www.Crossover-agm.de Neue geistliche Lieder - neue geistlose Lieder?
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von Jens-Erik Paul

(Vortrag vom 11.09.1995 in Bremen)

"Gut ist es, ein Lied zu singen, dir meinem Gott" heißt es in einem Kanon, der für den Kirchentag 1995 in Hamburg geschrieben worden ist. Gut ist es, ein Lied zu singen, dir meinem Gott. Sicher ist es gut. Doch was wird gesungen? Haben die Lieder, die wir unserem Gott, aber auch uns selbst singen, einen geistlichen oder auch geistreichen Inhalt? Speziell für den Bereich der Neuen geistlichen Lieder möchte ich hierüber mit Ihnen zusammen ein wenig nachdenken.

Doch bevor wir uns den Inhalten Neuer Geistlicher Lieder zuwenden, sollten wir erst einmal klären, wovon wir sprechen, wenn wir von Neuen Geistlichen Liedern reden. Die "Mindestanforderung" trägt dieser Begriff selbst in sich: Neue Geistliche Lieder sollten "neu" sein, "geistlich" sein und sie sollten ein Lied sein. Das klingt banal, aber diese Kriterien sind nicht leicht zu erfüllen.

Fangen wir mit dem Kriterium "neu" an. Schaut man in den Bereich der Popmusik, so heißt "neu", was nicht älter als ca. einen Monat ist. Die Schnellebigkeit in diesem Bereich ist von den "Machern" gewollt und von der Zielgruppe akzeptiert. Im Bereich der Neuen Geistlichen Lieder sieht das anders aus. "Neu" heißt hier in etwa "entstanden irgendwann zwischen 1970 und 1990". Man sieht dies an Titel wie z. B. "Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt". Ein Lied, daß einige gerne singen und andere noch gar nicht kennen. Dabei ist dieses neue Gesangbuchlied aus dem Jahre 1979, also so alt wie manche seiner "Fans".

"Neu" bezieht sich also nicht unbedingt auf das Alter der Lieder, sondern eher darauf, etwas "Neues" zu wagen. Neue geistliche Lieder sind nach 1960 aus einem Aktualitätsbedürfnis heraus entstanden. Damals wurde auf Initiative des Pfarrers Günter Hegele ein Preisausschreiben veranstaltet. Dort sollten neue Geistliche Lieder eingesendet werden, die dem auch von Jazz und Unterhaltungsmusik geprägten musikalischen Resonanzvermögen der Jugend entsprechen, schrieb Hegele später. Ob der Siegertitel des ersten Wettbewerbes diesem Kriterium entspricht, können wir nachher beurteilen, wenn wir es genauer untersuchen. Das Lied heißt "Danke für diesen guten Morgen".

Das Kriterium "geistlich" soll ja Hauptbestandteil dieses Vortrages sein, so daß ich an dieser Stelle gleich das Kriterium "Lied" behandeln will.

Was ist ein Lied? Lied nennen wir immer erstmal alles. Und genauso wird auch oft mit dem Begriff Neues Geistliches Lied verfahren. Es gibt viele Texter und Komponisten, die aus ihrem Glauben heraus und weil sie Spaß am Texten und Komponieren haben, Lieder schreiben. Doch das allein reicht nicht aus für das etwas zweifelhafte Prädikat "Neues Geistliches Lied". Denn der wichtigste Punkt ist das "auf den ersten Blick etwas platte Kriterium der (gemeinsamen!) Singbarkeit (...). Andernfalls handelt es sich nicht um ein Lied, jedenfalls nicht in Sinne kirchengemeindlicher Verwendbarkeit", schreibt Stephan Kiepe-Fahrenholz in einem Artikel. Er muß es wissen: denn er ist selbst Liedertexter im Profilager. Doch dieses Argument der gemeinsamen Singbarkeit bezieht sich nicht nur, wie man denken könnte, auf die Komposition. Auch manche Texte sind nicht für alle nachvollziehbar und somit singbar. Wir werden gleich zu dem Bereich noch kommen.

Nachdem nun die "Mindestanforderung" geklärt ist, noch ein Punkt, den meiner Meinung nach ein Neues Geistliches Lied auch beinhalten sollte: "Ein Neues Geistliches Lied soll mich an irgendeiner Stelle überraschen - dann wächst die Vermutung, es könne verwendbar oder gar allgemein wertvoll sein. Das, was ich ausschließlich und womöglich noch auf holpernden Versfüßen von dem überzeugt, was ich ohnehin schon weiß, lege ich aus der Hand. Es ist nicht 'neu'." Besser als Stephan Kiepe-Fahrenholz es in einem Vortrag "Vom Umgang mit Neuen Geistlichen Liedern" formuliert hat, läßt es sich fast nicht sagen.

Soweit also eine kleine Standortbestimmung Neuer Geistlicher Lieder. Nun möchte ich einige Exemplare dieser Gattung hier vorstellen und sie gleichzeitig auf ihren Inhalt hin überprüfen. Dazu werde ich einige Textkriterien aufstellen, die ich für wichtig halte im Umgang mit diesen Liedern. Diese Kriterien stammen nicht allein von mir, sondern vor allem von Kurt Rose, einem Liedertexter, den ich einmal auf einer Texterseminar als Referent erleben durfte. Von ihm stammen Lieder wie "Das wünsch' ich sehr" und "Gottes Ruhetag", die sich auch in neuen Gesangbuch finden.

Das erste Kriterium heißt: "Der Text muß dicht sein". Das heißt, daß das Wichtigste zusammengefaßt wird. Ein Text wird zum Liedtext, wenn er "verdichtet" wird. So wird die Nachricht, die gute Nachricht, vermittelbar. Es muß jedes Wort genau sein, jedoch soll der Text Raum für Assoziation, Empfindung, Träume lassen. Überflüssiges ist zuviel.

Allerdings sollte diese Dichte auch nicht übertrieben werden. Oft haben wir den Fall, daß eine Gemeinde ein Lied nur einmal singt. Erschließt sich der Inhalt dann nicht gleich beim Singen, erschließt er sich nie. Also eine gewisse Dichte ist sicher erforderlich, aber sie darf nicht übertrieben werden.

Das zweite Kriterium: "Der Text muß sprachlich richtig sein". Hiermit ist nicht nur die Grammatik und ähnliches gemeint. Daß dieses richtig ist, davon gehe ich einfach aus. Gemeint ist "die Sprache". "Ein Gesprächsstenogramm, etwa in der U-Bahn und aufgenommen, ist längst noch kein Kunstwerk". Hochheiliger Ton und Alltagssprache gehören nicht in den Gottesdienst, so heißt es in den Kriterien. Doch sollte man hier vorsichtig darauf achten, daß man nicht eine eigene Kirchen-(sprach-)kultur entwickelt, die den Menschen, die nicht die ganz feste Bindung an Kirche haben, nichts mehr gibt.

Der Text muß sprachlich richtig sein, will auch sagen: hier liegt ein Lied vor, keine Abhandlung, kein Essay, keine Predigt. Dabei ist der konkrete Ausdruck immer besser als der abstrakte. Wer konkret wird, der legt sich fest, den kann man belangen. Ein sprachlich richtiger Text verlangt auch, daß der Text beim Namen nennt, was er meint.

Zum dritten Kriterium: "Ein Text muß theologisch wahr sein". Das heißt, es soll die gute Nachricht wiedergegeben werden. Ein Christ in unserer Zeit muß sich mit dem Text identifizieren können. Diesen Satz finde ich ganz wichtig, aber auch, genauer überlegt, unheimlich schwierig. Können sich denn alle Christen "in unserer Zeit" mit einem Text, mit einer Aussage, mit einer Theologie identifizieren? Müßte ein solches Lied nicht extrem vielschichtig sein? Oder anders gefragt: müßte solch ein Lied nicht völlig ohne klare und feste Aussage sein? Liegt hier vielleicht der Grund für die Inhaltslosigkeit vieler Neuer Geistlicher Lieder?

Ich möchte an diese Kriterien von Kurt Rose noch ein weiteres anhängen, das mir wichtig ist: "Ich möchte als Sänger eines Liedes vorkommen mit meinen Problemen und Wünschen. Ich möchte angesprochen sein".

Das alles in einen kurzen knappen Liedtext zu packen, ist schon eine Kunst.

Ich habe jetzt hier vier Kriterien für den Liedtext formuliert. Sicher ist auch die Musik eines Liedes ein ganz wichtiger Bestandteil. Auch hierfür ließen sich Kriterien aufstellen. Doch das möchte ich lieber anderen überlassen. Mir soll es hier nur um die textlichen Inhalte gehen.

Lassen Sie uns nun endlich konkret werden und diese Kriterien auch anwenden. Allerdings sieht man sich hier plötzlich einer Flut von Liedern ausgesetzt. Es gibt einfach zu viele Lieder. Ich habe für heute ein paar Lieder ausgewählt, die mir beispielhaft erscheinen.

Am Anfang ging ich schon kurz auf das Lied "Danke" von Martin Gotthard Schneider ein. Es war, das möchte ich noch einmal wiederholen, das Siegerlied des ersten Preisausschreiben in Tutzing für Neue Geistliche Lieder. Damit wird in der Literatur ein kleiner Wendepunkt in der eigentlichen Musik beschrieben. Es wurden Lieder geschrieben, die ganz bewußt neue Wege gehen sollten. Die Lieder dieser vier Preisausschreiben insgesamt wurden auch von Plattenfirmen wie Electrola auf Platten gepreßt und wie Schlager vermarktet. Dieses Lied wird allgemein sehr unterschiedlich bewertet. Der Autor selbst bezeichnet seine Lieder wie folgt: "Es sind neue Lieder geistlichen Inhalts (ohne liturgisch gebunden zu sein), die eine zeitgemäße und verständliche 'Sprache' sprechen wollen (ohne der Verflachung des üblichen Schlagers zu verfallen)". Andere sehen es eher als "Schnulze" an, da ihnen "Schlager" noch zu wohlwollend sei. Wieder andere verteidigen dieses Lied, halten es nicht für "trivial", sondern für einen "großen Wurf" und "einen Glücksfall eines modernen evangelistischen Liedes".

Der Autor hat, so findet es sich in den Notenausgaben der Tutzing-Wettbewerbe, das Lied nicht so einfach komponiert, wie wir es heute oftmals singen. Denn während wir meistens in einer Tonart bleiben (häufig D-Dur), ändert Schneider für jede Strophe die Tonart und geht um einen halben Ton nach oben.

Danke für diesen guten Morgen,
danke für jeden neuen Tag.
Danke, daß ich all meine Sorgen
auf Dich werfen mag.

Danke für alle guten Freunde,
danke, oh Herr, für jedermann.
Danke, wenn auch dem größten Feinde
ich verzeihen kann.

Danke für meine Arbeitsstelle,
danke für jedes kleine Glück.
Danke für alles Frohe, Helle
und für die Musik.

Danke für manche Traurigkeiten,
danke für jedes gute Wort.
Danke, daß Deine Hand mich leiten
will an jedem Ort.

Danke, daß ich Dein Wort verstehe,
danke, daß Deinen Geist Du gibst.
Danke, daß in der Fern und Nähe
Du die Menschen liebst.

Danke, dein Heil kennt keine Schranken,
danke, ich halt mich fest daran.
Danke, ach Herr, ich will Dir danken,
daß ich danken kann.

(Text: Martin Gotthard Schneider, Rechte: Gustav Bosse Verlag KG, Regensburg)

Wir haben es hier mit einem der sehr wenigen Dankes-Lieder zu tun. Wahrscheinlich ist das der Grund, daß uns dieses Lied aus dem Anfang der sechziger Jahre Mitte der neunziger immer noch begegnet. Die verwendeten Bilder sind auch heute noch nachvollziehbar. Einiges wird möglicherweise heute in einem ganz anderen Licht gesehen, als es damals gemeint gewesen ist, so z.B. die Zeile "Danke für meine Arbeitsstelle". Früher wurde an dieser Stelle kritisiert, daß hier "Beruf" auf "Arbeitsstelle" reduziert wird. Heute gibt es genug Menschen, die dankbar sind für eine "Arbeitsstelle", egal in welchem "Beruf".

Das 'Danke' zu Beginn einer jeden neuen Zeile ist offen, das dichterische Stilmittel der Reihung hat anfangs seine Vorteile. Auf engem Raum wird das achtzehnmalige "Danke" jedoch bald als aufdringlich und schwatzhaft empfunden.

Doch lassen Sie uns das Lied anhand der aufgestellten Kriterien untersuchen.

"Der Text muß dicht sein". In sechs Strophen wird hier gedankt. Gedankt für alles Mögliche. Sicher ist alles wichtig, vor allem das Danken. Aber dieser Text ufert aus, es bleibt nicht viel mehr "hängen" als das "Danken". Außerdem ist der Text nicht eindeutig. An einigen Punkten läßt er Raum für Assoziationen ("für alles Frohe, Helle"), an anderen Stellen geht es um ganz konkrete Dinge ("Arbeitsstelle", "Musik").

Aber obwohl hier achtzehnmal gedankt wird, finden sich keine inhaltlichen Doppelungen. Ob aber alle achtzehn "Danksagungen" auch notwendig sind, möchte ich bezweifeln. Hier wäre weniger mehr gewesen.

"Der Text muß sprachlich richtig sein". Hier kann sich Schneider überhaupt nicht für einen Sprachstil entscheiden. Nehmen wir die Stelle "Danke für meine Arbeitsstelle". Während hier offenbar versucht wird, die Alltagssprache mit einzubeziehen, tauchen im folgenden wieder alte Begriffe auf wie "daß deine Hand mich leiten will an jedem Ort" und "daß deinen Geist Du gibst". Hier werden nicht nur alte Begriffe, sondern auch früher übliche grammatikalische Verdrehungen verwendet, die vielleicht im 17. Jahrhundert ein häufiges Stilmittel waren, heute aber meiner Meinung nach fehl am Platze sind. Hätte Schneider dieses Stilmittel wenigstens konsequent angewendet! Aber auf mich macht es den Eindruck, daß diese Form nur gewählt worden ist, weil das Versmaß es an diesen Stellen gebot und er auf die jeweiligen Bilder nicht verzichten wollte. Das ist "zusammengeschustert".

In Vers 4 haben wir die Zeile "Danke für manche Traurigkeiten". Diese Wendung ist mehr als mißverständlich. Es hat was von "hübscher Verkleinerung". Bei den Traurigkeiten kommt es dem Dichter anscheinend auf eine mehr oder weniger nicht an. Aber vielleicht handelt es sich hier auch eher um eine Flickschusterei als um eine oberflächliche Sichtweise.

Der Ansprechpartner "Herr" wird im zweiten Vers direkt angesprochen. Vorher war kein Platz, und die Danksagung "Für jedermann" hätte diese Zeile nicht ganz ausgefüllt. Danach wird Gott in Vers 4 gedankt, das erste Mal für sein direktes Handeln ("daß deine Hand mich leiten will an jedem Ort"). Die Verse 5 und 6 "gehören" dann ganz Gott. Schade, daß das Lied sich erst so spät "bekennt".

"Der Text muß theologisch wahr sein". Kann sich ein Christ in unserer Zeit mit dem Text identifizieren? Wie ich eben schon sagte, wird Gott erst zum Schluß richtig ins Spiel gebracht. Da steckt für mich keine eindeutige Zielrichtung des Liedes drin, da gleich am Anfang diese Danksagungen eineinhalb Strophen ins Nichts laufen gelassen werden, somit quasi verpuffen oder voraussetzen, daß man schon weiß, wer gemeint ist.

Um es noch einmal zu wiederholen: es ist wichtig, Gott für so vieles zu danken. Wir haben heute das Danken verlernt, gerade Gott gegenüber. Dieses Lied kann uns immer wieder daran erinnern, daß wir nicht nur fordern sollen (egal ob wir von Gott etwas fordern oder von unseren Mitmenschen), sondern auch Danke sagen müssen.

Vor einiger Zeit war ich bei einer Hochzeit, wo sich das Brautpaar dieses Lied gewünscht hat. Hinterher hatte ich einige Gespräche mit Hochzeitsgästen über dieses Lied. Tenor: Auch bei den Leuten, die seit ihrer Konfirmation nichts mehr mit Kirche zu tun haben, war dieses Lied gut angekommen und weckte Erinnerungen an ihre Unterrichtszeit, wo es damals schon gesungen worden ist.

Das heißt, daß dieses Lied für diese Menschen einfach auch nur ein Anknüpfungspunkt an Kirche sein kann. Damit hat ein solches Lied natürlich eine Berechtigung in einer solchen Trauung. Besser gesagt: es gehört dahin, wo man "Randsiedler" des Glaubens erreichen will. Aber: "Daß das Danke-Lied für viele eine Hilfe ist, daß Gott auch in seichten, sentimentalen Liedern wirken kann, sind Trost und Hoffnung, keine Entschuldigung. Mit Verboten ist freilich nichts erreicht. Man kann nur versuchen, mit Argumenten und Hinweis auf bessere Gegenbeispiele zu überzeugen". So schreibt es Thust. Aber wo gibt es solche Gegenbeispiele?

Machen wir einen Zeitsprung. Springen wir zum Kirchentag in Hamburg. Aber nicht in das Jahr 1995, sondern in das Jahr 1981. Damals stand der Hamburger Kirchentag unter der Losung "Fürchte dich nicht". Damals wie heute wurden Lieder zur Losung geschrieben. Zwei sehr unterschiedliche Erlebnisse möchte ich Ihnen hier gern vorstellen. Da wäre erst einmal das Lied "Fürchte Dich nicht" von Fritz Baltruweit. Ich möchte Ihnen das Lied gern in einer Aufnahme vorspielen, die Baltruweit selbst mit seiner Band, der "Studiogruppe Baltruweit", aufgenommen hat. Dadurch bekommen wir sicher einen unverfälschten Eindruck von dem Lied.

Fürchte Dich nicht,
gefangen in Deiner Angst,
mit der Du lebst.
Fürchte Dich nicht,
gefangen in Deiner Angst.
Mit ihr lebst Du.

Fürchte Dich nicht,
getragen von seinem Wort,
von dem Du lebst.
Fürchte Dich nicht,
getragen von seinem Wort.
Von ihm lebst Du.

Fürchte Dich nicht,
gesandt in den neuen Tag,
für den Du lebst.
Fürchte Dich nicht,
gesandt in den neuen Tag.
Für ihn lebst Du.

Dieser Text fällt natürlich auf durch seine Schlichtheit, um nicht zu sagen, Einfallslosigkeit. Ein Text, der über drei Strophen geht und insgesamt aus 25 verschiedenen Worten besteht, ist in der vorliegenden Form einfach flach. Doch wenden wir die Kriterien einmal an auf das Lied.

"Der Text muß 'dicht' sein". Sicher. Noch knapper kann ein Lied nicht sein, das noch halbwegs etwas aussagen will. Es "muß das wichtigste zusammengefaßt werden". Schon hier stellt sich die Frage, was eigentlich wichtig ist in diesem Liedtext, wo die Aussage steckt.

"Fürchte dich nicht" soll Mut machen, Mut in der Angst, in der wir alle leben. Mut wozu? "Mit ihr (der Angst) lebst Du". Also Annahme der Angst. Ist in der ersten Strophe noch eine, wenn auch fragwürdige, "Lebenshilfe" enthalten, so fallen die 2. und die 3. Strophe völlig ab. Platte Aussagen werden durch Wiederholungen auch nicht Inhaltsreicher. Die Wortverdrehung, die in der ersten Strophe die Lösung gebracht hat, führt hier nicht weiter, sondern wiederholt nur die erste Zeile. Die Aussage der zweiten Strophe ist einfach, daß wir von Gottes (?) Wort leben und uns (wiederum) nicht fürchten sollen. In der dritten Strophe werden wir in den neuen Tag gesandt, für den wir leben, und darum sollen wir uns nicht fürchten (das wissen wir ja schon).

"Es muß jedes Wort genau sein (...), Überflüssiges ist zuviel". Platz für Überflüssiges ist hier wahrlich nicht mehr. Es sei denn, man kommt zu dem Schluß, daß alles überflüssig ist.

"Der Text muß sprachlich richtig sein". Das ist hier, zumindest auf der grammatikalischen Ebene, gegeben. Aber: "Ein sprachlich richtiger Text verlangt auch, daß der Text beim Namen nennt, was er meint". Wenn in der zweiten Strophe von "seinem Wort" gesprochen wird, so kann das das Wort von Gott, Buddha, Mohammed oder des Lebenspartners sein. Konkret wird Baltruweit hier nicht. Von einer klar Gott-bezogenen Aussage kann man hier nicht sprchen. Der peinliche "theologische Schlenker" findet hier überhaupt nicht statt. Ich muß für mich sagen, daß ich ein Lied peinlich finde, in dem Gott nur schüchtern angedeutet wird.

"Der Text muß theologisch wahr sein". Das Lied "Fürchte dich nicht, gefangen in deiner Angst" ist sicher ein Lied, auf das die Aussage paßt: "Ein Christ muß sich mit dem Text identifizieren können". Auf den ersten Blick, auf das erste Lesen, auf das erste Singen kann man sich damit identifizieren, aber meiner Meinung nach nur deshalb, weil dem Lied die Aussage fehlt. Es hat keine Kanten, es ist stromlinienförmig, es rutscht so durch. Die gute Nachricht soll, so steht es in den Kriterien, "nüchtern und einprägsam" sein. Die Aussage "Fürchte dich nicht" ist sicher einprägsam. Sie ist auch eine Aussage, die wir öfter hören sollten. Aber warum macht Baltruweit dann nicht einen guten Kanon daraus, sondern versucht, entweder den Text zu strecken oder platte Inhalte noch zu verarbeiten?

Ich habe unter den Kriterien selbst formuliert, daß ich gern vorkommen möchte mit meinen Problemen und Wünschen. Diesen Punkt möchte ich hier noch erweitern: Ich möchte nicht, daß meine Probleme und Wünsche nur angesprochen werden und dann liegengelassen werden, sondern ich möchte auch etwas mitnehmen aus diesem Text. Aus dem vorliegenden Text kann ich nichts mitnehmen.

Der Text sollte kurz und knapp sein. Trotz seiner schon beschriebenen Knappheit eignet sich "Fürchte dich nicht, gefangen in deiner Angst" nicht für die Kirchentagsstraßenbahn, da der Text nicht im Ganzen einprägsam ist. Die Wortverdrehungen, ein sicher sehr interessantes Stilmittel, machen es schwer, diesen Text auswendig zu singen.

Ein anderes Lied des 81er Kirchentages ist das Lied "Mache den Furchtsamen Mut", Text von Dieter Frettlöh, Musik Detlev Jöcker. Dieses Lied lehnt sich genau wie "Fürchte dich nicht, gefangen in deiner Angst" an die Losung an, doch führt Frettlöh die Gemeinde in eine ganz andere Richtung. Hören wir uns auch dieses Lied in einer Version der Gruppe "Die Menschenkinder" an, die der Komponist selbst leitet.

Mache dem Furchtsamen Mut.
Sag nicht nur: "Fürchte Dich nicht".
Gehe mit ihm ein Stück Wegs,
leg ihm die Hand auf die Schulter.
Mache dem Furchtsamen Mut.

Tritt für den Furchtsamen ein.
Sag nicht nur: "Fürchte Dich nicht".
Tue den Mund für ihn auf,
hilf ihm und Dir, Dich zu wehren.
Mache dem Furchtsamen Mut.

Nimm doch den Furchtsamen mit.
Sag nicht nur: "Fürchte Dich nicht".
Gib ihm ein Dach für die Nacht.
Gib ihm Geleit in den Morgen.
Mache dem Furchtsamen Mut.

Mache dem Furchtsamen Mut.
Sag nicht nur: "Fürchte Dich nicht".
Stell Dich zu ihm und versuch
mit ihm den Frieden zu leben.
mit ihm den Frieden zu leben.

(Text: Dieter Frettlöh, Rechte: MOD-Verlag Münster)

In diesem Lied geht es "zur Sache". Im Gegensatz zu Baltruweit zeigt Frettlöh hier ganz konkrete Wege auf, wie die theoretische Losung in praktische Handlung umgesetzt werden kann.

"Der Text muß dicht sein". Dieser Text ist genau. Nachdem in der ersten Zeile eine kurze Handlungsaufforderung steht, die, für sich allein genommen, nur platt wirken würde, folgen ab Takt 5 Konkretisierungen. Nur zwei Zeilen werden ständig wiederholt: "Sag nicht nur: Fürchte dich nicht" und "Mache dem Furchtsamen Mut". Dies sind gleichzeitig die Hauptaussagen des Liedes: Reden allein hilft nicht, wichtig ist das Mutmachen. Oder um mit einem anderen Liedtext zu sprechen: "Glaube nicht daran, daß dein Glauben den Hungernden Brote bricht ohne deine Hände, ohne deine Füße, ohne deinen Mund" (Nis-Edwin List-Petersen).

"Der Text muß sprachlich richtig sein". Unser Text spricht eine einfache, klare Sprache. Das Ganze wirkt wie aus einem Guß. Die verwendeten Bilder sind klar und für jeden nachvollziehbar. Streiten könnte man sich, ob eine Formulierung wie "Gib ihm Geleit" sprachlich in den Kontext paßt, jedoch fällt diese Formulierung beim Singen nicht "heraus".

Allerdings habe ich vorhin bei den Kriterien auch verlangt, daß ein sprachlich richtiger Text auch beim Namen nennt, was er meint. Wenn man das nun auf Gott bezieht, so fällt auf, daß hier an keiner Stelle von Gott geredet wird. Er kommt nicht vor. Und doch: ich spüre ihn. Und zwar in der Aussage "Sag nicht nur: Fürchte dich nicht". Hier ist kein Verstecken hinter göttlichen Aussagen möglich! Hier ist ganz simpel, schlicht und ergreifend Nächstenliebe gefordert.

"Der Text muß theologisch wahr sein, ein Christ in unserer Zeit muß sich mit dem Text identifizieren können". Jeder und Jede weiß, daß die Forderungen dieses Liedes eigentlich nicht neu sind und wir auch in der Bibel zu genau diesem Handeln aufgefordert werden so z.B. in der Rede vom Weltgericht "Was ihr nicht getan habt einen von diesen Geringsten, das habt ihr mir nicht getan" (Matthäus 25). Und wir wissen auch, daß wir es immer wieder nicht tun. "Ein Christ in unserer Zeit" muß sich also angesprochen fühlen und muß sich, wohl oder übel, damit identifizieren.

"Ich möchte vorkommen in dem Text". Dieser Text kann natürlich, obwohl er über "den Furchtsamen" in der dritten Person spricht, auch eine "Anklage" an die Mitchristen sein, nach dem Motto: "Warum macht mir keiner Mut? Ich hätte auch gern jemanden, der mit mir ein Stück Wegs geht". Nur bleibt diese Anklage, wenn es denn eine gibt, ungehört, da hier offiziell nur jemand "den moralischen Zeigefinger" hebt und jemand anderes auf seine Versäumnisse einem Dritten gegenüber hinweist.

Alles in allem hat dieses Lied einen klareren Charakter als "Fürchte dich nicht". Schade, daß es fast schon in Vergessenheit geraten ist: In heutigen Liederbüchern ist es fast gar nicht mehr zu finden.

Auf ein weiteres Lied vom Hamburger Kirchentag 1981 möchte ich hier in anderer Form eingehen, da zu diesem Lied gerade eine Diskussion in der Zeitschrift "Für den Gottesdienst", herausgegeben von der Arbeitsstelle für Gottesdienst und Kirchenmusik Hannover, läuft. Das Lied heißt "Freunde, daß der Mandelzweig" und ist die Vertonung eines Gedichtes von dem israelischen Neutestamentler Schalom Ben-Chorin mit dem Titel "Das Zeichen".

Freunde, daß der Mandelzweig
wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig,
daß die Liebe bleibt.

Daß das Leben nicht verging,
soviel Blut auch schreit,
achtet dieses nicht gering,
in der trübsten Zeit.

Tausende zerstampft der Krieg,
eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg
leicht im Winde weht.

Freunde, daß der Mandelzweig
sich in Blüten wiegt,
bleibe uns ein Fingerzeig,
wie das Leben siegt.

(Text: Schalom Ben Chorin, Rechte: Hänssler-Verlag)

Stephan Kiepe-Fahrenholz hat in dem schon erwähnten Vortrag "Vom Umgang mit Neuen Geistlichen Liedern", der in der Zeitschrift abgedruckt ist, diesen "landauf landab geschätzten Song" als "abschreckendes Demonstrationsobjekt' herangezogen. Ich möchte einige Zitate von Kiepe-Fahrenholz hier wiedergeben: "Was den reinen Text betrifft, dürfte die Sache als reichlich mißlungen anzusehen sein: das 'schreiende Blut' und die 'trübste Zeit' aus Strophe 2, der 'Tausende zerstampfende Krieg' - das alles baut eine zwar rabiate, aber gewiß rein theoretisch erfaßte Todesszenerie auf, der gegenüber die als Hinweis auf Leben dienende Symbolik des Mandelzweiges einfach lächerlich wirkt; und es ist gewiß kein Zufall, daß der Dichter zwecks Verbindung der Sphären eigens ein Wortmonstrum wie 'Blütensieg' erfinden mußte, bei dem ich sofort an Falschgeld denke. (...) Der Text als Ganzer sagt im Grunde gar nichts aus und ist insofern nicht 'geistlich'".

Dieser Artikel ließ den Pastor Egbert Rosenplänter nicht ruhen. Mir liegt schon eine Reaktion von ihm vor, die erst in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift erscheinen wird. Er schreibt: "Natürlich ist die Mandelzweig-Symbolik nicht 'neu', sie steht in der Bibel! (...) Das Lied umschreibt einen Abschnitt aus dem Propheten Jeremia, Kap. 1, 11-12. (...) Auf Stephan Kiepe-Fahrenholz", so Rosenplänter weiter, "'wirkt die Symbolik des Mandelzweiges einfach lächerlich"!! Das ist Jeremia ja auch immer wieder geschehen, daß man seine prophetischen Symbole lächerlich fand". Rosenplänter hat jedoch auch Anfragen an diesen Text: "'Tausende zerstampft der Krieg' - kann das nicht als Mythologisierung des Krieges verstanden werden? Müßte nicht genauer gesagt werden, wer da wem den Krieg antut? Das Gedicht ist nun auch umgekehrt kein positives Demonstrationsobjekt, es ist gar kein Objekt, sondern ein tiefer und reicher Zuspruch mit allen seinen Schwächen".

Rosenplänter verweist auf Jeremia. Dort finden sich die Verse, die ich mit abgezogen habe auf dem Liedblatt: "Und das Wort des Herrn geschah zu mir: Was siehst Du, Jeremia? Und ich sagte: Ich sehe einen Mandelzweig. Und der Herr sprach zu mir: Du hast recht gesehen, denn ich werde über meinem Wort wachen, es auszuführen." (Jeremia 1, 11-12). Hier spricht Gott zu Jeremia und macht den Mandelzweig zum Symbol für seine Treue. In Ben-Chorins Text wird der Mandelzweig "degradiert" zu einem Symbol der Schöpfung, die durch Blut und Krieg nicht unterzukriegen ist und siegt.

Beide, sowohl Kiepe-Fahrenholz wie auch Rosenplänter, gehen auf die Vertonung dieses Textes ein. Ich möchte auch diese Zitate hier kurz aufführen, da auch ich gerade an die Vertonung, die wieder mal von Fritz Baltruweit ist, meine großen Anfragen habe. Kiepe-Fahrenholz: "Wo die Aussage 'Tausende zerstampft der Krieg" aus Strophe 3 in eine gefällige Leilalei-Weise gewandet ist, kann kaum von einer angemessenen Vertonung vorhandenen Textes die Rede sein. (...) Die Melodie kommt als beliebig zu verwurstendes Klischee- oder Versatzstück für alles und jedes und eben damit als Gemeinde-Lied gar nicht in Frage". Rosenplänter: "Und wirklich paßt die Melodie von Fritz Baltruweit in ihrer Harmlosigkeit auf alle erdenklichen Inhalte. Seine Melodien sind sich ohnedies meist sehr ähnlich, ob traurig oder fröhlich. (...) Nur wäre das Lied mit einer anderen Melodie so bekannt geworden? (...) Die eingängigste Melodie setzt sich durch".

Ich halte die Melodie von Baltruweit nicht nur für unangemessen, sondern für eine Vergewaltigung des Textes. Wenn die Melodie in den höchsten Tönen jubiliert, während der Text davon spricht, daß Tausende im Krieg zerstampft werden, eine Tatsache, die wir gerade wieder jeden Abend per Tagesschau aus Bosnien geliefert bekommen, so ist dieses eine, ich wiederhole mich, Vergewaltigung des Textes.

Machen wir erneut einen Zeitsprung. Diesmal springen wir fast wieder nach Hamburg zum Kirchentag 1995. Jedoch nur fast, wir landen schon zwei Jahre früher, Kirchentag 1993 in München. Auch jetzt werden neue Lieder zu den Kirchentagen geschrieben, in Liederheften abgedruckt, auf Tonträger gepackt und ... fast vergessen. Was heute an Liedern geschrieben wird, ist kaum noch dazu geeignet, in der Gemeinde gesungen zu werden. Ich möchte Ihnen zum Abschluß zwei Lieder präsentieren, die von denen, die zu den letzten beiden Kirchentagen geschrieben wurden, die "hitverdächtigsten" waren, zumindest meiner Meinung nach. Als erstes "Wenn nicht jetzt, wann dann" vom Münchner Kirchentag 1993. Geschrieben wurde es von Thomas Laubach (Text) und Gregor Linßen (Musik). Wir hören uns erst ein Stück aus der offiziellen Kirchentagscassette an, danach eine Version, die meiner Meinung nach den Charakter des Stückes besser trifft, bei der ich aber auch gleich vorwarnen will: es wird musikalisch etwas härter.

wann verschlägt es uns den atem
sprechen wir in fremden sprachen
von der freien Welt
wann verschlägt es uns den atem
sprechen wir in fremden sprachen
von der freien Welt
wenn nicht jetzt wann dann
wenn nicht heute wann
wenn nicht jetzt wann dann
wenn nicht heute wann dann

wann versagen unsre zahlen
rechnen wir mit fremder hoffnung
in der freien welt
wann versagen unsre zahlen
rechnen wir mit fremder hoffnung
in der freien welt
wenn nicht jetzt wann dann
wenn nicht heute wann
wenn nicht jetzt wann dann
wenn nicht heute wann dann

wann verirrt sich unser wissen
sehen wir in fremden augen
eine neue Welt
wann verirrt sich unser wissen
sehen wir in fremden augen
eine neue Welt
wenn nicht jetzt wann dann
wenn nicht heute wann
wenn nicht jetzt wann dann
wenn nicht heute wann dann

(Text: Thomas Laubach, Rechte: tvd-Verlag, Düsseldorf)

Sicher ist dieses Lied ein Hit bei der Jugend. Ich weiß, wie ich selbst noch und die Jugendlichen, mit denen ich in München war, von diesem Lied gefangen war. Es war, in der zweiten Version gespielt, einfach toll. Doch dann, wieder zuhause, habe ich mich gefragt: was bleibt von diesem Lied? Es ging mir so, als wäre ich bei einem Rockkonzert gewesen, wo mir nur die Musik wichtig war. Der Text ist mir nicht klar geworden.

Nicht klar wird mir, um welches Ereignis es denn überhaupt geht. "Wann verschlägt es uns den Atem" - also wann staunen wir? "Sprechen wir in fremden Sprachen" - Babylon? "Von der freien Welt" - Reich Gottes? "Wann versagen unsre Zahlen" - Absage an die Wissenschaft? "Rechnen wir mit fremder Hoffnung" - kann man nicht nur selbst hoffen? "Wann verirrt sich unser Wissen" - Irrweg Wissenschaft? Einzig die Aussage "sehen wir in fremden Augen eine freie Welt" (Strophe 3) ist für mich klarer: möglicherweise deutet das darauf hin, daß wir, um das Reich Gottes zu sehen, die Probleme unserer Mitmenschen erkennen sollen. Dies alles, so der Refrain, soll besser heute als morgen passieren: 'Wenn nicht jetzt, wann dann".

Alles in allem wird hier ein völlig diffuser Text durch eine für die heutige Jugend ansprechende Musik überdeckt. Hier schließt sich der Kreis zur kommerziellen Jugendmusik: kurze Sätze, die nur ein "Gefühl" vermitteln von "geistlichem Lied" mit harten, knackigen Rhythmen unterlegt. Aus solchen Texten besteht die heutige Rap-Musik. Bei einem solchen Text nach Kriterien zu fragen, ist überflüssig, zumindest, wenn es sich um die vorhin formulierten handelt. Hier hat sich der Text der Musik unterzuordnen, und wenn damit die Aussage flöten geht, ist das auch egal. Damit handelt es sich hier nicht mehr um ein Neues Geistliches Lied, sondern um vergeistigten Schrott!

Ein letztes Lied für heute von heute. "Das ist gut", so heißt eines der Lieder von Kirchentag 1995 in Hamburg. Auch dieses Lied wollen wir uns hier erst einmal anhören.

Das ist gut, du suchst Liebe,
das ist gut, du suchst Hoffnung,
das ist gut, mein Gott.
Es ist dir gesagt, Mensch,
was Gott bei dir sucht.
Öffne deine Hände
und Segen fließt ins Land.

Das ist gut, du suchst Liebe,
das ist gut, du suchst Hoffnung,
das ist gut, mein Gott.
Es ist dir gesagt, Mensch,
was Gott bei dir sucht.
Öffne deine Augen,
sein Licht scheint in die Welt.

Das ist gut, du suchst Liebe, ist gut, du suchst Hoffnung,
das ist gut, mein Gott.
Es ist dir gesagt, Mensch,
was Gott bei dir sucht.
Öffne Deine Ohren,
sein Geist weist Dir den Weg.

(Text: Stefan Wolfschütz, Rechte beim Autoren)

Es fällt auf, daß der Refrain ähnlich kurze Sätze enthält wie "wenn nicht jetzt, wann dann". Das erste Verssegment "Das ist gut" verweist auf die Losung des Kirchentages "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist". Es wirkt auf den ersten Moment so, daß hier wirklich dem Menschen gesagt ist, was gut sei: Daß er Liebe und Hoffnung sucht. Doch in der dritten Zeile taucht (endlich) ein Ansprechpartner auf, und dieser ist plötzlich Gott. Heißt das also, daß Gott Liebe und Hoffnung sucht? Bei wem? Bei uns?

Die Begriffe "Liebe" und "Hoffnung" lassen an das Hohelied der Liebe in 1. Kor. 13, 13 denken: "Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei". Doch dann fehlt in unserem Liedertext ein Teil, nämlich der Glaube. Oder sollte aus rhythmischen Gründen aus "du suchst Glauben" "mein Gott" geworden sein?

Oder sollte gar der Glauben verzichtbar geworden sein? Nein, das kann man denn doch nicht aus dem Text herauslesen. In den Strophen, die mit der erweiterten Losung beginnt ("Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von Dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott", Micha 6, 8), wird den Menschen ja klar gemacht, daß Gott etwas erwartet. Kurz gesagt ist das: Öffne Dich, werde aktiv, nimm dein Umfeld wahr, dann wird Gott wirksam. Frei nach dem Motto "Gott hat keine Hände, nur unsre Hände".

Mißdeutlich wird der Text in der ersten Strophe, und zwar dadurch, daß der zweite Teil der Strophe mit "und Segen" beginnt. In den zwei anderen Strophen verwendet Wolfschütz dort daß Wort "sein". Das ist eindeutig. Die erste Strophe vermittelt den Eindruck, daß ich meinen Segen austeilen könnte und nicht Gottes Segen.

Auch wenn dieses Lied ein ähnliches Ziel verfolgt wie das mehr als zehn Jahre ältere "Mache dem Furchtsamen Mut", so bemerkt man hier doch ganz klar den Wandel der Zeiten. War "Mache dem Furchtsamen Mut" noch konkret in seinen Aufforderungen, so ist in "Das ist gut" nur noch Abstraktes zu finden. Jeder kann etwas für sich finden oder es auch lassen.

Für mich zeigt das sehr deutlich, daß es zur Zeit um die bekannten Neuen Geistlichen Lieder sehr schlecht bestellt ist. Vielleicht lag es an der Auswahl der Lieder, vielleicht bin ich zu kritisch, vielleicht ist aber auch diese Musikrichtung, die einem Teil von Kirche sehr viel bedeutet, auf dem absteigenden Ast. Dabei gibt es viele junge Talente auf diesen Gebiet. Doch leider ist der Neue Geistliche Musikmarkt schon fast so organisiert wie der weltliche. Wer bekannt ist, der kann schreiben, was er will, es wird gesungen. Wer unbekannt ist, der bleibt es auch.

Vielleicht müssen wir Christen und Christinnen "an der Basis" einfach kritischer werden, bei dem, was wir singen. Denn: "Die Diskussion um die angemessene Musik ist kein Gelehrtengezänk. Denn kein Disputant kommt an dem Umstand vorbei, daß die Gemeinde am musikalischen Geschehen teilhat und wohl auch teilhaben will. Genau dies stellt sich jedoch gleichzeitig als Dilemma in mehrfacher Hinsicht dar: nach dem fast völligen Verschwinden der Volkskunst ist das Neue Lied immer kein Lied der Gemeinde, sondern ein Lied für die Gemeinde", so las ich es in einer Examensarbeit.

Wenn wir aber die Lieder für die Gemeinde zu Liedern für die Gemeinde zu Liedern der Gemeinde machen würden, indem wir wie heute auch darüber nachdenken, würde sich vielleicht in diesem "Profizirkus" Neues Geistliches Lied etwas tun. Denn: Gut ist es, ein Lied zu singen, Dir meinem Gott ...

Jens-Erik Paul, 11. September 1995
 

Literatur zum Vortrag "Neue geistliche Lieder - Neue geistlose Lieder?"

M. Bruchwitz, "Das neue geistliche Lied, Bestandsaufnahme - Analysen - Kritik", Schriftliche Hausarbeit, Wyk auf Föhr, 1978 (Bibliothek AGK Hannover)

Günther Hegele, "Neue Lieder durch Preisausschreiben? Viermal Tutzing und die Folgen", in A. Juhre (Hrsg.), "Singen, um gehört zu werden, Lieder der Gemeinde als Mittel der Verkündigung, ein Werkbuch", zitiert aus: Peter Bubmann, "Sound zwischen Himmel und Erde, Populäre christliche Musik", Quell-Verlag, Stuttgart, 1990

Stephan Kiepe-Fahrenholz, "Kunst, Konsum und Massenware, Vom Umgang mit Neuen geistlichen Liedern", in: "Für den Gottesdienst Nr. 45" Mai 1995, Hannover

Egbert Rosenplänter. "Eine ganz andere Luft? Bemerkungen zu dem Artikel 'Kunst, Konsum und Massenwaren' von Stephan Kiepe-Fahrenholz", aus: "Für den Gottesdienst, Nr. 46", November 1995, Hannover

Rainer Schmitt. Musik und Spiel in Religionsunterricht und Jugendarbeit, Praktische Anleitungen, Beispiele und Hodelle", Calner Verlag und Kösel Verlag, Stuttgart und München, 1993

Martin Gotthard Schneider, "Warum ich solche Lieder schreibe", in: Günter Hegele. "Warum neue religiöse Lieder", zitiert aus: H. Hertel, "Das neue Lied der Kirche und Erfahrungen mit ihr in der Gemeinden", Examensarbeit, Kiel 1967 (Bibliothek AGK Hannover)
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mit freundlicher Genehmigung der NePoMuk-Homepage entnommen
 



 



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