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Ob Sexualmoral, ob Politik: Der Wirklichkeitsbezug frommer Kreise wächst

von Uwe Birnstein

In der evangelikalen Teenagerszene herrscht Aufbruchstimmung: Neben Mission und Moral zählen Gefühl und Geschäft. Rock-Idol Cae Gauntt weiß dies zu verbinden.

* Techno in der Kirche? Während sich volkskirchliche Befürworter und Gegner streiten, lachen die Dritten. Und die gehören merkwürdigerweise zu jenen, die als konservativ verschrieen sind: den Evangelikalen. "Prophecy of Panic" und "Prodigal Sons": CDs dieser Bands gelten derzeit als Geheimtip in der bekennenden Jugendszene. Mit 160 Beats per Minute versuchen sie, das Evangelium zu verkünden. Daß sie mit ihrem "ziemlich harten Techno" auch weltliche Hitparaden erklimmen, ist nahezu ausgeschlossen.

"Kein MTV, kein Viva - ohne Medien kann man so was nicht im großen Maßstab verkaufen", meint Georg Karlstetter, PR-Mann bei Deutschlands größter christlicher Plattengesellschaft PILA. Die Firma aus dem schwäbischen Dettenhausen ist Trendsetter für die Musikkultur der christlichen Jugend. Sie kann sich rühmen, als erste christliche Teenies als Zielgruppe entdeckt zu haben. Ihre Käuferschar sind Jugendliche, die zwar auch ganz normale Musik mögen - aber statt "Ich will Spaß"-Ideologie den christlichen Glauben in ihren Songs finden möchten. Geschickt verstehen es US-Stars und ihre deutschen Importfirmen, jeden Trend in der normalen Jugendszene zu christianisieren. "Grunge" und "Rap", "HipHop" und "Heavy Metal" - jede Stilrichtung wird mit Glaubenstexten garniert: Eintrittskarte für den Einlaß in die Teenie-Zimmer evangelikaler Elternhäuser.

Was bei den Rolling Stones als anrüchig gelten würde, Christenbands dürfen alles: "The Last Prostitute" ist der Titel einer CD der holländischen Thrash-Band "Decision D.", geschmückt mit einer blonden Schönheit in zerfetzten Kleidern. "Krönung sind die Texte", schwärmt der Werbekatalog, "die teilweise wörtlich aus der Bibel entnommen sind".

Auch das Kuschelbedürfnis ihrer jungen Klientel bedienen christliche Plattenfirmen. "Romantic Rock" heißt eine CD-Reihe, die Softsongs zum Schmusen liefert. Jeansbejackte Jünglinge kommen auf den Cover-Blättern blütenweiß gekleideten Mädels nahe - fotogene Stimulationen, die der "Bravo"-Kultur in nichts nachstehen. Sechs "Romantic Rock"-Glitzerscheiben verkaufen sich prächtig. Die Nachfolgeserie nennt sich "Feel it" und bringt mit Gospels Jugendliche nicht nur in religiöse Wallung.

Daß diese Zusammenstellungen zu den beliebtesten der Szene gehören, ist kein Wunder. Denn Sexualität ist ein Reizthema auch evangelikaler Pubertierender. Sie in enthaltsame Bahnen zu lenken, bemühte sich die Initiative "Wahre Liebe wartet". Unterschriftenkarten verlangen flüggen Teenies ein limitiertes Zölibats-Gelübde ab: "Durch die Gnade Gottes verpflichte ich mich ab heute vor Gott, mir selbst, meiner Familie, meinen Freunden und meinem zukünftigen Ehepartner, bis zum Tag meiner Heirat sexuell rein zu bleiben." Datum. Unterschrift. Tausende von Jugendlichen haben seit Beginn der Aktion vor zwei Jahren ihr Versprechen abgelegt. Auch "Wahre Liebe wartet" ist ein US-Import. In den Staaten ist "True love waits" zu einer Massenbewegung geworden. 211000 Teenager übergaben ihr Keuschheits-Kärtchen Präsident Bill Clinton. Initiator in Deutschland ist "Christen für die Wahrheit", eine kleine und recht konservative Christenschar in der schwäbischen Provinz.

"Wahre Liebe wartet" hatte anders Erfolg als gedacht: Evangelikale Jugendverbände mußten sich schneller als gewünscht Gedanken machen, wie ihre Teens mit dem Thema Sex verantwortlich umgehen könnten. Denn der schlagzeilenträchtigen US-Aktion stehen die meisten Evangelikalen eher skeptisch gegenüber. "Bei Jugendlichen kann sehr leicht die Botschaft ankommen: Sexualität vor der Ehe ist schmutzig", meint Karl Heinz Zimmer, Vorsitzender des Jugendarbeitskreises der Deutschen Evangelischen Allianz, und fragt: "Was ist mit denen, die trotz Verpflichtung nicht mit ihrer Sexualität klarkommen?"

"Wir halten Seelsorge für den besseren Ort, um Lebensentscheidungen vor Gott festzumachen", meint Michael Borkowski, ehemaliger Jugendwart des Bundes evangelisch-freikirchlicher Gemeinden. Aus der forschen Forderung nach vorehelicher Enthaltsamkeit wird in einer Broschüre der Baptisten eine lange Formulierung: "Wir laden ein, für sich selbst eine Entscheidung zu treffen und mit dem Geschlechtsverkehr bis zum Beginn einer verbindlichen, auf Dauer angelegten Partnerschaft zu warten, wie sie Gott mit der Ehe schenkt", heißt es darin. "Immer mehr christliche Jugendliche heiraten immer früher", beobachtet die Hamburger CVJM-Leiterin Brigitte Klesse. Vielleicht die einfachste Art, das Warten zu verkürzen?

In jedem Fall ist das christliche Kuschelrock-Phänomen ein Signal dafür, daß sich die fromme Sexualmoral den Bedürfnissen von Jugendlichen vorsichtig annähert. Zu groß sind die Verletzungen, von denen evangelikal aufgewachsene Menschen berichten. Daß sie mit ihren Problemen nicht im Regen stehen bleiben, verdanken sie einer vor Jahren undenkbaren Konstellation der Verschwisterung von evangelikaler Seelsorge und Psychotherapie. "Biblisch-therapeutische Seelsorge" gilt als Garant für gläubige Lösung seelischer Probleme. Gesprächskreise und Seminare zu Fragen der Sexualität werden allerorten angeboten. In Kleinanzeigen suchen "bekennende Christen" in offener Form Partner und Partnerinnen. Zum Beispiel in "dran", dem Schrittmacher der neuen Generation evangelikaler Zeitschriften für junge Leute. Unter den 18.000 Lesern sucht ein "klassischer sportlicher Naturtyp" ein "gestandenes Vollblutweib". "Christin, 28" erhofft sich ein "Gegenüber ohne Berührungsängste", und ein "fliegender Teppich" wünscht sich jemanden "für alles, was allein nur halb so schön ist".

"Was tun, wenn man es tut?" titelt ein Buch über Masturbation. Und in "dran" bekennt ein junger Mann freimütig: "Ich war sexsüchtig!" Die Ehrlichkeit besticht: Nachdem der gläubige Christ Pornokinos konsultierte, hielt er Andachten im Jugendkreis. Nicht eine Bekehrung beendete sein Doppelleben, sondern Psychotherapie.

Verklemmtheit scheint im Lager der bekennenden Christen zu den aussterbenden Verhaltensmustern zu gehören. Diese Entwicklung ist ein riesiger Fortschritt, an dem sich selbst die Jüngsten ergötzen können. "Teens" heißt das christliche Pendant zu "Bravo". "Teens" widmet sich offen den Themen, die 13- bis 17jährigen auf der Zunge liegen. "Wir nehmen die Lebenswirklichkeit frommer Teenager ernst", erklärt Redakteurin Anja Gundlach: Mode, Musikmarkt, Magersucht. "Teens" widmet sich nicht nur frommen Themen. Das Konzept geht auf. Im ersten Jahr ihres Erscheinens konnte sich "Teens" in Deutschland 8000 Abonnements sichern - "Tendenz steigend", freut sich Anja Gundlach. Sie führt den Erfolg darauf zurück, "daß nicht alles sofort christlich gewertet wird".

Daß Bibelarbeiten und Zeltevangelisationen kaum noch glaubensferne Jugendliche aus den Discos holen, ist vielen Evangelikalen zur bitteren Lehre geworden. "Über große Programme erreichen wir nicht viel", meint Uwe Stolpmann, Baptistenpastor im westerwäldischen Hachenburg. "Ich muß in die Welt der Jungen kommen, ihre Probleme verstehen lernen, anstatt mein Programm anbringen zu wollen." Hauruck-Bekehrung ist in der evangelikalen Jugendbewegung nicht mehr angesagt. "Das beste missionarische Mittel ist eine vorbildliche Persönlichkeit", meint Stolpmann. "Ich gewinne das Vertrauen des anderen, indem ich ihm Einblick in mein Leben gebe und er sieht, wie ich lebe."

Um aus dem Insider-Geklüngel herauszukommen, gehen viele freikirchliche Gemeinden neue Wege. Der Hamburger Baptistenpastor Carsten Hokema sah "Tag für Tag Jugendliche auf unseren Treppenstufen sitzen", "13- bis 16jährige Kinder, die durch die Straßen streunen". Also öffnete er die Kirche, stellte Kicker und Billard zur Verfügung - und freut sich seit zwei Monaten über eine neue Jugendgruppe, die "Treppenkids". "Mit dem missionarischen Holzhammer kommen wir denen nicht", meint Hokema. "Die Kids sind für uns keine Missionsobjekte. Wenn sie Gemeinde als Ort der Geborgenheit empfinden, ist schon viel erreicht." Statt die Satellitenevangelisation "ProChrist" zu promoten, praktiziert Hokema "projektbezogene Jugendarbeit". "Die Erfahrungen sind großartig", freut sich der Theologe. Ganz Hamburg kann sie sehen.

An einer der meistbefahrenen S-Bahn-Strecken sorgt die Sprühgruppe seiner Gemeinde für Graffiti-Denkanstöße. Eine zur ChurchCard gewordene BahnCard zum Beispiel, "gültig bis in alle Ewigkeit". Oder eine Persiflage auf das gegenüberliegende Musicaltheater "Phantom der Oper": "Jesus - kein Phantom, sondern Realität. Nächste Vorstellung Sonntag 10 Uhr." Die Musical-Stars hat das christliche Gegenüber animiert. Inzwischen geben sie Benefiz-Konzerte zugunsten der Bosnien-Hilfe. "So proppenvoll ist es sonst selten bei uns", schwärmt Hokema. Und erzählt von einigen Besuchern, die danach sogar im Gottesdienst erscheinen.

Selbst Politik ist in evangelikalen Jugendkreisen kein Tabu mehr. Der Vorwurf, sie entzögen sich mit Hilfe ihres privaten Glaubens dem aktuellen Tagesgeschehen, trifft auf viele nicht mehr zu. Zwar wandern auch viele Jugendliche auf "Jesusmärschen" mit, um bestimmte Landstriche von "dämonischen Kräften" zu befreien. Doch daß selbst der pietistische Jugendverband "Entschieden für Christus" (EC) Unterschriften gegen Atomversuche sammelt, ist ein Zeichen für wachsenden Wirklichkeitsbezug frommer Kreise.

Ob das "Christival" im Mai diese Tendenz festigt - darauf warten Beobachter der Szene gespannt. 20.000 Besucher erwarten die Initiatoren in Dresden. "Christival möchte Antworten geben, wie man untereinander und mit Jesus Freundschaft schließen und ihm praktisch nachfolgen kann", meint der Vorsitzende Roland Werner. Der Afrikanist und Theologe aus Marburg hat die schwierige Aufgabe, evangelikale und charismatische Jugendliche zu integrieren. Dabei könnte die Öffnung zur Welt zu kurz kommen.
 

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Wenn Sie mehr erfahren wollen, DS - Das Sonntagsblatt - Nr. 10



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