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Zur Ästhetik der Populären Musik
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von Simon Frith (Strathclyde University,
Glasgow)
aus: PopScriptum 1/92, 68-88
© Cambridge University Press & Autor
Das Wertproblem in der populären Musik
Hinter den Unterscheidungen,
die zwischen »ernster« und »populärer« Musik
gemacht werden, verbirgt sich in letzter Konsequenz immer eine Annahme
über den Ursprung musikalischer Werte. Die E-Musik wird ernst genommen,
weil sie gesellschaftliche Kräfte transzendiert; populäre Musik
dagegen gilt als ästhetisch wertlos, weil sie von diesen determiniert
(»nützlich« oder »funktional«) ist. Dieser
unter Musikwissenschaftlern weit verbreitete Streit bringt die Soziologen
in eine merkwürdige Position. Erlauben sie sich, den Wert von, sagen
wir, Beethovens Musik aus jenen ihre Produktion und Konsumtion determinierenden
gesellschaftlichen Bedingungen zu erklären, gelten sie als Philister
— ästhetische Theorien zur ernsten Musik sind dezidiert nicht-soziologisch.
Im Gegensatz dazu wird die populäre Musik ausschließlich der
soziologischen Theorie als Gegenstand zugewiesen. Jeder brauchbare soziologische
Erklärungsansatz für die Verbreitung des Rock'n'Roll etwa oder
für das Aufkommen der Disco-Musik gilt dann als Beweis fehlender ästhetischer
Relevanz. Musik und Gesellschaft in einen vermittelten Zusammenhang zu
bringen, wird unter diesen Umständen zu einer Aufgabe, die davon abhängig
ist, mit welcher Musik man sich befaßt. In der Auseinandersetzung
mit E-Musik müssen die gesellschaftlichen Kräfte sichtbar gemacht
werden, die sich hinter dem Gerede von den »transzendenten«
Werten verbergen; bei der Analyse von Popmusik gilt es stattdessen, die
Werte ernst zu nehmen, die ihr mit Verweis auf deren soziale Funktionen
mehr oder weniger abgesprochen werden.
Die folgenden Ausführungen
werden sich auf den zuletzt genannten Aspekt konzentrieren.
Anliegen ist es, herauszuarbeiten,
daß das soziologische Herangehen an Popmusik eine ästhetische
Theorie nicht ausschließt, sondern — ganz im Gegenteil — eine solche
erst ermöglicht. Auf den ersten Blick mag diese These etwas abwegig
erscheinen, haben doch die Soziologen bislang zweifellos eher versucht,
das Musikalische aus der Popmusik wegzuerklären. Auch in meinen eigenen
Arbeiten ist vor allem untersucht, wie Rock produziert und konsumiert wird,
um daran Ideologie festzumachen. Doch keines meiner Bücher (oder die
eines anderen Soziologen) bietet eine Erklärung dafür, warum
manche
Popsongs gut und andere schlecht sind, warum Elvis Presley ein besserer
Sänger als John Denver oder warum Disco ein reicheres musikalisches
Genre als »progressiver Rock« ist.
Und doch bin ich seit mehr
als zehn Jahren ein aktiver Rockkritiker, fälle solche Urteile mit
großer Selbstverständlichkeit, in der Annahme — wie alle Popfans
—, daß mein Musikgeschmack eine Relevanz besitzt.
Sind solche Urteile falsch
— nichts anderes als die Form, vor mir selbst und anderen die Art und Weise
zu verbergen, in der unser Geschmack manipuliert wird? Ist es tatsächlich
so, daß das Vergnügen, das ich bei einem Song der Gruppe Abba
empfinde, dasselbe ästhetische Gewicht besitzt wie das Vergnügen
eines anderen an Mozart? Schon eine solche Fragestellung gilt als Provokation.
Entweder wird dabei der »transzendente« Mozart auf Abbas kommerziell
determinierte Ebene reduziert oder aber Abbas Musik über jedwede von
ihr transportierbare Signifikanz erhoben. Doch auch wenn das Vergnügen
an E- und U-Musik sehr verschieden sein mag, so ist das doch mitnichten
einfach auf den Unterschied zwischen künstlerischer Autonomie und
gesellschaftlicher Nützlichkeit zurückzuführen. Abbas Wert
ist nicht mehr (und nicht weniger) mit einem Erlebnis von Transzendenz
verbunden als derjenige Mozarts; Mozarts Bedeutung andererseits nicht weniger
(und nicht mehr) im Bezug auf gesellschaftliche Faktoren erklärbar.
In beiden Fällen stehen Soziologen und Ästheten vor derselben
Frage: Wie werden musikalische Werturteile gefällt? Wie artikulieren
solche Werturteile die ablaufenden Hörerlebnisse?
Der Soziologe steht bei der
zeitgenössischen Popmusik einem Korpus an Songs, Schallplatten, Stars
und Stilen gegenüber, die aufgrund einer Kette von Entscheidungen
seitens der Produzenten als auch der Konsumenten dieser Musik existieren.
Von den Musikern werden Songs geschrieben und Soli gespielt; Produzenten
wählen unter verschiedenen Soundmöglichkeiten aus; Plattenfirmen
und Rundfunkredakteure entscheiden, was veröffentlicht und gespielt
werden soll; Konsumenten kaufen eher die eine Platte als eine andere und
konzentrieren sich auf bestimmte Genres. Im Ergebnis all dieser offensichtlich
individuellen Entscheidungen findet sich dann ein Erfolgs-, Geschmacks-
und Stilmuster, das soziologisch erklärbar ist.
Wenn somit die erste Frage
lautet, warum ein Hit so und nicht anders klingt, dann können die
soziologischen Antworten unter zwei Gesichtspunkten gruppiert werden. Erstens
gibt es Antworten mit Bezug auf Technik und Technologie: die Leute produzieren
und konsumieren die Musik, zu deren Produktion und Konsumtion sie fähig
sind (eine offenkundige Sache, doch auch eine, die mit Fragen nach Fähigkeiten,
Herkunft und Bildung zu tun hat; Fragen, die sich in der Popmusik nicht
mit Bezug auf den individuellen Komponisten, sondern vielmehr mit Bezug
auf soziale Gruppen stellen). Den verschiedenen sozialen Gruppen entsprechen
jeweils unterschiedliche Formen und Zusammensetzungen ihres kulturellen
Kapitals, ihnen sind unterschiedliche kulturelle Erwartungen gemeinsam,
woraus unterschiedliche Musikformen resultieren — der differierende Musikgeschmack
ist in der Popmusik an Klassenkulturen und Subkulturen gebunden; Musikstile
sind mit jeweils bestimmten Altersgruppen verbunden; die Verbindung zwischen
ethnischen Faktoren und Sound gilt ohnehin als gegeben. Das ist das soziologische
Grundverständnis der Rockkritik, in der zugleich die determinierende
Rolle von Technik unumstritten ist.
Tatsächlich ist es schlechterdings
unmöglich, ohne Bezug auf die sich verändernden Produktivkräfte,
die Elektronik, die Nutzung von Aufnahmetechnik, Verstärkung, von
Synthesizern die Geschichte der Popmusik im 20. Jahrhundert zu schreiben,
ebensowenig wie das Selektionsverhalten der Konsumenten von ihrem Besitz
an Transistorradios, Stereoanlagen, Ghettoblasters und Walkmen getrennt
werden kann.
Während sich auf diese
Weise allgemeine Muster des Gebrauchs von Popmusik beschreiben lassen,
bleibt die jeweilige präzise Verbindung (oder Homologie) zwischen
bestimmten Sound- und Musikformen einerseits sowie den sie tragenden sozialen
Gruppen andererseits unklar. Warum ist Rock'n'Roll Jugendmusik, während
die Musik der Gruppe Dire Straits für die US-Yuppies steht? Zur Beantwortung
dieser Frage gibt es eine zweite soziologische Herangehensweise an die
Popmusik, die sich ihr über ihre Funktionen nähert. Die Grundlagen
hierfür sind maßgeblich in der Musikethnologie gelegt worden,
bei den anthropologischen Untersuchungen traditioneller und Volksmusiken,
die in ihren Gebrauchszusammenhängen beim Tanz, in Ritualen oder in
feierlichen Zeremonien untersucht wurden. Ähnliche Aussagen können
auch über die zeitgenössische Popmusik getroffen werden, wobei
in der Regel unterstellt wird, daß deren wichtigste Funktion darin
bestünde, kommerziell zu sein. Die analytische Ausgangshypothese also
ist, daß diese Musik produziert wird, um verkauft zu werden. Deshalb
hat sich die Forschung darauf konzentriert, zu untersuchen, wer Vermarktungsentscheidungen
trifft und warum, auf die Konstruktion von demographisch beschreibbaren
Geschmacksgruppen usw. Der Großteil der akademischen soziologischen
Forschung zur Popmusik (einschließlich meiner eigenen) setzt damit
implizit ästhetische und kommerzielle Bewertungen dieser Musik gleich.
Die phänomenalen Erfolge von Madonna und Bruce Springsteen im Jahre
1985 werden mit Verkaufsstrategien, dem Einsatz von Promotion-Videos und
mit der Herausbildung neuer Zielgruppen erklärt. Die Anziehungskraft
der Musik selbst, der Grund, warum Madonna- und Springsteen-Fans sich gerade
ihnen verschrieben haben, wird nicht hinterfragt.
Aus der Perspektive des Fans
gilt es als ausgemacht, daß Musiker ihre Musik deshalb spielen, weil
sie »gut klingt«. Die interessante Frage hier ist, warum sich
diese Meinung gebildet hat. Selbst wenn der Geschmack in der Popmusik das
Resultat sozialer Konditionierung und kommerzieller Manipulierung ist,
erklären sich die Rezipienten diese Musik immer noch in Wertbegriffen.
Wie aber kommen solche Werturteile dann eigentlich zustande? Wenn die Hörer
ihren Geschmack erklären, welcher Begriffe bedienen sie sich? Fest
steht, daß sie wissen, was sie mögen (und was nicht), was ihnen
Vergnügen bereitet und was nicht. Wenn man die Musikpresse liest,
sich Proben von Bands und Aufnahmesessions anhört, den Gesprächen
in Plattenläden und Discos zuhört und darauf achtet, mit welchen
Worten die Discjockeys ihre Platten auflegen — stets werden hierbei Werturteile
gefällt. Die wertenden Differenzierungen, die in solchen Situationen
vorgenommen werden, laufen innerhalb des allgemeinen soziologischen Rahmens
ab. Zwar erlaubt dieser, Rock oder Disco auf einer gewissen Ebene zu »erklären«,
doch ist das nicht adäquat um zu verstehen, warum eine Rockplatte
oder ein Disco-Titel besser als der andere ist. Wendet man sich aber den
Erläuterungen der Fans oder Musiker zu (oder sogar denen der Plattenindustrie),
so tauchen ganz ähnliche Argumente auf. Jedermann in der Popwelt ist
sich der sozialen Kräfte bewußt, die die »normale«
Popmusik determinieren — eine gute Platte, ein Song oder Sound aber ist
genau das, was diese Kräfte transzendiert.
Am deutlichsten finden sich
Werturteile über Popmusik in der Musikpresse artikuliert. Liest man
britische Musikmagazine der Vergangenheit, so ist festzustellen, daß
»gute« populäre Musik schon immer über die kommerzielle
Routine hinausging oder sie durchbrochen hat. Das traf auch auf diejenigen
Kritiker zu, die in den zwanziger Jahren darum kämpften, Jazz und
Tin-Pan-Alley-Pop auseinanderzuhalten, die in den dreißiger Jahren
zwischen schwarzem und weißem Jazz differenzierten, ebenso wie es
auf die Kritiker vom Ende der sechziger Jahre zutrifft, die die Überlegenheit
des Rock über den Teeny-Pop deklarierten. In Sound Effects (Frith
1981) habe ich geschrieben, daß der Anspruch des Rock auf ästhetische
Autonomie auf einer Kombination von Folk- und Kunstmusikargumenten beruht:
als Folk Musik gehört, wird Rock zur Repräsentation für
eine Gemeinschaft Jugendlicher, als Kunstmusik gehört, gilt er als
Ausdruck einer individuellen, kreativen Sensibilität. In entscheidendem
Maße hängt die Rockästhethik damit von dem Begriff der
Authentizität ab. Gute Musik ist Ausdruck von etwas — einer Person,
einer Idee, eines Gefühls, eines gemeinsamen Erlebnisses, des Zeitgeistes.
Schlechte Musik ist unauthentisch — sie drückt somit nichts aus. Der
am weitesten verbreitete Terminus in der Rockkritik zum Ausdruck eines
Negativurteils ist das Adjektiv »hohl« — hohle Musik hat keinerlei
Substanz, wird nur aus kommerziellen Gründen gemacht.
Demzufolge ist »Authentizität«
das, was garantiert, daß Rockmusik der kommerziellen Logik widersteht
oder sie unterminiert, ebenso wie die Qualität eines Rockstars (unabhängig
davon, ob es sich um Elvis Presley oder David Bowie, die Rolling Stones
oder die Sex Pistols handelt) die Macht beschreibt, etwas Individuelles
durch das System hindurchzubringen. An diesem Punkt trifft sich die Rockkritik
mit der »seriösen« Musikwissenschaft. So beschreibt zum
Beispiel Wilfried Mellers in seinen Abhandlungen (Mellers 1973, 1984) die
transzendenten Qualitäten der von ihm analysierten Musik in technischen
Termini; doch sie lesen sich wie Fanpost und, da ihnen jedwedes selbstbewußte
subjektive Bekenntnis gänzlich fehlt, demaskieren sie den Widerspruch
im Kern dieses ästhetischen Herangehens. Suggeriert wird, daß
Popmusik um so wertvoller wird, je unabhängiger sie von den sozialen
Kräften ist, die den Popprozeß überhaupt erst organisieren;
demnach hängt ihr Wert von etwas außerhalb ihrer selbst Liegendem
ab, wurzelt in der Person, dem auteur, der Gemeinschaft oder der Subkultur,
die dahintersteht. Wenn gute Musik authentische Musik ist, dann bedeutet
kritische Beurteilung, daß man ihre »Wahrheit« gegen
die Erfahrungen oder Gefühle, die sie beschreiben, mißt.
Die Rockkritik beruht auf einem
Mythos — dem Mythos von der Gemeinschaft Jugendlicher, dem Mythos vom kreativen
Künstler. In der Realität jedoch ist Rockmusik, wie alle Popmusik
des 20. Jahrhunderts, eine kommerzielle Form — Musik, die als Ware produziert
wird, um Profit zu machen, über Massenmedien als Massenkultur vertrieben
wird. In der Praxis fällt es sehr schwer, genau zu sagen, was Rock
ausdrückt oder wer, vom Standpunkt des Hörers aus, die authentischen
kreativen Künstler sind. Der Mythos der Authentizität ist vielmehr
einer der dieser Musik immanenten ideologischen Effekte, ein Aspekt seines
Verkaufsprozesses: Rockstars können als Künstler vermarktet werden,
ihre besonderen Sounds als Vehikel ihrer Identität. Die Rockkritik
ist ein Mittel zur Legitimierung von Geschmack, zur Rechtfertigung von
Werturteilen, doch kann sie nicht wirklich erklären, wie es überhaupt
zu diesen Urteilen gekommen ist. Doch wenn diese Musik nicht in ein auf
»Authentizität«
ausgerichtetes Erklärungsmuster paßt, dann stellt sich die Frage,
auf welcher Grundlage Werturteile gefällt werden: Was eigentlich wird
gehört und liegt den Werturteilen zugrunde? Woher wissen wir, daß
Bruce Springsteen authentischer ist als Duran Duran, wenn doch beide nach
den Regeln derselben komplexen Industrie Platten machen? Und wie erkennen
wir gute Sounds in Nicht-Rockgenres, bei Popmusik wie etwa Disco, die überhaupt
nicht in Begriffen von »Authentizität« beschrieben werden
können?
Die Frage nach dem Wert von
Popmusik also bleibt noch zu beantworten.
Eine alternative Annäherung an Musik
und Gesellschaft
Bei meinem Versuch, diese Fragen
zu beantworten, möchte ich ein alternatives Herangehen an musikalische
Werte vorschlagen, einen anderen Weg für die Definition von »populärer
Musik« und »populärer Kultur« wählen. Die Frage,
die gestellt werden sollte, lautet nicht, was offenbart Popmusik über
»die Leute«, sondern, wie konstruiert sie sie.
Wird von der Annahme ausgegangen,
daß Pop expressiv ist, dann bleibt es bei der festgefahrenen Diskussion
über den »wirklichen« Künstler, die »wirklichen«
Emotionen oder den »wirklichen« Glauben, der hinter der Musik
steckt. Doch Popmusik ist nicht deshalb populär, weil sie etwas reflektiert
oder eine Art populären Geschmack bzw. eine populäre Erfahrung
authentisch artikuliert, sondern vielmehr weil sie das, was wir unter Popularität
verstehen, überhaupt erst hervorbringt. Der wohl irreführendste
Terminus in der Kulturtheorie ist »Authentizität«. Was
zu untersuchen ist, das ist nicht, wie »wahr« ein Musikstück
in Bezug auf etwas anderes ist, sondern wie es die Vorstellung von »Wahrheit«
als Moment des Musikalischen überhaupt erst hervorbringt — erfolgreiche
Popmusik ist Musik, die ihren eigenen ästhetischen Standard definiert.
Eine einfache Möglichkeit
sich das zu veranschaulichen, bieten die wöchentlichen Plattenverkaufscharts
in der englischen Musikpresse und in der amerikanischen Zeitschrift Billboard.
Präsentiert werden diese als Marktforschung: die Charts messen etwas
Reales — Verkäufe und Abspiel im Radio — und repräsentieren ihre
Ergebnisse mit allen Vorzügen eines objektiven, wissenschaftlichen
Apparates. Doch in Wirklichkeit ist das, was die Charts liefern, nichts
anderes als eine spezifische Definition dessen, was als populäre Musik
gilt — Plattenverkäufe (in den richtigen Läden), Abspiel im Radio
(in den richtigen Stationen). Doch funktionieren die Charts eben keineswegs
als abgehobener Maßstab einer vereinbarten Vorstellung von Popularität,
sondern vielmehr als die wichtigste Determination dessen, was Popularität
meint — nämlich ein bestimmtes Muster marktorientierten Konsumverhaltens.
In den Charts werden ausgewählte Platten in einen vom Markt gesetzten
Zusammenhang gebracht; sie definieren bestimmte Formen des Konsumverhaltens
als auf eine bestimmte Art und Weise kollektiv.
Doch sind die Verkaufscharts
nur ein Maßstab für die Popularität; und wenn wir uns anderen
zuwenden, wird schnell klar, daß ihr Zweck immer darin besteht, Geschmacksgemeinschaften
zu kreieren (und nicht zu reflektieren). So sind zum Beispiel Leserumfragen
in der Musikpresse darauf angelegt, den weit verstreuten Lesern ein Zusammengehörigkeitsgefühl
zu vermitteln; die »Pazz'n'Jop«-Umfrage in der US-Wochenzeitung
Village Voice schafft ein Gefühl von kollektivem Engagement in der
fragmentierten Gemeinschaft der amerikanischen Rockkritiker. Mit den Grammy-Ehrungen
in den Vereinigten Staaten und den BPI-Ehrungen in Großbritannien
bringt die Industrie ihre Ansicht darüber zum Ausdruck, worum es bei
der Popmusik eigentlich geht — Nationalismus und Geld. Diese jährlich
vergebenen Auszeichnungen, die nach der Meinung vieler Popfans völlig
daneben liegen, widerspiegeln Verkaufsziffern und den »Beitrag zur
Entwicklung der Plattenindustrie«: Maßstäbe für Popularität,
die nicht weniger gültig sind als Umfragen unter Lesern oder Kritikern
(die oft absichtlich »unpopuläre« Künstler honorieren).
Im Vergleich solcher Umfrageergebnisse kann es mithin nicht darum gehen,
wer populärer ist, oder wem, empirisch gesehen, welcher Platz zusteht
(siehe den öffentlichen Aufschrei der Kritiker, als Phil Collins und
nicht Bruce Springsteen 1986 die meisten Grammies bekam), sondern darum,
was Popularität bedeutet. Mit jedem dieser Maßstäbe wird
etwas anderes gemessen, oder — genauer ausgedrückt — jeder einzelne
Maßstab konstruiert sich sein eigenes Meßobjekt. Ganz offensichtlich
wird das in den specialist charts von Billboard, an der Art und Weise,
wie dort Musiken von »Minoritäten« definiert werden. »Frauenmusik«
zum Beispiel interessiert dort nicht als Musik, die irgendwie »Frauen«
ausdrückt, sondern als Musik, die versucht, diese zu definieren, genauso
wie »schwarze Musik« dazu da zu sein scheint, eine bestimmte
Vorstellung davon, was »schwarz« ist, hervorzubringen.
Dieses Herangehen an Popkultur,
als Kreation eher denn als Ausdruck ihres Publikums, muß nicht notwendigerweise
auf die Musik beschränkt sein. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten
im Alltagsleben, Vorstellungen über »die Leute« zu liefern.
Man schalte den Fernseher an und beachte, wie eine bestimmte Anredeweise
funktioniert, wie etwa das Wort »wir« statt »Sie«
verwendet wird. Reklamefachleute in allen Medien sind in erster Linie dazu
da, uns zu erklären, wer wir sind, wie wir gemeinsam mit anderen Menschen
in die Gesellschaft passen, warum wir zwangsläufig so und nicht anders
konsumieren. In jedem Massenmedium gibt es spezielle Techniken, wie das
Publikum angeredet wird, zur Erzeugung von Momenten des Wiedererkennens
und des Ausschließens, um uns eine Vorstellung von uns selbst zu
geben. Demgegenüber scheint die Popmusik eine besonders wichtige Rolle
beim Funktionieren der populären Kultur zu spielen. Einerseits funktioniert
sie über besonders intensive emotionale Erfahrungen — uns bedeuten
Popsongs und Pop-Stars emotional mehr als andere Medienereignisse oder
-künstler, und das ist nicht nur deshalb so, weil das Popgeschäft
uns die Musik über individuelle Konsumentscheidungen verkauft. Andererseits
besitzen diese musikalischen Erfahrungen immer eine gesellschaftliche Bedeutung,
sind sie in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet — wir haben nicht
die Freiheit, alles, was wir wollen, in einen Song hineinzuinterpretieren.
Das Erleben von Popmusik ist
eine Erfahrung des Plazierens: indem wir auf einen Song reagieren, werden
wir, wahllos, in affektive und emotionale Bündnisse mit den Künstlern
und mit den anderen Fans der Künstler hineingezogen. Aber auch hier
gilt wieder, daß das auch in anderen Bereichen der populären
Kultur geschieht. So ist der Sport beispielsweise ganz klar ein Schauplatz,
an dem Menschen ganz direkt Gemeinschaft erleben, eine unmittelbare Beziehung
zu anderen spüren, eine spezielle Art kollektiven Stolzes artikulieren
(für einen Nicht-Amerikaner war der außergewöhnlichste
Aspekt der Olympischen Spiele von 1984 das Zur-Schau-Stellen der Reaganschen
Ideologie sowohl der Vereinigten Staaten wie des Patriotismus). Auch Mode
und Stil — beides gesellschaftliche Konstruktionen — sind die Schlüssel
zu der Art und Weise, in der wir selbst uns der Welt präsentieren:
Wir benutzen die öffentliche Bedeutung von Kleidung, um zu sagen,
»auf diese Weise möchte ich wahrgenommen werden«.
Doch ist die Musik in diesem
Plazierungsprozeß besonders wichtig, auf Grund ihrer direkten emotionalen
Intensität. Angesichts ihrer abstrakten Eigenschaften (die »seriöse«
Ästheten immer hervorgehoben haben) ist Musik eine individualisierende
Form. Wir absorbieren Songs in unser eigenes Leben und Rhythmen in unsere
Körper; sie haben einen derart losen Bezug, der sie unmittelbar zugänglich
macht. Popsongs bieten sich zur persönlichen Aneignung an, und zwar
auf eine Weise, wie andere Formen der Populärkultur (Seifenopern im
Fernsehen zum Beispiel) nicht — letztere sind mit Bedeutungen versehen,
die wir vielleicht ablehnen. Gleichzeitig, und nicht minder relevant, ist
die Musik offensichtlich an Regeln gebunden. Wir hören etwas als Musik,
weil dessen Klänge einer besonderen, vertrauten Logik unterliegen,
und für die meisten Popfans (die, technisch gesehen, Nicht-Musiker
sind) liegt diese Logik außerhalb ihrer Beherrschung. Unser musikalischer
Geschmack ist etwas Rätselhaftes. Manche Platten und Künstler
kommen bei uns an, andere nicht — das wissen wir, ohne daß wir es
erklären können. Die Konventionen wurden von jemand anderem geschaffen;
sie sind ganz klar gesellschaftlich und liegen, ebenfalls eindeutig, außerhalb
von uns.
Das Wechselspiel zwischen persönlichem
Hineingezogenwerden in die Musik und dem Gefühl dafür, daß
sie, trotzdem, irgend etwas Äußeres ist, etwas Öffentliches,
macht die Musik so wichtig in der kulturellen Positionierung des Individuums
im Gesellschaftlichen. Um ein offenkundiges Beispiel zu geben: Es ist unbestreitbar,
daß in den letzten dreißig Jahren der Begriff des »Fan«seins,
inklusive der eher verqueren öffentlichen Vorstellungen von privater
Obsession, viel wichtiger für die Popmusik als für andere Formen
der Populärkultur gewesen ist. Diese Besonderheit der Musik wird normalerweise
der Jugend und Jugendkultur zugeschrieben, doch scheint sie von gleicher
Bedeutung für die Art und Weise zu sein, in der sich ethnische Gruppen
sowohl in England als auch in den Vereinigten Staaten ihre kulturellen
Identitäten geschaffen haben, und sie wird auch in den ursprünglichen
Bedeutungen reflektiert, die »klassische« Musik für die
europäische Bourgeoisie im 19. Jahrhundert besaß. In all diesen
Fällen ist die Musik in der Lage, für die unmittelbare Erfahrung
kollektiver Identität zu stehen, sie zu symbolisieren und anzubieten.
Andere Kulturformen — Malerei, Literatur, Design — können kollektive
Werte artikulieren und symbolisieren, doch nur Musik macht diese fühlbar.
Die sozialen Funktionen der Musik
Damit kann nun noch einmal
auf den Ausgangspunkt dieses Essays zurückgekommen werden — die sozialen
Funktionen der Musik und ihre Implikationen für die Ästhetik.
Beginnen will ich damit, daß ich die vier signifikantesten Arten,
Popmusik zu gebrauchen, skizziere, um aufzuzeigen, wie dieser Gebrauch
uns dabei helfen kann, das Entstehen von Werturteilen in der Popmusik zu
verstehen.
Der erste Grund, der im Umgang
mit populärer Musik eine Rolle spielt, ist ihre Funktion bei der Beantwortung
von Fragen zur Identität: Wir benutzen Popsongs, um für uns selbst
eine besondere Art von Selbstdefinition, einen bestimmten Platz in der
Gesellschaft zu schaffen. Das Vergnügen, das Popmusik erzeugt, ist
ein Vergnügen der Identifikation — mit der Musik, die wir mögen,
mit den Künstlern, die diese Musik spielen, mit allen Gleichgesinnten,
die das Vergnügen an dieser Musik mit uns teilen. Es sei an dieser
Stelle angemerkt, daß die Produktion von Identität auch die
Schaffung von Nicht-Identität ist — es ist ein Prozeß von Inklusion
und Exklusion. Das ist einer der zentralen Aspekte des Musikgeschmacks.
Die Menschen wissen nicht nur, was ihnen gefällt, sondern sie haben
auch sehr klare Vorstellungen davon, was sie nicht mögen, und oftmals
haben sie eine sehr aggressive Art, ihr Mißgefallen zum Ausdruck
zu bringen. Wie alle soziologischen Untersuchungen von Popkonsumenten gezeigt
haben, definieren sich Popfans ziemlich genau entlang ihrer musikalischen
Präferenzen. Ganz egal, ob sie sich mit Genres oder mit Stars identifizieren,
die musikalischen Vorlieben scheinen erheblich wichtiger als die Tatsache,
ob ihnen ein Film oder eine Fernsehsendung gefallen hat oder nicht. Das
Vergnügen an Popmusik leitet sich, im Gegensatz zum Vergnügen,
das man aus anderen Formen der Massenkultur ziehen kann, nicht unbedingt
auf direktem Wege aus der Phantasie her: es wird nicht über Tagträumerei
oder Phantasterei vermittelt, sondern es wird direkt erfahren. Zum Beispiel
kann man bei einem Heavy-Metal-Konzert sicherlich das Publikum in die Musik
versunken sehen; doch trotz aller Entrücktheit beim Gitarrenspiel
würde es sich niemals
vorstellen, selbst oben auf der Bühne zu stehen. Heavy Metal zu erfahren
heißt, die Kraft des Konzertes insgesamt zu erleben — dabei sind
die Musiker ein Aspekt, die Beschallungsanlage ein zweiter, das Publikum
ein dritter. Die einzelnen Fans bekommen ihre »kicks« davon,
daß sie ein notwendiger Teil des Gesamtprozesses sind — deshalb auch
müssen Heavy-Metal-Videos immer Ausschnitte von Live-Konzerten enthalten
(ungeachtet der Tatsache, ob das eigentlich in die Story paßt, die
in dem Clip erzählt wird), um die Art von Kraftübertragung, die
beim Konzert passiert, einzufangen und zu würdigen.
Wenn wir uns verschiedene Popgenres
anschauen, so lassen sich die verschiedenen Arten dokumentieren, auf die
Musik den Menschen eine Identität gibt, sie in verschiedene gesellschaftliche
Gruppen stellt. Und das ist mitnichten etwa nur eine Eigenschaft kommerzieller
Popmusik. Auf diese Art und Weise funktioniert jedwede populäre Musik.
So verwendet beispielsweise der zeitgenössische, von schwarzer Musik
beeinflußte Pop zur Kreation seiner Zuhörerschaft eindeutig
(und oft recht zynisch) musikalische Mittel, die ursprünglich in religiöser
Musik benutzt wurden, um die Identität von Männern und Frauen
vor Gott zu definieren. Volksmusiken werden in gleicher Weise immer noch
dazu benutzt, die Grenzen ethnischer Identität zu markieren, ungeachtet
all der Komplikationen durch Migration und kulturellen Wandel. In den Irish
Pubs in London sind zum Beispiel »traditionelle« irische Folksongs
immer noch das stärkste Mittel, um die Gäste sich als Iren fühlen
lassen und erlebbar zu machen, was ihr »Ire-Sein« bedeutet.
(Diese Musik und diese Identität wird jetzt von irischen Post-Punkbands
in London, wie etwa den Pogues, weiterentwickelt). Unter diesen Umständen
überrascht es dann auch kaum, daß populäre Musik schon
immer wichtige nationalistische Funktionen hatte. In Abel Gances Film "Napoleon"
gibt es eine Szene, in der zu sehen ist, wie die Marseillaise komponiert
wird;
anschließend sieht man,
wie dieses Lied seinen Weg durch die Nationalversammlung nimmt und die
Massen ergreift und schließlich jeder mitsingt. Als der Film das
erste Mal in Frankreich lief, stand das Kinopublikum von den Sitzen
auf und sang die heutige Nationalhymne mit. Nur Musik scheint fähig
zu sein, diese Art spontaner kollektiver Identität, diese Art persönlich
gefühlten Patriotismus zu erzeugen.
Die zweite soziale Funktion
von Musik besteht darin, eine Beziehung zwischen öffentlichem und
privatem Gefühlsleben herzustellen. Es ist zwar oft angemerkt, aber
nur selten wirklich ernsthaft diskutiert, daß der Großteil
der Popsongs Liebeslieder sind. Das trifft auf jeden Fall auf die westliche
populäre Musik des 20. Jahrhunderts ohne Einschränkung zu; doch
auch die meisten nicht-westlichen populären Musikformen haben romantische,
gewöhnlich heterosexuelle, Liebestexte. Das ist mehr als eine interessante
statistische Feststellung; es ist vielmehr ein zentraler Aspekt des Gebrauchs
von Popmusik. Warum sind Liebeslieder so wichtig? Weil die Menschen sie
brauchen, um ihren Gefühlen, die sie anders nicht ohne Peinlichkeit
oder Zusammenhanglosigkeit ausdrücken können, Form und Stimme
zu geben. Liebeslieder sind eine Möglichkeit, den intimen Dingen,
die wir zueinander (und zu uns selbst) sagen, emotionale Intensität
zu verleihen, mit Worten, die für sich genommen eher fad sind. Es
ist eine Besonderheit der Alltagssprache, daß wir für unsere
wichtigsten und privatesten Gefühlserklärungen Wendungen — wie
»Ich liebe/hasse dich«, »Hilf mir«, »Ich
habe Wut/Angst« — benutzen müssen, die langweilig und banal
sind; und deshalb muß uns unsere Kultur mit einer Million Popsongs
versehen, die diese Dinge für uns auf interessante und engagierte
Weise sagen. Zwar ersetzen diese Songs nicht unsere Gespräche — Popsänger
machen nicht jemandem den Hof für uns —, doch lassen sie unsere Gefühle
reicher und überzeugender erscheinen (sogar für uns selbst),
als wir sie mit unseren eigenen Worten ausdrücken können. Der
einzige interessante soziologische Bericht über Texte aus der langen
Tradition der amerikanischen content analysis war Ende der fünfziger
Jahre Donald Hortons Untersuchung (Horton 1957) der Art und Weise, wie
Teenager die Worte aus populären Songs bei ihren Rendezvous-Ritualen
verwendeten. Die von ihm befragten Schüler an High Schools hatten
aus Popsongs (öffentlichen Formen privaten Ausdrucks) gelernt, was
sie aus ihren durcheinander geratenen Gefühlen machen und wie sie
sie formen können. Dieser Gebrauch von Pop illustriert eine Qualität
der Star-Fan-Beziehung: die Menschen idolisieren Sänger nicht, weil
sie sie sein wollen, sondern weil es diesen Sängern irgendwie zu gelingen
scheint, ihre eigenen Gefühle offenzulegen — es ist, als ob wir uns
selbst über die Musik kennenlernten.
Die dritte Funktion der populären
Musik besteht in der Formung des menschlichen Erinnerungsvermögens,
der Organisation unseres Zeitsinns. Es liegt auf der Hand, daß es
ein Effekt aller Musik ist, nicht nur des Pop, unsere Erfahrung der Gegenwart
zu intensivieren. Ein Maßstab für gute Musik ist, anders gesagt,
ihre »Präsenz«, ihr Vermögen, die Zeit »anzuhalten«,
uns das Gefühl zu geben, wir lebten den Augenblick, ohne Erinnerung
oder Furcht vor dem, was zuvor gewesen ist oder was danach passieren mag.
Hier kommt die physische Wirkung der Musik ins Spiel — der Einsatz von
Beat, Impuls und Rhythmus, um unsere unmittelbare körperliche Beteiligung
in eine Organisation der Zeit zu zwingen, die von der Musik beherrscht
wird. Daher auch das Vergnügen an Tanz und Disco; Clubs und Parties
liefern ein Umfeld, eine Gemeinschaft, die nur durch die Zeitskala der
Musik (die Beats pro Minute) definiert zu sein scheint und damit der wirklichen
Zeit draußen entflieht. Eine der wichtigsten Folgen der Organisation
unseres
Zeitsinns durch die Musik
liegt darin, daß Songs und Melodien oftmals der Schlüssel für
unsere Erinnerung an vergangene Dinge sind. Hier meine ich nicht einfach,
daß Sounds — wie Anblicke und Gerüche — damit verbundene Erinnerungen
auslösen, sondern vielmehr, daß die Musik selbst unsere lebhafteste
Erfahrung der ablaufenden Zeit darstellt. Von der Musik wird unsere Aufmerksamkeit
auf das Zeitgefühl gelenkt; Songs werden um Antizipation und Echo
herum organisiert, um Momente, auf die wir uns freuen, Refrains, die Bedauern
in ihr Abklingen eingebaut haben. Insgesamt gesehen, ist die populäre
Musik des 20. Jahrhunderts eine nostalgische Form. Die Beatles zum Beispiel
haben von Anfang an nostalgische Musik gemacht. Selbst wenn man einen Beatles-Song
zum ersten Mal hörte, gab es da so ein Gefühl der Erinnerung,
ein Gefühl, daß das nicht andauern könne, aber sicherlich
etwas sei, an das man sich gerne erinnern würde.
Es ist dieser Umgang mit der
Zeit, der die populäre Musik so wichtig bei der sozialen
Organisation von Jugend macht.
Es ist ein soziologischer Allgemeinplatz, daß das größte
persönliche Engagement in der populären Musik in die Zeit der
Teenager und jungen Erwachsenen fällt — die Musik ist dann eingebunden
in eine besondere Form emotionaler Turbulenzen, wenn Fragen der individuellen
Identität und des Platzes in der Gesellschaft, das Beherrschen der
öffentlich gezeigten und der privaten Gefühle im Vordergrund
stehen. Die Leute benutzen die Musiker weniger und weniger intensiv, wenn
sie erwachsener werden; die wichtigsten Popsongs für alle Generationen
(nicht nur für die Rockgenerationen) sind die, die man als Jugendlicher
gehört hat. Das deutet darauf hin, daß junge Menschen Musik
nicht nur brauchen, sondern daß »Jugend« selbst durch
Musik definiert wird. Erlebt wird die Jugendzeit, das heißt, eine
intensive Gegenwart, mit einer Ungeduld danach, daß die Zeit vergeht
und einem Bedauern, daß das so ist, in einer Abfolge von sich überschlagenden,
physisch intensiven Momenten, die in sich einen Nostalgiecode tragen. Das
stützt auch meine allgemeine Aussage über populäre Musik:
Jugendmusik ist gesellschaftlich wichtig, nicht weil sie die Jugenderfahrung
reflektiert (authentisch oder nicht), sondern weil sie für uns definiert,
was »Jugendlichkeit« ist. Ich erinnere mich, in meiner eigenen
soziologischen Untersuchung Anfang der siebziger Jahre die Schlußfolgerung
gezogen zu haben, daß Jugendliche, die — aus was immer für Gründe
— kein Interesse an Popmusik hatten, nicht wirklich »jung«
seien.
Die letzte Funktion der populären
Musik, die ich hier erwähnen möchte, ist etwas abstrakter als
die bisher diskutierten, doch ist sie eine Folge aller anderen Funktionen:
populäre Musik ist etwas, das man sich nicht nur aneignet, sondern
in Besitz nimmt. Eins der ersten Dinge, die ich als Rockkritiker lernte
— aus Fanpost, in der ich beschimpft wurde —, war, daß Rockfans ihre
Lieblingsmusik »besaßen«, auf eine Art und Weise, die
intensiv und wichtig war. Sicher ist diese musikalische Inbesitznahme nichts,
das nur auf den Rock zutrifft — Hollywood benutzt schon seit langem die
klischeebehaftete Zeile »sie spielen unser Lied«. Darin wird
etwas reflektiert, das bei allen Musikliebhabern zu finden ist und einen
wichtigen Aspekt dessen darstellt, wie die Menschen über »ihre«
Musik denken und sprechen. Offensichtlich wird diese Inbesitznahme von
Musik durch ihre Warenform ermöglicht. Doch die Leute glauben nicht
nur, daß ihnen eine Platte gehört: Wir spüren auch, daß
wir einen Song selbst besitzen, ein besonderes Konzert und den jeweiligen
Künstler. Indem wir die Musik »in Besitz nehmen«, machen
wir sie zu einem Teil unserer eigenen
Identität und bauen sie
in unsere Vorstellung von uns selbst ein. Schreibt man Popkritiken, so
zieht man auch, wie schon erwähnt, Haßbriefe auf sich. In diesen
Briefen wird nicht so sehr ein Künstler oder ein Konzert verteidigt,
sondern der Briefschreiber verteidigt sich selbst: Man kritisiert einen
Star, und die Fans regieren so, als ob man sie kritisiert hätte.
Den größten Postsack,
den ich je erhielt, bekam ich, nachdem ich kritisch über Phil Collins
geschrieben hatte. Hunderte von Briefen kamen daraufhin (nicht von Teenies
oder von linkischen Halbwüchsigen, sondern von »young professionals«),
ordentlich getippt auf Kopfbögen, und alle gingen von der Annahme
aus, daß ich, indem ich Collins als häßlich, Genesis als
langweilig beschrieb, mich über ihren Lebensstil lustig machte, ihre
Identität unterminierte. Die Intensität dieser Beziehung zwischen
Geschmack und Selbstdefinition scheint besonders der Popmusik eigen zu
sein — sie ist auf eine Weise »besitzbar«, in der es andere
Kulturformen (außer, vielleicht, Sportmannschaften) nicht sind.
Um das bisher Gesagte zusammenzufassen:
die sozialen Funktionen der populären Musik bestehen in der Erzeugung
von Identität, dem Beherrschen von Gefühlen und der Organisation
der Zeit. Jede dieser Funktion hängt wiederum von der Erfahrung ab,
Musik in Besitz nehmen zu können. Von dieser soziologischen Grundlage
ausgehend ist es nun möglich, sich ästhetischen Fragestellungen
zuzuwenden, die Urteile der Hörer verstehen zu lernen, etwas über
den Wert von Popmusik zu sagen. Meine Anfangsfrage lautete, wie kommt es,
daß die Leute (mich eingeschlossen) mit ziemlicher Bestimmtheit sagen
können, daß manche Popmusikstücke besser sind als andere?
Jetzt kann man die Antwort darauf beziehen, wie gut (oder wie schlecht)
Songs und Auftritte für bestimmte Hörer die benannten Funktionen
erfüllen. Doch es gilt noch eine abschließenden Bemerkung dazu
zu machen. Mittlerweile sollte deutlich geworden sein, daß Musik
von denen, die sie mögen, als etwas Besonderes gehört wird: nicht,
weil — wie orthodoxe Rockkritiker schreiben würden — diese Musik »authentischer«
ist (selbst wenn man es vielleicht so beschreiben könnte), sondern
weil sie ein Erlebnis bietet, das in seiner Direktheit die Realität
transzendiert, das uns »aus uns selbst herausholt«. Sie ist
etwas Besonderes, das heißt, nicht notwendigerweise in Bezug auf
andere Musik, sondern auf unser Leben. Dieses Gefühl der Besonderheit,
diese Art, wie die Musik eine neue Weise der Selbsterkenntnis zu ermöglichen
scheint, befreit uns von der Altagsroutine und den Erwartungen, denen wir
im Rahmen unserer sozialen Identität gerecht werden müssen. Und
das ist ein sehr wichtiges Moment im Erlebnisprozeß von Musik: wenn
wir glauben, daß wir unsere Musik besitzen, dann spüren wir
auch sehr oft, daß sie von uns Besitz ergreift. Damit aber ist Transzendenz
genauso ein Teil der Ästhetik der U-Musik wie der Ästhetik der
E-Musik. Allerdings — das sollte deutlich geworden sein — markiert in der
Popmusik Transzendenz nicht die Freiheit der Musik von sozialen Kräften,
sondern vielmehr ihre Formung durch sie. (Natürlich gilt, in letzter
Konsequenz, dasselbe auch für die E-Musik.)
Die Ästhetik der populären Musik
Abschließend sei einer
anderen Frage nachgegangen: Welche Faktoren in der populären Musik
versetzen diese eigentlich in die Lage, die skizzierten sozialen Funktionen
zu erfüllen, was bestimmt, ob sie gut oder schlecht ist? In den nachfolgenden
vier Punkte dazu geht es mir weniger um eine detaillierte Diskussion als
vielmehr darum, wesentliche Themen für die zukünftige Forschungsvorhaben
zu umreißen.
Mein erster Punkt wird kurz
sein, weil ich darin musikwissenschaftliche Fragestellungen aufwerfe, für
deren Erörterung ich nicht kompetent bin. Die wichtigste (und bemerkenswerteste)
Eigenschaft der westlichen populären Musik des 20. Jahrhunderts ist
ihre Absorbierung afro-amerikanischer Formen und Konventionen. Analytisch
gesehen, und um den von Andrew Chester Ende der sechziger Jahre herausgearbeiteten
Unterschied aufzugreifen, heißt das, daß Pop komplex »intensional«
und nicht, wie etwa europäische Kunstmusik, »extensional«
ist. In der extensionalen Form der musikalischen Konstruktion, so schreibt
Chester, »sind Thema und Variation, Kontrapunkt, Tonalität (wie
in der klassischen Komposition verwendet) Mittel, die, von grundlegenden
musikalischen Einheiten ausgehend, diachronisch und synchronisch nach außen
hin ausgebaut werden. Das Komplexe also wird aus der Kombination von Einfachem
geschaffen, das in dieser komplexen Einheit eigenständig und unverändert
bleibt«. Im intensionalen Modus »werden die grundlegenden musikalischen
Einheiten (gespielte/gesungene Noten) nicht als einfache Elemente in Raum
und Zeit in komplexe Strukturen eingebunden. Die Grundeinheit ist aus den
Parametern Melodik, Harmonik und Beat zusammensetzt, während das Komplexe
aus der Modulation der Grundeinheiten und durch Inflexion des Grundbeats
aufgebaut wird« (Chester 1978, 78f). Was immer Chesters simple Dichotomie
zwischen einer Tradition linearer Musikentwicklung und einer Tradition
geschichteter rhythmischer Interaktion tatsächlich leistet, er stellt
die zentrale musikwissenschaftliche Frage für die populäre Musik:
Wie können wir die Intensität der musikalischen Erfahrung erklären,
die die afro-amerikanischen Einflüsse ermöglicht haben? Immer
noch wissen wir nicht genug über die Musiksprache von Pop und Rock:
Rockkritiker drücken sich um eine technische Analyse, während
sympathisierende Musikwissenschaftler, wie Wilfried Mellers, ein analytisches
Instrumentarium verwenden, das nur den nicht-intensionalen (und damit am
wenigsten signifikanten) Eigenschaften gerecht wird.
Mein zweiter Punkt ist, daß
sich die Entwicklung der populären Musik in diesem Jahrhundert in
wachsendem Maße auf den Gebrauch der Stimme konzentriert hat. Die
meisten Menschen sind am besten über die Gesangsstimme in der Lage,
Zugang zu ihren Platten zu finden, zu spüren, daß die Künstler
auf gewisse Weise ihnen gehören. Und es geschieht über die Stimme,
daß Stars aufgebaut werden (und zumindest seit dem 2. Weltkrieg sind
die größten Popstars immer Sänger gewesen). Das Timbre
der Stimme ist in diesem Kontext ausschlaggebender als die tatsächliche
Artikulation bestimmter Texte — das bedeutet beispielsweise auch, daß
Gruppen wie etwa die Beatles eine Gruppenstimme annehmen können. Damit
ist ein Song zu identifizieren, ganz unabhängig davon, ob die Worte
verstanden werden oder nicht, unabhängig auch davon, ob der Sänger
bereits bekannt ist oder nicht, weil es die Stimme ist — nicht der Text
—, auf die wir unmittelbar reagieren. Das wirft natürlich die Frage
nach der populären Instrumentalmusik auf. Doch wenn die Stimme als
Zeichen einer individuellen Persönlichkeit verstanden wird — und nicht
als etwas, daß notwendigerweise Worte formulieren muß —, dann
gilt dieses Primat der Stimme auch hier. Beispielsweise war und ist es
die Stimme, die ganz entscheidend für die Anziehungskraft des Jazz
sorgt, nicht durch Vokalisten als solche, sondern dadurch, wie Jazzmusiker
ihre Instrumente spielten — Louis Armstrongs oder Charlie Parkers Instrumentalstimmen
waren genauso individuell und persönlich wie die Gesangsstimme eines
Popstars. Allerdings besteht die heutige kommerzielle Popmusik aus Songformen,
die Vokalpersönlichkeiten konstruieren, die ihre Stimme dazu einsetzen,
direkt zu uns zu sprechen. Aus dieser Perspektive betrachtet wird es möglich,
Popsongs als narrative Erzählmuster aufzufassen und Begriffe aus der
Literatur- und Filmkritik zu ihrer Analyse zu benutzen. Es wäre nicht
schwierig, aus dieser Perspektive Genreunterschiede zu formulieren, sich
die Art und Weisen anzuschauen, auf die Rock, Country, Reggae, usw. narrativ
funktionieren, die unterschiedlichen Wege, auf denen sie Stars aufbauen,
dem Hörer einen Platz zuweisen, und Muster für Identität
und Opposition ins Spiel bringen.
Natürlich ist populäre
Musik nicht einfach dem Film oder der Literatur analog. Wenn wir die narrativen
Mittel insbesondere des zeitgenössischen Pop diskutieren, reden wir
ja nicht nur über Musik, sondern auch über den Prozeß ihrer
Verpackung. Das Image des Popkünstlers wird von der Werbung in Presse
und Fernsehen konstruiert, entsteht aus der Routine der Photosessions und
Interviews durch Journalisten, und durch Gesten und Auftritte. All diese
Dinge beeinflussen, wie wir eine Stimme hören; Popsänger werden
selten »pur« (ohne technische Mittler) gehört. Ihre Gesangsstimme
trägt bereits physische Konnotationen, assoziierte Images, Echos von
anderen Sounds. All das muß analysiert werden, um Songs als narrative
Strukturen zu behandeln. Um auf das traditionelle Anliegen der Musikwissenschaft
zurückzukommen — auch wenn Musik vielleicht nichts repräsentiert,
daß sie nichtdestotrotz kommuniziert, ist unbestreitbar.
Der dritte Punkt ist eine Weiterführung
dieses Gedankengangs: populäre Musik bietet sich für die Entwicklung
einer Genreanalyse, die die verschiedenen narrativen Strukturen, unterschiedliche
Identitätsmuster und die Artikulation von Emotionen verfolgt, förmlich
an. Als Beispiel sei auf das vieldiskutierte Thema Musik und Sexualität
verwiesen. In dem Artikel, den ich gemeinsam mit Angela McRobbie Ende der
siebziger Jahre (Frith/McRobbie 1978) veröffentlicht habe, unterschieden
wir zwischen »cock«-Rock und Teenypop — beides fungierte zur
Definition von Maskulinität und Feminität, doch für unterschiedliche
Publika und entlang unterschiedlicher Emotionskurven. Diese Unterscheidungen
sind noch immer gültig, nur hatten wir es damals mit deutlich ausgeprägten
Unterabteilung eines Popgenres zu tun. In anderen musikalischen Formen
wird Sexualität auf viel kompliziertere Weise artikuliert. Es wäre
unmöglich, die Sexualität von Frank Sinatra oder Billie Holiday
im Verhältnis zu crooning und torch singing in den Begriffen des »cock«-Rock/Teenybop-Kontrastes
zu analysieren. Selbst Elvis Presley fügt sich nicht nahtlos in die
Erklärungsmuster für die kulturellen Erscheinungsformen männlicher
und weiblicher Sexualität aus den siebziger Jahren.
Das wirft die Frage nach der
Definition der Genres der populären Musik auf. Zwar könnte man
einfach den von der Musikindustrie vorgenommenen Unterscheidungen folgen,
die sowohl musikgeschichtliche wie Vermarktungskategorien reflektieren.
Dann wäre die Popmusik in Country Music, Soul Music, Rock'n'Roll,
Punk, MOR, Schlager usw. zu unterteilen. Doch eine ebenso interessante
Art des Herangehens an diese Frage besteht in der Klassifizierung dieser
Musik entlang ihren ideologischen Wirkungen, danach, ob sie sich als Kunst,
Gemeinschaftserlebnis oder Emotion verkauft. So gibt es zum Beispiel zweifellos
eine Rockform, die in ihrem Charakter als »authentisch« bezeichnet
werden kann. Repräsentiert wird sie von Bruce Springsteen, und sie
definiert sich genau nach den oben diskutierten Kriterien einer Rockästhethik
der Authentizität. Worum es bei diesem Genre geht, das ist die Entwicklung
musikalischer Konventionen, die als Maßstab von »Wahrheit«
gelten können. Die Hörer werden in eine bestimmte Art von Realität
hineingezogen: So ist es, wenn man in Amerika lebt, so ist es, wenn man
liebt oder verletzt wird. Die daraus resultierende Musik ist das Popäquivalent
des »klassischen realistischen Textes« der Filmtheoretiker.
Sie hat dieselbe Wirkung, nämlich uns davon zu überzeugen, daß
die Dinge wirklich so und nicht anders sind — Realismus bedeutet unvermeidlich
eine nicht-romantische Erklärung des gesellschaftlichen Lebens und
eine hoch-romantische Erklärung der menschlichen Natur.
Interessant daran ist, wie
diese Art von Wahrheit konstruiert wird, worauf sie sich musikalisch begründet.
Ein plastisches Beispiel ist dafür das Video zu »We are the
world«. Die Sänger wetteifern darum, ein Höchstmaß
an Ehrlichkeit auszustellen; und Bruce Springsteen gewinnt, wenn er seine
kurze Zeile singt, Adern treten auf seiner Stirn hervor und der Schweiß
fließt ihm in Strömen. Hier wird Authentizität durch physische
Anstrengung garantiert.
Nähert man sich den Popgenres
auf diese Weise, dann folgen daraus andere Maßstäbe und Differenzierungskriterien,
als sie der Musikindustrie zugrunde liegen. Gegen das authentische Genre
könnte dann zum Beispiel eine kunstorientierte Tradition gesetzt werden:
Einige Popstars in der Nachfolge des frühen David Bowies und von Roxy
Music haben versucht, von sich selbst (und ihren Hörern) das Bild
eines kühl kalkulierenden Künstlers zu schaffen. So gibt es auch
eine Avantgarde in der populären Musik, die den Musikern und Hörern
das Vergnügen der Verletzung von Normen und Regeln bietet. Und es
gibt ein sentimentales Genre, in dem Gefühlscodes zelebriert werden,
von denen jeder weiß, daß sie nicht wahr sind, die aber doch
nostalgisches Gewicht besitzen (nach dem Motto: Ach, wenn das doch so wäre!).
Mit anderen Worten: Popgenres lassen sich nach den von ihnen beabsichtigten
Wirkungen differenzieren. Künstler können innerhalb ihrer Genres
beurteilen werden (ist die Musik von John Cougar Mellencamp ähnlich
authentisch wie die von Springsteen?), ebenso wie verschiedene Genres für
ganz unterschiedliche Zwecke benutzt werden können (das sentimentale
Genre ist eine bessere Quelle für Liebeslieder als die Avantgarde
oder die kunstähnlichen Formen). Um mit den Popgenres analytisch zurechtzukommen,
muß über das Geschmacksraster der Industrie das Raster der Ideologien
gelegt werden. So läßt sich Punk nur wirklich verstehen, wenn
dem Wechselspiel von Authentizität und Künstlichkeit nachgegangen
wird, Country Music nur dann begreifen, wenn die wechselseitige Durchdringung
von Authentizität und Sentiment im Blick ist.
Im Alltagsleben wissen wir
mit solcherart Konfusion ganz gut umzugehen. Wenn man weiß, wie man
sich Popmusik anhören muß, weiß man auch, wie man sie
klassifizieren kann. So vergleichen alle Pophörer, ob Fans oder professionelle
Kritiker, Sounds miteinander. Der Großteil der Popkritik arbeitet
mit der impliziten Anerkennung der Genreregeln — und das führt mich
zu meiner Schlußbemerkung. Wir erleben Musik im alltäglichen
Leben ja nicht nur über die gerade von mir diskutierten organisierten
Popmusikformen. Wir leben in einer viel geräuschvolleren Klanglandschaft;
Musik aller Art spielt ständig mit Assoziationen von Bildern, Orten,
Menschen, Produkten, Stimmungen, und so weiter. Diese Assoziationen, vermittelt
über Werbespots und Filmsoundtracks etwa, sind so vertraut, daß
wir zumeist vergessen, daß sie »zufällig« sind.
Ohne darüber nachzudenken, assoziieren wir bestimmte Klänge mit
bestimmten Gefühlen, Landschaften und Zeiten. Um ein simples Beispiel
zu geben: In England ist es für ein Ballett heutzutage unmöglich,
die Nußknacker-Suite vor Kindern aufzuführen, ohne daß
diese den Song »Everyone's a Fruit and Nut Case« mitsingen,
den sie alle als Cadburys Werbe-Jingle kennen, lange bevor sie von Tschaikowsky
gehört haben. Klassische oder, kurz gesagt, E-Musik ist von solchem
sozialen Gebrauch nicht ausgenommen. Für mich, der ich mit der populären
Kultur der Nachkriegszeit aufgewachsen bin, ist es unmöglich, Chopin
zu hören, ohne daß ich nicht sofort eine vage romantische Sehnsucht
verspüre, das Ergebnis jahrelanger Aufnahme von Filmmusiken nach Chopin.
Solchen Assoziationen ist nicht
zu entfliehen. Auf bestimmte Art gespielte Akkordeons bedeuten Frankreich,
Bambusflöten China, genauso wie Steelguitars für Country stehen
und Drum-Machines für urban dance. Kein Popmusiker kann Musik vom
Punkt Null aus machen — gar nicht zu reden von den heutigen »scratch
mixers«, die Musik aus ihrem existierenden Zeichenzusammenhang herauslösen,
fragmentieren, auseinanderpflücken, neu zusammenbauen, öffentliche
Formen für neue Arten privater Sichten plündern. Wir müssen
die Speicherkammern musikalischer Referenzen verstehen, die wir mit uns
herumtragen, wenn es darum geht, jenes Moment zu erklären, das im
Zentrum der Poperfahrung steht, wenn nämlich aus all den Sounds, die
um uns herumschwirren, egal ob sie uns gefallen oder nicht, eine besondere
Kombination plötzlich aus keinem erkennbaren Grund von uns Besitz
ergreift.
Resümee
In diesem Beitrag habe ich
versucht, einen Weg vorzuschlagen, um aus der Soziologie der populären
Musik die Grundlagen ihrer ästhetischen Theorie zu gewinnen, also
von einer Beschreibung der sozialen Funktionen dieser Musik hin zu einem
Verständnis ihrer ästhetischen Werte und Bewertungen voranzuschreiten
(hier sollte ich allerdings darauf verweisen, daß meine Definition
von populärer Musik auch den populären Gebrauch »ernster«
Musik einschließt). Eine meiner grundlegenden Thesen dabei ist, daß
der individuelle Geschmack — die Art, in der Menschen Musik für sich
selbst erleben und beschreiben — ein notwendiger Bestandteil ihrer theoretischen
Analyse sein muß. Ist daraus zu schlußfolgern, daß Wert
in der populären Musik ausschließlich eine Angelegenheit persönlicher
Präferenzen ist?
Normalerweise lautet die soziologische
Antwort auf eine solche Frage, daß »persönliche«
Präferenzen ihrerseits sozial determiniert sind. Und wenn individueller
Geschmack nur eine Erscheinungsform von kollektivem Geschmack ist, Geschlecht,
Klasse, ethnische Herkunft des Konsumenten reflektiert, dann kann die »Popularität«
der populären Musik als ein Ausdruck der Balance sozialer Machtverhältnisse
verstanden werden. Dem ist insoweit nicht zu widersprechen, als kulturelle
Bedürfnisse und Erwartungen materiell begründet sind. Alle von
mir verwendeten Termini (Identität, Emotion, Erinnerung) sind sozial
formiert, unabhängig davon, ob das »private« oder das
öffentliche Leben dabei im Blick ist. Dennoch glaube ich, daß
es nicht ausreichend ist, die Bedeutung von Popmusik allein aus dem Bezug
auf kollektive Erfahrungen abzuleiten. Es bleibt dabei noch immer zu erklären,
warum einige Musikformen solche kollektiven Wirkungen stärker als
andere haben, warum diese Wirkungen unterschiedlich sind, für verschiedene
Genres, verschiedene Hörergruppen und unter verschiedenen Umständen.
Der Popgeschmack leitet sich nicht nur einfach aus der sozial produzierten
Identität her; er trägt zugleich dazu bei, diese zu prägen.
Zumindest in den letzten fünfzig
Jahre ist die Popmusik zu einem wichtigen Mittel geworden, um uns selbst
als historische, ethnische, klassengebundene, geschlechtliche Subjekte
zu verstehen. Das hatte konservative (hauptsächlich in den nostalgischen
Formen) und befreiende Wirkungen. Gewöhnlich hat die Rockkritik letzteres
als ein notwendiges Anzeichen für gute Musik betrachtet, doch hat
das, in der Praxis, zu einer merkwürdigen Vorstellung von »Befreiung«
geführt. Dieser politischen Frage gilt es sich vielmehr dadurch zu
nähern, daß die individualisierenden Wirkungen von Popmusik
ernst genommen werden. Was Popmusik zu leisten vermag, das ist die Vermittlung
eines Gefühls von Identität, das sich mit unserer Positionierung
durch andere soziale Kräfte decken kann oder auch nicht. Wenn wir
durch die Musik zu uns selbst finden, so kann das auch heißen, daß
unsere sozialen Umstände zu uns selbst im Gegensatz stehen (und daß
andere Menschen — Künstler, Fans — unsere Unzufriedenheit teilen).
Popmusik an sich ist weder revolutionär noch reaktionär. Sie
ist eine Quelle starker Gefühle, die, da sie ebenfalls sozial codiert
sind, durchaus dem »gesunden Menschenverstand« entgegenstehen
können. Über die letzten dreißig Jahre etwa war Pop, zumindest
für junge Menschen, eine Form, in der die alltäglichen Muster
von Rasse oder Geschlecht sowohl bestätigt als auch durcheinander
gebracht wurden. Es ist somit durchaus möglich, daß Musik —
U und E — eine Art kollektive wie auch fragmentierende Wirkung besitzt.
Nach meiner Auffassung besitzt sie die nur durch ihre individualisierende
Funktion. Und eben das gilt es zu verstehen.
Dt. Übersetzung: george
maveRRRick
LITERATUR
Chester, Andrew (1970):
Second Thoughts on a Rock Aesthetic: The Band, in: New Left Review, 1970/62,
75-82
Frith, Simon (1981): Sound
Effects: Youth, Leisure and the Politics of Rock'n'Roll, (Pantheon) New
York
Frith Simon/McRobbie, Angela
(1978): Rock and Sexuality, in: Screen Education, XXIX, 1978/9, 3-19.
Horton, Donald (1957): The
Dialogue of Courtship in Popular Songs, in: American Journal of Sociology,
1957/62, 569-578
Mellers, Wilfried (1973):
Twilight of the Gods: The Beatles in Retrospect, (Faber and Faber) London
Mellers, Wilfried (1984):
A Darker Shade of Pale: A Backdrop to Bob Dylan, (Faber and Faber) London
© 1997
Simon Frith
© by CrossOver
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