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Gospels und Spirituals
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von Sebastian Hentsch
Wenn wir an die Begriffe Gospels
und Spirituals denken, dann hat sicherlich jeder von uns als erstes ein
Bild von sehr lebendigen und mitreißenden, aber auch gefühlvollen
und zu Herzen gehenden religiösen amerikanischen Liedern, von Chören
oder Solisten vorgetragen, vor Augen bzw. im Ohr. Kaum ein Kirchen- oder
Schulchor, der heute nicht mindestens einen Gospelsong im Programm hat.
Viele Rock-, Pop- oder Hip Hop-Hits aus dem Radio und MTV borgen sich Elemente
aus der Gospelmusik aus oder sind gar moderne Interpretationen lange bekannter
Gospelsongs (z.B. „Caravan of Love“ von den Housemartins). Kinofilme wie
„Sister Act“ oder „Preachers Wife“ tragen sehr zur Popularität der
Gospelmusik bei. Leute treffen sich sogar ganze Wochenenden lang, um zu
proben und zu üben, nehmen strapaziöse Reisen auf sich und schlafen
vielleicht sogar in Schlafsäcken auf Luftmatratzen. Alles aus Liebe
zu Liedern, deren Worte man oftmals gar nicht gleich beim ersten Mal versteht.
Da muss noch etwas anderes sein, das unsere Gefühle so stark anspricht.
Um Gospels und Spirituals zu
verstehen, möglichst authentisch singen zu können und mit dem
richtigen „Feeling“ rüberzubringen, müssen wir unsere Herzen
und unsere Seelen ganz weit aufmachen und bereit für die Nachricht,
die in ihnen steckt.
Aber wie sollen wir hinter
den Sinn von Zeilen wie „I wanna be ready to walk in Jerusalem just like
John ...“ kommen? Da ist erst einmal die Sprachbarriere. Zum Glück
lernt ja heute jeder Englisch in der Schule, und mit einem Wörterbuch
bewaffnet kommt man mit etwas Geduld hinter die Geheimnisse so manchen
Verses. Aber um zu begreifen, worum es in diesen Songs geht, warum Gospels
und Spirituals so sind und so klingen, kommen wir um einen kleinen Ausflug
in die Geschichte dieser amerikanischen Kunstform nicht herum.
Spirituals sind die Songs der
schwarzen Sklaven in Amerika. Getrennt von ihren Familien, tausende Kilometer
entfernt von zu Hause fanden sich diese Sklaven nach langen und gefährlichen
Schiffsreisen, die nur ein Teil der Gefangenen überlebte, in einem
fremden Land wieder. Dies durchlitten seit 1619 mehrere Millionen Männer,
Frauen und Kinder aus verschiedenen Gegenden Westafrikas, von verschiedenen
Stämmen und Familien. Unter fremden Menschen, die die Sklaven auf
ihren Baumwoll- und Zuckerrohrplantagen tagein, tagaus in drückender
Hitze und winterlicher Kälte nur für Essen und ärmliche
Unterkunft arbeiten ließen, gab es für die Schwarzen nur wenig
Gelegenheit, Ruhe zu finden und sich an ihre Herkunft, ihre Traditionen
und Religionen zu erinnern. Nur wenig davon konnte an die folgenden Generationen
weitergegeben werden. Einen gemeinsamen Halt und Hoffnung fanden die schwarzen
Sklaven ironischerweise gerade in der Religion der weißen Unterdrücker.
Der Christliche Glaube mit der Guten Nachricht vom Gott der Liebe und des
Vergebens, obwohl nur selten von den Weißen vorgelebt, bildete die
Basis für die Art der Musik, die noch heute so vielen Menschen Kraft
gibt. Vor allem Begebenheiten aus dem Alten Testament dienten als Grundlage
für unzählige Spirituals, von denen einige Hundert bis heute
überliefert sind. Besonders das Schicksal des Volkes Israel in der
Sklaverei in Ägypten bot viele Parallelen zur Situation der Sklaven
in Amerika, was sich in einer Vielzahl von Spirituals widerspiegelt.
Beispiele: „Go down,
Moses“ - Geh, Moses, tief im Ägyptenland, sag dem Pharao, Lass mein
Volk in Freiheit ziehen.
„Wade in the Water“ - Durchwatet
das Wasser, der Herr teilt für Euch die Wasser
„Deep River Jordan“ - Tiefer
Fluss Jordan, auf der anderen Seite des Wassers ist meine Heimat, wo alle
in Freiheit leben
Das Verlangen nach Freiheit
und die Kritik am System der Sklaverei wurden meist nur versteckt zwischen
den Zeilen geäußert. Die Suche nach Freiheit hier auf Erden
fand ihren musikalischen Ausdruck in dem häufig vorkommenden Motiv
der ewigen Erlösung im Himmelreich. Von der Gewissheit und der Freude
auf Erlösung künden folgende Zeilen aus traditionellen Spirituals:
Beispiele: „I want to be ready
to walk in Jerusalem just like John“ - Ich will bereit sein, nach Jerusalem
zu ziehen, wie Johannes. Gemeint ist das Himmlische Jerusalem, von dem
der Apostel Johannes im Buch der Offenbarung berichtet.
„I’m gonna walk them golden
stairs when I die, ...‘cause I know my Jesus answers all my prayers.“ -
Ich werde die goldenen Stufen gehen wenn ich sterbe, denn ich weiß,
Jesus beantwortet alle meine Gebete.
„Steal away, steal away
home to Jesus, I ain’t got long to stay here.“ Stehle mich davon, ich stehle
mich davon, heim zu Jesus; ich hab nicht mehr lang hier zu bleiben. Hier
wird sogar ganz deutlich von Flucht gesprochen.
Viele der Gottesdienste mit
Gebeten um Erlösung von Ungerechtigkeit und Leid fanden in dieser
Zeit fernab von den Ohren der Sklavenhalter statt, als sogenannte Camp
Meetings an geheimen Plätzen auf Waldlichtungen oder an Flüssen
oder in Sklavenhütten, in denen man dann nur leise predigen, beten
und singen konnte und die deshalb Hush Harbors (Stiller Hafen) genannt
wurden.
In einigen Spirituals vermutet
man auch buchstäblich codierte Nachrichten zur Fluchthilfe. Es gab
ein System von Geheimpfaden und Menschen (schwarze und weisse), die als
Fluchthelfer fungierten, die immer wieder Sklaven aus der Gefangenschaft
im Süden der amerikanischen Staaten in die Freiheit in den Norden
halfen. Dieses System wurde die „Underground Railroad“ (Untergrund Eisenbahn)
genannt.
Beispiele: aus „Ride On, King
Jesus“ „If you want to find your way to God, the Gospel Highway must be
trod ... Gonna walk all over those streets...“ Wenn du deinen Weg zu Gott
finden willst, musst du auf der Straße (der Guten Nachricht) gehen
... geh genau diese bestimmten Straßen ...
Die Spirituals gelten als die
einzigen original in Amerika entstandenen Volkslieder. Wie auch bei unseren
mitteleuropäischen Volksliedern ist es nicht möglich, den Komponisten
für ein bestimmtes Lied zu benennen. Vielmehr ist es wahrscheinlich,
dass Musiker einen Song schufen, ein anderer Sänger den Song hörte
und weitertrug, dabei seine eigene Interpretation einbrachte und dadurch
die Versionen von Songs entstanden, die wir heute kennen.
Für die Entstehung eines
Spirituals wie auch eines jeden anderen Volksliedes gibt es drei Möglichkeiten:
1.) durch Improvisation und Variation über einen schon existierenden
Song, 2.) durch Kombinieren von Material aus verschiedenen alten Songs
zu einem neuen Song und 3.) Komposition eines komplett neuen Liedes. In
der afrikanischen Tradition spielt der erste Weg die größte
Rolle, und in der Tat, auch die amerikanischen Spirituals entstanden und
leben besonders durch das Mittel der Improvisation. Die Melodien dienen
oft „nur“ als Mittel, um einen Text zu transportieren. Sie sind deshalb
häufig so stark vom Text abhängig, dass sie von einer Strophe
zur anderen sehr variieren können.
Ein weiteres Charakteristikum
des Gesangsstils der Spirituals ist der „Call and Response“, also Ruf eines
Vorsängers und Antwort des Chores oder der Gemeinde, was sich auch
aus der afrikanischen Tradition des Singens herleiten lässt.
In Afrika wurden die Geschichte,
Kultur und Religion über Jahrhunderte von Mund zu Mund weitergegeben
und bewahrt. Und auf die gleiche Weise erhielten die schwarzen Sklaven
Amerikas die Kultur der Spirituals über die Jahrhunderte am Leben.
Die Spirituals wurden von Mund zu Mund über viele Generationen weitergegeben.
Dabei sind die Songs immer wieder verändert worden, Melodien wurden
abgewandelt, neue Strophen kamen hinzu, andere gerieten in Vergessenheit.
Damit ist auch erklärbar, warum viele Spirituals Strophen mit anderen
gemeinsam haben.
Beispiel: Der Vers „If
you get there before I’ll do, tell all my friends I’m coming too“ taucht
sowohl in „Swing Low, Sweet Chariot“ als auch in „Walk in Jerusalem“ auf.
Einen weiteren Einfluss auf
die Entstehung von Spirituals hatten die Choräle und Kirchenlieder,
die von den (vor allem protestantischen) Christen aus Europa mitgebracht
worden. Dabei wurden diese Chörale aber nicht einfach nur in einer
Variation wiedergegeben, sondern so stark textlich und melodisch verändert,
dass völlig neue Songs entstanden.
Mit dem Ende des Bürgerkrieges
um 1870 begann eine neue Zeit. Der Süden der Vereinigten Staaten von
Amerika mit seiner auf Landwirtschaft basierenden und von Sklaverei abhängigen
Wirtschaft verlor gegen den vor allem durch leistungsfähige Industrie
mächtigen Norden, in dem die Sklaverei abgeschafft war. Etwa 4 Mio.
Sklaven wurden offiziell freigelassen und waren nun voller neuer Hoffnung.
Aber viel änderte sich nicht für sie. Abgesehen davon, dass sie
vor dem Gesetz „frei“ waren, blieben die ärmlichen Lebensbedingungen
die gleichen. Die Mehrheit der Schwarzen blieb im Süden, wo sie nun
für wenig Geld auf den gleichen Plantagen wie schon zuvor arbeiteten,
unter denselben Besitzern, die ihre über Jahrhunderte gefestigten
Rassenvorurteile weiter offen bis in die 50er Jahre unseres Jahrhunderts
und darüber hinaus auslebten.
Ein großer Teil der
ehemaligen Sklaven begann in den Norden auszuwandern und sein Glück
in einer der großen Fabriken in den Städten zu finden. Dort
herrschte aber eine große Konkurrenz zu weißen Arbeitsuchenden,
so dass sich die Beziehungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen
alles andere als entspannt darstellten.
In dieser Zeit und unter diesen
Bedingungen kamen die ersten Gospelsongs auf. Es werden der traditionelle
(etwa seit 1870 bis in die 50er Jahre entstanden) und der zeitgenössische
oder „Contemporary“ Gospelsong (seit den 60ern bis heute) unterschieden.
Es war die gleiche Zeit, in der der Blues populär wurde. Und so könnte
man sie auch als Reaktion auf die gleichen Umstände und Probleme der
Menschen verstehen. Viele musikalische Mittel haben beide Formen auch gemeinsam,
die Rhythmisierung, die Phrasierung im Gesang, z.T. auch die Harmonik.
Grundsätzlich nähern sich beide musikalischen Formen den Problemen
aber von verschiedenen Seiten, der Blues mit seiner weltlichen oder säkulären
Sicht, der Gospel aus einem christlichen Weltbild heraus. Dabei musste
dieser Unterschied keine unüberwindbare Trennungslinie sein. Viele
der bekanntesten Gospelmusiker begannen ihre Karriere mit Bluesinterpretationen
und umgekehrt. Gerade die musikalische Nähe zum Blues machte es der
Gospelmusik am Anfang aber auch sehr schwer, in den konservativen Kirchen
Einzug zu halten. Sie wurde von hohen kirchlichen Würdenträgern
anfangs sogar als „Musik des Teufels“ bezeichnet. Schließlich konnten
sich solche Meinungen aber nicht gegenüber der Kraft, die diese Art
von Musik auf die Christen ausstrahlte, durchsetzen. Und so fühlen
sich heute unüberschaubar viele Menschen von Gospels angesprochen,
nicht nur in afroamerikanischen Kirchengemeinden, auch in vorwiegend von
Weissen besuchten Kirchen der USA, ja fast überall auf der Welt. Besonders
populär ist die zeitgenössische Gospel-Musik z.B. in Skandinavien.
Anders als bei den Spirituals
kennt man die Komponisten der Gospels sehr wohl. Einer der bekanntesten
Komponisten, oft als „Vater der Gospel-Musik“ bezeichnet, war Thomas A.
Dorsey (1899-1993). Als Sohn eines Kantors war Dorsey von klein auf von
Musik umgeben und begleitete als junger Mann einige der berühmtesten
Blues-Sänger aller Zeiten, insbesondere Bessie Smith und Ma Reiney.
Auf einem Treffen der National Baptist Convention hörte er zum ersten
Mal christliche Kompositionen von Charles A. Tindley (1851-1933; z.B. „We’ll
understand it better By and By“). Von da an begann er, religiöse Lieder
zu schreiben, mit der musikalischen Erfahrung, die er aus seinen Blues
Sessions wohl sehr reichlich gesammelt hatte. So entstanden Gospelklassiker
wie „There’ll be Peace in the Valley“ oder „Take my Hand, Precious Lord“,
die z.B. als Interpretationen von Elvis Presley weltbekannt wurden.
Während die Spirituals
meist unbegleitet, a cappella, erklangen, wurden die Gospelsongs durch
Instrumente unterstützt. Anfangs nur mit Klavier und Tambourin, in
den 50er Jahren mit Hammond-Orgel, elektrischen Gitarren und Drums. Schließlich
werden heute aufwendige Gospelproduktionen mit ganzen Orchestern und aufwendiger
Computer-Studio-Technik produziert. Eine der erfolgreichsten Interpreten
traditioneller Gospelsongs ist die „Queen of Gospel“ Mahalia Jackson. Sie
war es, die vor Dr. Martin Luther Kings weltberühmter Rede „I have
a Dream“ seinen Lieblingssong „Take my Hand, Precious Lord“ vor Hunderttausenden
Zuhörern am 28. August 1963 beim Marsch auf Washington sang.
Seit den Zeiten der Bürgerrechts-
und Friedensbewegung in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts erfüllten
Gospelsongs immer mehr die Funktion, die Einigkeit und Entschlossenheit
der Protestierenden gegen Krieg und Unrecht in der Welt zu artikulieren.
Beispiel: „We shall Overcome“
- Wir werden es eines Tages geschafft haben. Ein Song, der geradezu zur
Hymne der Friedensbewegung in den USA und weltweit wurde.
Es war auch die Periode, in
der Gospelsongs es erstmals in die Hitparaden der Radiostationen schafften.
Die Plattenfirmen wurden aufmerksam auf das Geschäft, das mit Gospel
Musik zu machen war, und verhalfen dieser durch ihre Werbung zu nochmehr
Bekanntheit und Erfolg.
Beispiel: Von „Oh Happy Day“
verkauften die Edwin Hawkins Singers 1969 zwei Mio. Singles. Dies war der
erste große Chartdurchbruch für einen Gospelsong.
Bis heute hat die Gospelmusik
die Chartmusik beeinflusst. So sind der Gesangsstil von Ray Charles oder
Aretha Franklin sehr vom Gospelsound der 50er geprägt. Sängerinnen
wie Whitney Houston oder Mariah Carey veröffentlichen regelmäßig
Gospelalben. Aber die Gospelmusik selbst hat immer wieder, vor allem in
den letzten Jahrzehnten Impulse aus der Popmusik bekommen. So bedienen
sich zeitgenössische Gospelproduktionen immer wieder ausgiebig bei
Hip Hop und R&B-Sounds der 90er. Beispielhaft sind die zur Zeit in
den USA sehr populären Musiker, Produzenten und Interpreten Kirk Franklin
oder Hezekiah Walker.
Gospel-Musik ist eine Form
der christlichen Musik, die mit einer reichen und abwechslungsreichen Geschichte
durch ihre intensive spirituelle Qualität bis heute eine stetig wachsende
Anziehungskraft auf Musiker, Sänger und Zuhörer ausübt.
Quellen:
- Eileen Southern: The Music
of Black Americans: A History, W.W. Norton & Company, Inc., 2nd edition
pp. 172-177 (1983)
- James Weldon Johnson &
J. Rosamond Johnson: The Books of American Negro Spirituals, Da Capo Press
Inc. New York (1969)
- Gwendolin Sims Warren: Ev’ry
Time I Feel The Spirit, Henry Holt & Company Inc., New York, 1st edition
(1997)
- Phil Petry: The History
of Gospel Music in Contemporary Christian Music Magazine (Feb. 1996)
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