens (Morning has broken).

Auch im nicht-inhaltlichen Bereich kopiert Sakro-Pop weltlichen Rock. Das gruppendynamische Ereignis, wenn eine Messehalle vom Papphocker aufspringt und zu klatschen beginnt, unterscheidet sich durch nichts von dem eines Rockkonzertes.
Leider ist der Sakro-Pop beim Weichspülerpop stehengeblieben und hat sich seit den 70er Jahren nur wenig fortentwickelt. An den "frommen" Rändern der Kirche hebt er sich kaum vom in Pfingstgemeinden üblichen Stil (oder der "Ich find cool, daß du so geil bist, Jesus"-Rhetorik der Jesus-Freaks) ab.
Als Interpreten wären Peter Janssens, die Frankfurter Gruppe Habakuk, mit Vorbehalt auch Gerhard Schöne zu nennen, letzterer kommt allerdings eher aus der Liedermacherecke.

2 Legalize it! Rastafari

Die Rastafari glauben daran, daß der "Lion of Judah" (Haile Selassie, bürgerl. Name: Ras Tafar, äthiopischer König, ermordet 1981) sie aus Jamaika nach Afrika zurückholt. Das biblische Vorbild für diesen Glauben bildet die Exodustradition. Die Rastafari haben eine eigene religiöse Sprache entwickelt, die I-n-I Sprache. Ihre gedankliche Grundlage ist, daß der Rasta zwei Ichs innehat, das eigene und das Haile Selassies (Das zeigt schon der Name: Rastafari = Ras - Tafar - I = Ich bin Ras Tafar). Diese Sprache trägt auch in der Musik der Rastafari, dem Reggae, und ist daher in der ganzen Welt hörbar.
Der wohl bekannteste Reggaemusiker ist Bob Marley, der zum einen ein Multiplikator seiner Religion ist, zum anderen eine Art Priester der Rastafari. Reggae ist "liturgische Musik", neben dem Ganjarauchen (Alkohol ist dem Rastafari verboten) wesentlicher Ausdruck der Religion, was sich auch im beinahe suchthaften Kaufverhalten der Jamaikaner, was Reggaeplatten angeht, niederschlägt. Reggae gibt's auch ohne religiösen Inhalt: Die britische Gruppe UB40 singt von "red red wine". Es gibt Rastafari nicht ohne Reggae, den Reggae aber zur bloßen Musikrichtung "abgesunken" ohne Rastafari-Inhalte. Die prominentesten Vertreter des Reggae sind der bereits erwähnte Bob Marley, aber auch Peter Tosh machte sich mit seiner Forderung nach Entkriminalisierung des zur Religionsausübung beinahe zwingend gehörenden Haschischkonsums ("legalize it") einen Namen, Prince Far-I vertonte etliche Psalmen.

D Rockers Themenabend Religion

1 And God shuffled his Feet

Eine Gruppe Rocksongs, die ich nun aufführen möchte, erzählt schöne, bisweilen harmlose Geschichten. Sie wollen nicht wehtun oder überkritisch sein, sondern besingen Religiöses. Manche spinnen auch biblische Geschichten weiter oder erzählen sie nach. Zwei Beispiele für gelungene Geschichten sollen hier stellvertretend für die anderen genannt werden.
Das erste Beispiel liefern die Crash Test Dummies. Im Sommer ‘94 war "and God shuffled his feet" von der gleichnamigen CD wochenlang ein Hit:
Die Szene ist ein sonntägliches Treffen zwischen Menschen und Gott nach der Schöpfung. Er lädt
sie ein zu einem Picknick mit Wein und Brot, einem gemütlichen Zusammensein. Allerdings fehlen
Gesprächsthemen: peinlich berührtes Schweigen breitet sich aus. Endlich ein Gesprächsversuch:
"Muß man im Himmel essen und sich die Haare schneiden lassen? Und wenn ich im Leben ein Auge
verliere, wartet es im Himmel mit meiner Frau auf mich?" Gott sind die Fragen peinlich, er schaut unter sich, scharrt mit den Füßen und antwortet mit einer Geschichte: "Ein Junge wacht mit blauen Haaren auf. Er freut sich darüber, bis er daran denkt, seine Freunde könnten blaue Haare für eine Krankheit halten." Gott scharrt wieder mit den Füßen, blickt sich im Kreis um - und niemand sagt etwas, weil keiner glaubt, daß das alles war. Schließlich faßt sich ein Mensch ein Herz und fragt: "Soll das ein subtiler Witz oder vielleicht eine Parabel gewesen sein?" Gott und die Menschen sitzen sich gegenüber und glotzen nur einander an.
Die Motive leuchten sofort ein: Es wird Bezug auf Schöpfung, Sonntag und Abendmahl genommen, genauso auf Parabelerzählungen, die uns heute nicht immer sofort einleuchten und zunächst nichtssagend scheinen. Ich kommentiere und werte nicht weiter (das würde zu weit führen; es geht mir hier nur um eine kleine Phänomenologie), sondern lasse das Beispiel für sich stehen und komme zum zweiten Beispieltext: Suzanne Vega, "Rock in this Pocket [Song of David]" von der CD "99.9F" bietet eine Erzählung des Kampfes David gegen Goliath aus der Sicht Davids: Entschuldigung, einen Moment bitte, ich weiß, es ist nicht ganz ungefährlich für mich, aber was sehr klein für dich ist, ist ziemlich groß für mich. Ich habe einen Stein in der Hosentasche. Es könnte dich das Leben kosten, wenn ich genau mein Ziel treffe. Und wenn du mich bis jetzt nicht kennst; wenn ich getroffen habe wirst du mich kennenlernen. Und wenn es das letzte ist, was ich tu: ich zeig dir jetzt den Stein.
Viele Interpretinnen und Interpreten könnten genannt werden, die sich mit Gott und dem Christentum erzählerisch und spielerisch auseinandersetzen, hier nur eine winzige Auswahl illustrer Namen: U2 ("I still haven't found what I'm looking for", "In the name of love", "God Part II" und häufiger), Danielle Brisbois ("What if God fell from the sky"), die CD "Opium fürs Volk" von den Toten Hosen ist ein Paradebeispiel, hier werden häufig biblische Texte (z.B. Vaterunser) zitiert, The Byrds ("Turn, turn, turn") benutzen als Lyrics einen Abschnitt aus Kohelet im Alten Testament ("Alles hat seine Zeit"); bei The Police ("Spirits in the material world") wird nicht direkt von Gott geredet, daß es aber "spirits" in der materiellen Welt gibt, ist Thema. Der Musikfilm "Sister Act" mit Whoopi Goldberg, genauso auch Peter Gabriels CD "Passion", die Filmmusik zu Martin Scorceses Film "Letzte Versuchung Christi", sind zwei Beispiele für eine Überlappung der Bereiche Religion, Film und Rock. Diese kleine Auswahl ist natürlich himmelweit von Vollständigkeit entfernt.
Es gibt neben einer Vielzahl bemerkenswerter Titel aber auch Unsägliches, das nur des breiten Spektrum halber erwähnt sei, wie zum Beispiel Barclay James Harvest ("Hymn") oder Boney M. ("Rivers of Babylon"). Ein besonders grausames "Lied, das die Welt nicht braucht", aber wenigstens zum leichten Schmunzeln ist, stammt von Die Doofen ("Jesus").

2 Wenn et bedde sich lohne däät (Religionskritik light)

Andere Künstler setzen sich kritisch mit Religion auseinander. Sie haben nicht den Anspruch, ein religiöses System zum wanken zu bringen, fühlen sich aber der alten Rock-Tradition, Protestkultur zu sein, verpflichtet. Ihr Mißtrauen gegen alles, was "immer schon so war und immer so bleiben wird", zum Beispiel Religion und Kirche, äußert sich lautstark. Die Lieder dieser Gruppe sind deshalb noch lange nicht "Teufelszeug", sondern weit davon entfernt! Die Kritik, auch das Stänkern, kann schließlich auf tatsächlich vorhandene Schwachstellen deuten.
Auch hier möchte ich zwei Textausschnitte als Beispiel anbringen, allerdings nicht von den Kritik-Klassikern BAP ("Wenn et bedde sich lohne däät" oder "Jipsmann"), sondern zunächst von Edie Brickell and the new Bohemians ("What I am" von der CD "Shooting rubberbands at the stars"):
Ich weiß, daß ich von nicht zu vielen Dingen eine Ahnung habe, aber ...
... Philosophie ist das Reden über Kanaldeckel und Religion ist das Lächeln eines Hundes.
Ich weiß nicht zu viel, aber ...
... Philosophie ist ein Spaziergang auf glitschigen Felsen, Religion ist eine Funzel im
Nebel.
Die Kritik ist offenkundig: Weder Philosophie noch Religion sind lebenspraktisch zu etwas zu gebrauchen, wertlos. Das erschließt sich selbst den Menschen, die von nicht zu viel Dingen eine Ahnung haben.
Ein weiteres Beispiel ist von Tori Amos ("God" von der CD "Under the pink"). Ihre Texte sind nicht immer leicht zu verstehen. Sie hat eine Art Poesie, die öfters im Unklaren läßt, was sie eigentlich meint. Trotzdem möchte ich eine um die mir vollends unverständlichen Teile gekürzte Übersetzung als zweites Beispiel anbringen:
Gott, manchmal kommst Du einfach nicht durch. Du machst schöne Gänseblümchen. Ich würde gerne
herausfinden, was Du sonst noch tust. Verbrennst ein paar Hexen, es riecht etwas angebrannt.
Ich muß herausfinden, weshalb immer, wenn Du gehst, der Wind bläst. Erzähl mir, daß Du ‘ne
Schraube locker hast, dann verstehe ich Dich vielleicht. Und wieso hast Du eine Waffe auf dem
Rücksitz deines vierradgetriebenen Autos? Nur für den Fall? Gott, Du kommst einfach nicht
durch. Fehlt Dir eine Frau, die sich um Dich kümmert? Würdest Du ihr erzählen, wenn Du die
Sterne fallen machst? Gott, Du kommst einfach nicht durch. (Uhuh ahah.)
Ob einer der Texte nun tatsächlich auf eine Schwachstelle des Christentums deutet, soll nicht Gegenstand meiner Erörteung sein. (Immerhin finden sich im Alten Testament Belege, daß neben Jahwe, dem Gott der Israeliten eine weibliche Aschera saß, die Feministische Theologie reibt sich seit Jahren am männlich geprägten Gottesbild.) Die Grenzen zwischen Kritik und Weiterspinnen einer Geschichte sind jedenfalls fließend. Wie bei den Crash Test Dummies (D1 / Bsp. 1) wird von Tori Amos thematisiert, daß Menschen Gott nicht verstehen. Während es die Crash Test Dummies bei dieser Feststellung beließen, stellt Tori Amos fest "Du kommst nicht [zu uns] durch" und klagt ihn an: "Verbrennst Hexen". Kombiniert mit einer aggressiveren Melodie als bei den Crash Test Dummies, wirkt der Text kritisch.
Auch in dieser Sparte "Religionskritik light" lassen sich eine Fülle weiterer Beispiele finden, wie zum Beispiel ein Lied der Newcomerin des Herbstes '95 Alanis Morrissette ("Forgiven" von der Debut CD "Jagged little pill"), aber auch von Genesis ("Jesus he knows me" sowie "For absent friends"), den Rainbirds ("Jesus first!"), Bob Geldof ("Too late, God"), den Hooters ("Sattelite"), von Monty Python ("Every sperm is sacred" - besonders komisch im Film "Der Sinn des Lebens"), NICHT R.E.M. (Loosing my Religion = Südstaatenslang f. "Mit Kraft am Ende sein"). Die oben erwähnte CD der Toten Hosen "Opium fürs Volk" passt auch in diese Rubrik. Neben einfachen Zitaten findet sich auch Kritik: "Ich will nicht ins Paradies, wenn der Weg dahin so schwierig ist!"

3 Sympathy for the Devil: Satanismus und Totenkult

Zunächst muß den Rolling Stones, deren Lied jedesmal für die Überschrift über ein Kapitel über Teufelsanbetung und Okkultismus herhalten muß, Genüge getan werden: Ihre "sympathy for the devil" war vor allem eine mit ungeheurem Geschäftssinn aufgemachte Kampagne gegen die brav gewordenen Beatles, ein echter Schocker. In diesem Kapitel soll es aber um etwas anderes gehen: Christliche Fundamentalisten werden von der ungeheuren Angst getrieben, in einigen Heavy Metal-Liedern, aber auch in etlichen Veröffentlichungen, die durchaus öfters im Radio gespielt werden, seien satanische Botschaften versteckt. Diese werden angeblich rückwärts in die Aufnahme eingearbeitet und sind, wenn man sie rückwärts abspielt, deutlich zu hören. Die Technik heißt backward masking - und es ist nichts an ihr dran. Das menschliche Gehirn kann rückwärts gesprochene Mitteilungen überhaupt nicht dechiffrieren, abgesehen davon, daß es selbst beim Rückwärtshören von Aufnahmen, die angeblich satanische Botschaften enthalten, nie einem Menschen gelungen wäre, diese zu benennen. Es gibt allein bei Queens "Another one bites the dust" den "Jetzt-wo-Sie's-sagen-höre-ich's-auch"-Effekt, wenn Freddy Mercury rückwärts sagt: "Start to smoke Marihuana" - ausgerechnet eine Botschaft, die an Satanismus kaum noch zu überbieten ist.
Auch Led Zeppelins "Stairway to Heaven" ist ein klassischer Kandidat, auf dem ein Stück backward masking verewigt sei. Die einzige Form von satanischer Botschaft, der ich gerne Glauben schenke, ist von Badesalz der Sketch "Satanische Botschaft". Die Botschaften sind "Rippchen mit Kraut" und "Blutwurst", die vom backward masking-Gläubigen eindeutig als "Stich in die Braut" und "Blutdurst" identifiziert werden.
Das heißt nicht, daß es in der Rockmusik nicht tatsächlich Satanismus und Totenkult gäbe. Im Gegenteil: damit haben etliche Metal-Bands ordentlich Geld verdient. Aber die haben vorwärts gesungen, so daß jeder sofort versteht, daß es hier um den Teufel geht.

4 Mantren abbeten und dabei Kohle verdienen ...

Eine weitere Form von Auseinandersetzung mit Religion findet sich bei Anhängern von ISKCON / Hare Krishna. Der prominente Anhänger Hare Krishnas, Boy George, betet seine Mantren mit dem Lied "Hare Hare" ab, der Beatle George Harrison, der den Beatles Termine beim TM-Begründer Maharishi Yogi besorgte, tat das nämliche mit "My sweet Lord". Mittlerweile ist Harrison (meineswissens) nicht mehr bei ISKCON. ISKCON verteilt mittlerweile auf der Straße selbst CDs mit poppigen Mantraversionen, um neue Mitglieder zu werben.

5 Immer für eine Anspielung gut: Religiöse Symbole und Begriffe

Hier gibt es eine große Fülle von Beispielen. Zum Beispiel der Bandname "Genesis": "From Genesis to Revelation" heißt die erste LP der gerade erst aus dem Schülerbandstatus herausgewachsenen "Jungs" aus Südengland von 1969. Der Titel spielt auf das erste und das letzte Buch der Bibel an. Madonna zeigt in vielen Videos um ihren Hals hängende Kreuze. Das Video zu "Like a Prayer", in dem sie einen schwarzen Gekreuzigten wachküßt und aus der Kirche mit "ins richtige Leben" führt, war für einen Skandal gut genug. In einem Nirvana-Video taucht ein Gekreuzigter auf, der ausgestattet mit einem altersgrauen Bart und mit rot-weißer Zipfelmütze sehr große Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann hat, Soundgarden läßt minutenlang im Sekundentakt ein Kreuz nach dem anderen über den Bildschirm flimmern. Die kölsche Rockband Brings hat eine CD "Glaube, Liebe, Hoffnung" genannt, ohne daß ein Lied den gleichen Namen hätte oder darauf Bezug nähme. Jon Bon Jovi präsentiert sich im Textheft der CD "Keep the faith" neben einem spiegelverkehrt geschriebenen "Believe" Schriftzug als Gekreuzigter. Enigma samplet Gregorianik und findet damit eine Marktlücke: Die mittelalterlich-mystische christliche Klangwelt hält Einzug in die Popmusik.
Die Rolling Stones, deren Fans mittlerweile dem Eigenheim näher sind als dem Teufelskult, haben dies erkannt und die "sympathy for the devil" gewandelt in eine "Voodoo Lounge". Natürlich wieder mit finanziellem Happy-End: VW sponsorte saftig die Deutschland-Tour, dafür fahren auf deutschen Straßen viele Golf Variant mit Voodoo-Lounge Aufklebern und Rolling-Stones-Ausstattung. Weder der Golf noch die Stones mit Happy-End haben wirklich etwas mit Voodoozauberei und -magie zu tun.

E Ist Rock selbst Religion?

Der letzte Teil dieses Essays soll untersuchen, inwiefern Rock zum Gegenstand religiöser oder religionsähnlicher Verehrung wird. Daß dabei unter Umständen der Eindruck erweckt werden könnte, es handle sich um ein Vergleichen von Äpfeln mit Birnen, nehme ich in Kauf. Umgekehrt bleibt zu bemerken, daß sowohl Äpfel als auch Birnen Obst sind - und sehr wohl vergleichbar.
Keine besonders aufregenden Dinge, lauter Banalitäten des Rockalltags, sind es, die ich aufführen werde. Sie wirken erst auf den zweiten Blick religionshaft. Ich habe auch gar nicht das Ziel, geschlossene religiöse Systeme zu entdecken. Ich vermute eher, daß (ähnlich wie es von der New-Age-Bewegung her bekannt ist) sich eine Fülle von Bedeutungssystemchen, Protestkultur und Liebe, Liebe, Liebe zu einer im Supermarkt der Popstile je eigenen Pseudo-Religion zusammenstellen lassen.
Diese Pseudo-Religion "Rock" hat mit der Liebe schon ein religiöses Thema aufgegriffen und Schritt für Schritt verkörperlicht. Nicht mehr Gott, Rock ist die Liebe. Die Beatles fingen damit an, die Hand der Angebeteten halten zu wollen ("I wanna hold your hand"), Salt'n'Pepa reden schon freier über das, was sie vorhaben zu machen: "Let's talk about sex, baby". Auf der CD "Jagged little pill" von Alanis Morissette klebt in den U.S.A. ein Sticker mit der Warnung "contains lyrics some might find offensive" wegen einer Textzeile des Liedes "You oughta know": "Are you thinking of me, when you fuck her". Auch die Spielarten der Liebe, die in den meisten Religionen noch klar als Sünde (oder ähnlich) gesehen werden, erfahren ihre positive Bewertung im Rock: "There's more to love than boy meets girl" ist nicht allein das Bekenntnis von Jimmy Summerville. Außer
am großen Thema Liebe hat sich Rock auch am großen Fundus der religiösen Phänomene bedient.

1 Altäre und Heiligtümer

In unzähligen Teeniezimmern hängen sie, die Starposter von den Backstreet Boys, East 17, den Fantastischen Vier, Mark Oh und den vielen anderen Teeniestars. Sie schließen an die Beatlemania der 60er Jahre an: Ein paar "süße" Jungs, kaum älter als ihre Verehrerinnen, von Clearasil und Retusche pickelfrei gehalten, tanzen und singen leichte Kost. Für viele Mädchen wird einer von ihnen zum einen und einzigen erhofften Liebhaber. Der Weggang des Sängers "Robbie" (Robin Williams) von Take That reichte aus, daß tagelang "Mahnwachen" gehalten wurden und eigens Telefonseelsorgedienste eingerichtet wurden. Die Poster an den Wänden haben die selbe erinnernde und zur Andacht rufende, möglicherweise "magische" Funktion wie Kruzifixe und
Herrgottswinkel in tiefbayrischen Bauernstuben. Aber auch Erwachsene haben ihre Herrgottswinkel und Heiligtümer. Dazu gehören zum Beispiel Bootlegs, vollständige CD- / Plattensammlungen, die der Sammler gerne herzeigt, aber ungern verleiht, oder zum Beispiel Picture-Discs.

2 Reliquien

Im Unterschied zu den unter E1 genannten Postern und CDs erlangen die Gegenstände, die ich mit Reliquien vergleichen möchte, ihre "Heiligkeit" dadurch, daß sie selbst in der Hand des Stars waren. Das können Alltagsgegenstände sein, die an sich eher wertlos sind: Während des Konzertes ins Publikum geworfene verschwitzte Handtücher, abgespielte Drumstöcke, zerbrochene Plektren. Aber sie sind mehr als nur das: Erinnerungen an ein Zusammentreffen mit dem "Halbgott", sein Besitz, für uns gegeben.
Eine Stufe heiliger ist das T-Shirt mit Autogramm: Der "Ich-war-IHM/IHR-nahe" Beweis. Das T-Shirt dokumentiert die sekundenlange individuelle Zuwendung des Stars zu seinem Fan. So ein Kleidungsstück wird nicht mehr gewaschen, daß bloß die Megaperls nicht den Eddingschriftzug porentief rein entfernen, es wird nur noch zu Konzerten des Unterschreibers getragen und erst ersetzt, wenn ein aktuelleres Tour-T-Shirt mit Autogramm ergattert wurde.
Das paßt gut ins Prinzip der Heiligkeit: In den Religionen können gewöhnliche Gegenstände mit Heiligkeit "aufgeladen" werden und später wieder "entladen". Eine Ahnung mag das Abendmahl sein: Brot und Wein werden Leib und Blut - und verlieren diese Deutung nach dem Mahl wieder (nicht bei den Katholiken).

3 Wallfahrtsorte

Im Grunde ist der Weg zu jedem Konzert eine Wallfahrt. Warum, außer um SIE/IHN zu sehen, sollte ich zum Hockenheimring (große Wallfahrt zu Rolling Stones, Pink Floyd, U2: bis 250.000 Pilger), nach Frankfurt oder Mannheim (mittlere Wallfahrt zu Peter Gabriel, Oasis etc.: 5.000 - 20.000 Pilger) oder nach Neu Isenburg, Offenbach oder Babenhausen (kleine Wallfahrt zu den vielen Stars und Sternchen, die 1.000-5.000 Pilger in einer Stadthalle um sich scharen) fahren?
Ein Wallfahrtsort, der rund ums Jahr Zulauf hat, ist das Jim Morrison-Grab in Paris. Die Gegend um das Grab ist deutlich gezeichnet von den Besucherströmen und ihren Hinterlassenschaften (rote Rosen, Spritzen ...). Um den 1971 gestorbenen Morrison hat sich ein richtiger, kleiner Kult entwickelt. Doch dazu später. Graceland in Memphis, Tennessee ist die ehemalige Wohnstatt von Elvis - und dadurch Besuchermassen ausgesetzt. Darüber gibt es breites Liedgut: Zum Beispiel Marc Cohn und seine Elvis Hommage "Walking in Memphis": "Saw the ghost of Elvi s...", der singt in einer Bar zum Klavier. Nach dieser Beobachtung antwortet Cohn im Lied auf die Frage "Are you a christian child?" "Yes, I am tonight" - ein sehr eigenartiges Bekehrungserlebnis! Auch Paul Simon besingt Graceland: "We all will be received in Graceland". Während seiner Militärzeit war Elvis in Fiedberg bei Frankfurt stationiert, wohnte aber in Butzbach. Die beiden Dörfer zanken sich bis auf den heutigen Tag, welches von den beiden das Erbe von Elvis auf deutschem Boden verwalten darf - und damit Wallfahrtsort werden.

4 Gemeinden und Bekenntnisse

Der Anspruch, den Religionen an den Menschen richten, ist exklusiv. Entweder man ist Christ, dann ist man nicht nebenher noch Buddhist, oder man ist eben kein Christ. So weit, so banal. Der Anspruch, den Fan-Clubs an ihre Fans anlegen, ist ähnlich exklusiv. Punker gehen nicht zur Kelly Family, sondern hören Punkrock. Die Take That-Fans mögen die Kelly Family auch nicht, dafür können die Kelly-Fans East 17 nicht leiden. Wer auf Tekkno-Raves geht, wird Oasis hassen. Wer sich einer Richtung des Pop völlig verschreibt, ist beinahe ein Glaubender, sieht die Popwelt nur aus der Perspektive der Offenbarung des Tekkno (oder Heavy Metal, oder, oder...). Mit den Fan-Clubs ist es beinahe wie mit Religionen: Sanyassins die einen, Jünger die anderen.

5 Gottesdienste

Konzerte sind die Gottesdienste der Pop-Moderne. Immer wieder wird das zuletzt besuchte Konzert als "das absolut Größte" beschrieben. Die Cassette danach auf der Rückfahrt im Auto wirkt immer schal und öde. Sie hat eben nicht die theophane Qualität, die die Feier mit dem "Halbgott" hatte. Die Unmittelbarkeit des Musik- und Festerlebnisses ist allein vom nächsten Konzert reproduzierbar. Auch der religiöse Gottesdienst, der eine Feier der Gemeinde, die im Namen ihres Gottes versammelt ist, ist, kommt (was die spontanen Gefühlswallungen angeht) meist nicht an die Gemeindeversammlungen der nicht nur jugendlichen Rocker und Raver heran, die im Namen ihres Stars zusammengekommen sind. Im Pink Floyd-Konzert haben möglicherweise mehr Menschen Transzendenzerlebnisse als in der Kirche.
Transzendenzerfahrungen werden von den Bands bewußt erzeugt, die Fans mit Monumentalem "erschlagen". U2's ZOO-TV ist das wohl aufwendigste Multimediaprojekt, das die Rockgeschichte gesehen hat. Zur Musik kommen Licht und Filmeffekte in unvorstellbarer Größe und Dichte, die wohl erst wieder von U2 überboten werden. Genesis, in den 70er Jahren für ihre lightshow, bestehend aus -zig Landescheinwerfern von Boeing-Flugzeugen, berühmt, nahmen sich dagegen trotz Projektionswand, Videos und Lasereffekten bei ihrer "we can't dance"-Tour hausbacken aus. Die "Voodoo Lounge"-Tour der Rolling Stones benötigte 3 baugleiche Bühnen, weil ihr Auf- und Abbau so viel Zeit benötigt. Clou der transportablen Bahnhofshallen der Rocksaurier ist ein Drache, der hoch über der kochenden Masse Feuer speit. Ein Klassiker ist das fliegende rosa Schwein von Pink Floyd, das die Größe eines Einfamilienhauses hat. Es kann in Sekundenschnelle aufgeblasen werden und fliegt dann über dem Konzertstadion. Um das Gas wieder aus dem Schwein herauszubekommen und es zu verpacken, sind etliche Rowdies den Rest der Nacht beschäftigt.
Die ganze Gigantomanie zeigt die Kleinheit der Einzelnen vor der Macht des Rock. Die Welt wird durch Überraschungen, die mit hohem technischen Aufwand produziert werden, transzendiert. Das Wissen um die Reproduzierbarkeit des Wunders spielt dabei keine Rolle (hierfür ist die klassische Unterscheidung zwischen faktischem - und damit unmöglichem - und begrifflichem Wunder anzuführen). Ein fliegendes, leuchtendes, zehn Meter hohes rosa Schwein, das plötzlich am Nachthimmel erscheint, fasziniert jeden. Die Bühne, ihre Effekte, die Musik, der Rhythmus ergreifen Besitz von den Menschen, das Individuum geht völlig in der Masse auf, ist oftmals extatisch entrückt und gar nicht bei sich selbst. Züge von Besessenheit bestimmen die Situation.
Wenn Konzerte Pop-Gottesdienst sind, dann ist das Walkmanhören die Kurzandacht. Eine Bahnfahrt ändert schlagartig ihren Charakter, wenn statt der Fahrtgeräusche der kleine Cassettenrecorder mit seinen Kopfhörern den Ton angibt. Die Reisende empfindet sich als Mikrokosmos, die Welt vor dem Fenster ordnet sich den durch die Musik auf den Ohren entwickelten Gefühlen und Empfindungen unter. Die Rheinstrecke im InterCity wird zu einer rasenden Hatz, wenn der Mikrokosmos im Abteil rockt oder punkt, der Sitznachbar, der ruhige Musik hört, schwebt im selben InterCity wie auf Wolken dahin. Das Hören von Musik allein kann somit Transzendenz herstellen, die Welt durchdringen und sie für den Hörer umdeuten.

6 Predigten und Segen

Die Predigten und Segen im Rock sind schwer greifbar. Ethische Inhalte werden dem durchs Konzert auf die oben beschriebene Weise ergriffenen und aufnahmebereiten Publikum mitgegeben. Es vergeht kaum ein Konzertgottesdienst, in dem nicht Anweisungen zum "korrekten" konkreten Verhalten in der Welt gegeben werden. Das kann selbstverständlich verschiedene Tiefe haben; während die einen zum Benutzen von Kondomen aufrufen, geben die anderen Weltdeutungspakete mit auf den Weg, geben politische Wahlvorschläge ab, rufen auf zum Beitritt zu amnesty international oder erzählen über die Erziehung des eigenen Kindes zum Frieden. Die kurze Rede mündet dann in ein Lied nach der Predigt, das das Thema aufnimmt und von den Fans begeistert mitgesungen wird ("... I don't trust the government ..." (Fish), "... dann ist tatsächlich Kristallnaach ..." (BAP), "... Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit ..." (Die Ärzte), "... Der Sascha der ist arbeitslos ..." (Die Toten Hosen), "... auf der Straße Knüppel und Blut, bei Mami bieder und lieb ..." (Herbert Grönemeyer), "Oh Tschernobyl, das letzte Signal vor dem Overkill" (Wolf Maahn) und viele Textzeilen mehr).
Genauso gibt es auch die Sendung in die Welt. Peter Gabriel spielte, solange in Südafrika noch das Apartheid–Regime regierte, "Biko" zum Beschluß eines jeden Konzertes. Das Lied endet dann ganz langsam: Während das Publikum im Konzertsaal noch den Refrain schmettert ("Oh Biko ... oh oh oh Biko") und dazu die Faust ballt und dreimal in die Luft reckt, hört ein Instrument nach dem anderen auf zu spielen, die Musiker verlassen nacheinander die Bühne, zuletzt Peter Gabriel. Das Publikum steht noch eingeschworen auf eine Sache mit hochgereckten Fäusten da und befreit sich nur allmählich wieder vom Gedanken daran, daß anderswo gefoltert wurde, während man hier seinen Spaß hatte. Eine moderne Form von Katharsis? Möglich. Bestimmt ist aber eine Sendung in die Welt erfolgt, die die Gemeinde einen soll.

7 Theophanien

Götterdämmerungen haben in der Rockwelt etwas Peinliches. Den Nicht-Fans (siehe E4) entzieht sich der Blick für das Göttliche, sie müssen grinsen. Trotzdem: die Selbstinszenierungen Michael Jacksons zielen auf die leibhafte Erscheinung eines "Gott-Stars". Sein erster Fernsehauftritt im deutschen Fernsehen bei "Wetten daß ...?" in Duisburg hat Thomas Gottschalk minutenlang die Kontrolle über das Geschehen verlieren lassen. Von dem, was vom ZDF gesendet wurde (eine Live-Schaltung mit Günther Jauch), hat das Hallenpublikum bestimmt nichts mitbekommen. Michael Jackson hat sein engelgleiches, weißes Hemd beim playback gesungenen "Earth song" hoch über dem Publikum in einem Krankorb schwebend zerrissen und nach dem Auftritt "I love you" gesagt. Die Magie dieser Szene erschließt sich wohl nur Jackson-Fans. Zu weiteren Begeisterungstürmen im Jackson-Fan-Club führte sein "Lasset die Kinder zu mir kommen"-Gestus, als er das Brühler Phantasialand eigens für sich öffnen ließ und mit ausgesuchten Kindern begeistert mehrmals hintereinander Achterbahn fuhr.
Das macht die erstmalige Niederkunft des (amerikanischen) Gottes auf die (deutsche Fernseh-) Erde wieder etwas zunichte. Zu Michael Jacksons Ehrenrettung sei hier wenigstens kurz darauf verwiesen, daß er sich (kindlich) aufrecht um die Zukunft der Erde Sorgen macht und die Filmmusik zu "Free Willy" (politically correct: Gegen den Walfang) geschrieben hat - und den "Earth Song", in dessen Video die Zerstörung der Natur thematisiert wird, sogar mit einer Heilszusage am Schluß: Die Bäume im Regenwald auferstehen und alles wird gut.

8 Mythos: 3 x toter Jesus

Ein Beispiel für die Mythosbereitschaft des aufgeklärten, modernen Rockkonsumenten bietet eine Serie von Todesfällen:
Innerhalb eines Jahres starben 1970/71 Jimi Hendrix (1942-70), Janis Joplin (1943-70) und Jim Morrison (1943-71).
Sie haben den Anfangsbuchstaben J wie Jesus sowie das Sterbealter (etwa so alt wie Jesus bei seiner Kreuzigung) gemeinsam. Ihr Lebenswandel zielte darauf ab, die schlechte Welt zu durchbrechen, ihr ein besseres, gerechteres Gesicht zu geben. Sie versuchten das durch Unangepaßtheit, durch Infragestellen von Normen, zu erreichen. Soweit schienen sie eine Parallele zu Jesus selbst zu sein, Vorboten eines "jüngsten Tages". Wichtig waren dabei der hemmungslose Gebrauch und Genuß von Drogen, Alkohol, Sex. Das Thema von Morrison war ohnehin Transzendenz, "break on through to the other side" sein Motto, er selbst Prophet einer neuen Zeit. Nach dem Tod der drei Rock-Ikonen gab es aber auch Ernüchterung. Viele AnhängerInnen der drei J wollten dann doch lieber nicht 27jährige Drogentote sein. Der Anfang vom Ende der Hippieszene war markiert.

9 Er ist wahrhaftig auferstanden! (Elvis lebt!)

Dem Tod hat die Popkultur auch seinen Stachel genommen. Es kann von mehreren Auferstehungen berichtet werden. Der prominenteste "Untote" ist Elvis. Er wird (oft in Memphis, vgl. E3) immer wieder gesehen, sein Geist weht, wo er will. Möglicherweise kann man ihn anrufen (Dire Straits: "Calling Elvis"), auf seinen Auferstehungsmythos wird im Film: "Der Tod steht ihr gut" angespielt: Da lebt Elvis unversehrt und unsterblich weiter. Aber auch die neue Beatlemania ist auf die Auferstehung John Lennons in den Datenraum zurückzuführen. Lennons digitalisierte Stimme singt, Computer und Sampler sei's gedankt, zusammen mit seinen alten Weggefährten fast 15 Jahre nach Lennons Tod "free as a bird" und steigt in höchste Chart-Regionen. Auch Freddie Mercury räumt zeitgleich vier Jahre nach seinem Tod mit Queen ab. Seine posthume Botschaft: "this could be heaven for everyone".

10 Rockreligionen

Das Paradies von Woodstock

Im August 1969 fand unweit von New York ein Festival statt, das zur Legende wurde. Die "Systematik" von Woodstock besteht aus einem Gemisch von Liebe, Frieden, Musik, Drogen und Ferien vom Druck des Amerika der 60er Jahre – sowie Meditieren auf fernöstlich. Das berühmteste Festival der Rockgeschichte, bei dem schon einige Größen, die heute noch gehört werden (zum Beispiel Joe Cocker), auftraten, zog Unmengen junger Leute an. Die Gegend wurde für kurze Zeit Notstandsgebiet und mußte vom Militär mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Sanitäre Anlagen gab es kaum, sie wurden notdürftig durch einen Bach ersetzt. Den Menschen kam es trotzdem vor wie das Paradies. Ein Schlaraffia ohne Gewalt, voller sanfter Menschen, alle so natürlich, kindlich unbekümmert, die Luft schwebt voller Musik. Die Tage von Woodstock galten vielen als Ausblick auf den Himmel: So müßte es wohl sein.
Die Wiederholung ist dabei genauso unmöglich wie das Wiederholen des Garten Eden auf die Erde: Woodstock II im Sommer 1994 erreichte nicht das Original. Das ehemalige Paradies war Handelszone von Coca Cola geworden, die Nackten, die zwar ihre Unterwäsche, nicht aber ihre Handys ablegten, waren bemühte Kopien ihrer Eltern, die vor 25 Jahren spontan die Matschrutsche "erfanden".

Tommy, der blinde Pinball-Wizard

The Who hatten eines Tages die geniale Idee, ein Doppelalbum mit zusammenhängendem Thema aufzunehmen, einen Film zur Musik zu drehen und so ein völlig neues, seitdem immer wieder kopiertes Kapitel der Rockgeschichte, das Konzeptalbum, einzuläuten. Das Thema war für The Who ein erfundenes religiöses System. Dieses System weist vieles auf, was eine Religion braucht: Es gibt einen Vorgängerkult, einen charismatischen Religionsstifter, Tommy eben, die Überhöhung des Kultes (Eschatologie, Heilszusage) durch Zerschlagen der Flipperautomaten, die in diesem Kult zu Kultgegenständen wurden. Der Inhalt der Religionsausübung ist, mit verbundenen Augen Flipper zu spielen, und dabei möglichst gute Ergebnisse zu erzielen. Der beste blinde "Pinball-Wizard" ist der Religionsstifter Tommy selbst, der seine Sehbehinderung erst durch ein negatives, frühkindliches Erlebnis erlangt hat. Es soll beim Erwähnen des Phänomenes bleiben, die einzelnen religiösen Momente dieser fiktiven Religion brauchen nicht näher beleuchtet werden.

F Fazit

Zum Schluß möchte ich die Ergebnisse dieser Arbeit in Beziehung setzen zur Religionsdefinition von Clifford Geertz.
Ist Rock
1 ein Symbolsystem, das darauf zielt, ...
Ob Rock in seiner noch sehr jungen Geschichte eigene Symbole entworfen hat - oder dabei ist, eigene Symbolsysteme zu errichten -, bezweifele ich. Vielmehr meine ich, daß Rock seine Symbole wie in D5 und E beschrieben aus seinem kulturellen, damit auch religiösen, Umfeld bezieht und für sich nutzbar macht. Rock benutzt eine Vielzahl sich widersprechender Symbole und Symbolsysteme (vom Teufelskult bis zum Sakro-Pop), so daß man nicht von einem einheitlichen System sprechen kann.
Die zur Verfügung stehenden Symbole sind aber durchaus in der Lage...
2 starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu
schaffen, ...
... die in einer der in E beschriebenen Weisen die Musik in sich wirken lassen. Das Schaffen von Stimmung(-en) ist gar erklärtes Ziel. Motivationen müssen nicht, können aber erzeugt werden, wie in E6 dargelegt. Allein die Stärke, Dauer und vor allem die Frage, wie umfassend die Motivationen sind, variieren stark - abhängig von der inhaltlichen Dichte des von der KünstlerIn Gebotenen und von der Aufnahmewilligkeit der HörerInnen.

3 indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und ...
Dadurch, daß die Symbolsysteme der Umwelt entlehnt sind, werden auch die durch sie verbildlichten Seinsvorstellungen angestoßen. Das kann auf der Ebene eines Peace-Zeichens bleiben, kann auch die in F2 und E6 angesprochenen Lieder meinen, die zu ethischem Handeln aufrufen wollen. Eine das ganze Leben umfassende Systematik wird man wohl vergeblich suchen.

4 diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß ...
Die vom "Symbolgemisch" des Rock angestoßenen Einzelstimmungen finden auf jeden Fall Zustimmung. Die HörerInnen suchen sich schließlich aus, wem sie zuhören, ihr Vertrauen schenken wollen. Textzeilen werden mitgesungen, weil sie den MusikkonsumentInnen aus dem Herzen sprechen, ihr "So isses!" erheischen. Rock bildet eine maximale Aura von Faktizität um sich.

5 die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen?
Die Aura von Faktizität ist dann natürlich auch stark genug, die Wirklichkeitssicht zu bestimmen. Popmusik dringt aus unzähligen Lautsprechern von Radioweckern, Autoradios, Kaufhausbeschallungen (und, und, und ...) in unsere Arbeits- und Freizeitwelt, daß sie der Wirklichkeit ihren Klang gibt, bei dem Einzelne bisweilen aufhorchen und Stimmungen und Motivationen assoziieren. Rock überzieht das chaotische Diesseits mit love, love, love.

Diese Seite wurde von Björn Raddatz geschrieben.
 



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver