www.Crossover-agm.de Gespräch zwischen einem jungen und einem alten Kritiker
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von Arthur Schnitzler; zit. nach: Manfred Diersch (Hrsg.): Arthur Schnitzler. Aphorismen und Notate. Gedanken über Leben und Kunst. Leipzig u. Weimar, 1987

DER JUNGE stürzt mit dem Ausdruck der lebhaftesten Begeisterung in die Redaktion und setzt sich nach flüchtigem Gruß an den Schreibtisch.
DER ALTE ihm gegenüber, betrachtet ihn mißtrauisch; er sieht von seiner Arbeit auf, und nach einigem Zögern fragt er ihn. Nun, was gibt es denn?
DER JUNGE: O Herr Martens, Herr Martens! Schreibt weiter.
DER ALTE (noch mißtrauischer): Nun, wie war es denn?
DER JUNGE: Es war herrlich! Lucius ist doch der Größte, den wir haben! Er wächst von Werk zu Werk. Es war ein Bombenerfolg.
DER ALTE: Na Sie, hören Sie - wollen Sie das am Ende schreiben?
DER JUNGE: Selbstverständlich.
DER ALTE: Selbstverständlich? Sind Sie mit ihm befreundet?
DER JUNGE: Ich kenn' ihn garnicht.
DER ALTE: Wollen Sie seine Tochter heiraten?
DER JUNGE: Ich bin ja verlobt.
DER ALTE: Ja, warum wollen Sie denn das also schreiben?
DER JUNGE: Nun, ganz einfach, weil es wahr und weil es meine Meinung ist.
DER ALTE: O hohohoho!
DER JUNGE: Ja, ich versteh' Sie wirklich nicht, Herr Martens! Sie machen wieder einmal Witze.
DER ALTE: Fällt mir gar nicht ein.
DER JUNGE: Sie wollen sich schlechter machen, als Sie sind.
DER ALTE: Habe keine Ursache.
DER JUNGE (versucht zu schreiben): Sie haben mich wahrhaft ganz aus dem Kontext gebracht.
DER ALTE: Sie werden schon wieder ins Geleise kommen. Gewiß. Wenn es wirklich eine so große Sache war, wenn Herr Lucius wirklich den Shakespeare totgemacht hat ...
DER JUNGE: Wer sagt das?
DER ALTE: Sie, mein Lieber.
DER JUNGE: Ich ... ich hätte gesagt - ?
DER ALTE: Auf den Wortlaut kommt es nicht an. Es kommt auf den Eindruck an, den die Worte machen, die man spricht. Na, und als Sie da wie ein Irrsinniger hereingestürmt kamen, von Bombenerfolg, großem Dichter und allerlei Herrlichkeiten faselten - na, da hatt' ich eben den Eindruck: Shakespeare ist ein überwundener Standpunkt. Sie können sich darauf verlassen: wenn Sie so schreiben, wie Sie eben gesprochen haben, wird jeder unbefangene Leser den Eindruck haben, dass Sie Shakespeare und Sophokles für alte Trottel halten. Von Schiller, Kleist, Hebbel, Grillparzer garnicht zu reden.
DER JUNGE: Aber ich habe doch nicht im entferntesten behauptet, dass Herr Lucius mit Shakespeare, Kleist, Grillparzer nur zu vergleichen ist!
DER ALTE: Ja, das sagen Sie jetzt, sagen Sie mir unter vier Augen. Warum schreiben Sie denn das nicht, - he, Sie, der immer nur die Wahrheit schreibt - Sie Ehrenmann! Sie werden mir lang einreden, dass sie gestern nicht bei Herrn Lucius zum Essen eingeladen waren!
DER JUNGE: Herr!
DER ALTE: Nun ja, warum haben Sie die Absicht, so wesentliche Dinge zu verschweigen? Warum sagen Sie es insgeheim, dass Lucius kein Schiller, kein Grillparzer, ja nicht einmal ein Mathäus von Collin ist.
DER JUNGE: Ich kenne Herrn von Collin nicht.
DER ALTE: So? Sie kennen Herrn von Collin nicht? Soll ich Ihnen sagen, wer Collin war? Ein Dichter - ein großer Dichter! Der Dichter des "Regulus", - ein Dichter ersten Ranges. Jedenfalls im kleinen Finger mehr als Ihr Herr Lucius.
DER JUNGE: Ja, ich bitte Sie, Sie haben das heutige Stück von Herrn Lucius nicht gesehen, - wie können Sie über ihn urteilen?
DER ALTE: Haben Sie den "Regulus" gesehen?
DER JUNGE: Nein allerdings ...
DER ALTE: So wären wir wohl quitt, denk' ich. Obzwar ich glaube, dass man von Collin noch reden wird zu einer Zeit, wo nach Ihrem Herrn Lucius kein Hahn mehr kräht. Aber schreiben Sie nur das Gegenteil! Schreiben Sie nur: Collin war ein talentloses Schreiberlein und Herr Lucius ist der neue Shakespeare. Aber ich möchte dann nicht in Ihrer Haut stecken und hören, was man morgen über Ihre Besprechung sagt. Nicht jeder kennt Sie so gut wie ich, mein junger Freund, nicht jeder ist überzeugt ... Schreiben Sie übrigens, was Sie wollen.
DER JUNGE: Sie glauben, man könnte mir Motive unterschieben?
DER ALTE: Glauben ist gut! Wenn man es den Leuten so leicht macht, darf man sich nicht wundern. Mein Lieber, wenn man über mittlere Talente in einem Ton schreibt wie über Genies, wenn dieses mittlere Talent überdies ein liebenswürdiger, gastfreier, reicher Herr ist, der eine heiratsfähige Tochter hat, und wenn man selber ein armer Schlucker ist, der hundert Gulden Gage hat und davon überdies eine alte Mutter ernähren soll ...
DER JUNGE: Meine Mutter hat eine Pension.
DER ALTE: Ah, schreiben Sie übrigens, was Sie wollen.
DER JUNGE: Sie halten es wirklich für möglich, dass auf mich der Verdacht fallen könnte ...?
DER ALTE: Ich kann ja den Leuten sagen, dass ich für meinen Teil nicht daran glaube.
DER JUNGE: Wenn ich die Bemerkung einschöbe ... freilich, ein Shakespeare, ein Grillparzer, ein Collin ist Herr Lucius nicht?
DER ALTE: Man tut immer besser, bei der Wahrheit zu bleiben. Aber bitte, schreiben Sie nur, ich will Sie nicht stören.
DER JUNGE: Ich weiß nicht mehr, wie ich beginnen soll.
DER ALTE: Ich diktiere Ihnen den Anfang. "Heute abend wurde das herrliche Drama des Herrn ..."
DER JUNGE: Es was kein Drama - es waren drei Stücke, Einakter.
DER ALTE: Einakter?
DER JUNGE: Ja.
DER ALTE: So? Also mit dergleichen Sächelchen gibt sich Herr Lucius jetzt ab. Hm ... Nippes ... arbeitet sich wohl bequemer ...
DER JUNGE: Schließlich kann doch auch ein Einakter ein Kunstwerk sein.
DER ALTE: Gewiß. Auch ein geschnitztes Lineal kann ein Kunstwerk sein. Aber Sie werden es doch nicht mit dem Moses von Michelangelo vergleichen? - Es bleibt also mein gutes Recht, wenn ich an den Moses von Michelangelo und an den "Faust" von Goethe denke, ein geschnitztes Lineal und die Einakter des Herrn Lucius "Sächelchen" zu nennen. Oder beleidige ich damit Ihren Herrn Lucius? Schließlich kann ja auch innerhalb eines Einakters die Lebensanschauung des Verfassers zutage treten.
DER JUNGE: Natürlich.
DER ALTE: Nur wird es notwendig sein, etwas über die Art dieser Weltanschauung zu reden. Denn wenn ich Ihnen meine aufrichtige Meinung sagen will: das ganze Gerede von der Weltanschauung ist einfach ein Schwindel. Entweder ist man heiter oder traurig - entweder glaubt man an eine Unsterblichkeit der Seele oder nicht - entweder hält man die Menschen für verbesserungsfähig oder man hält sie für eine Bande von Idioten und Schurken, - weder zu der einen noch zu der anderen Anschauung gehört meiner Ansicht nach besonders viel Philosophie. Und ich meinerseits würde mir auch von dem, was Sie die Weltanschauung des Herrn Lucius nennen, keineswegs imponieren lassen.
DER JUNGE: Aber ich habe doch garnicht behauptet, dass in den Sächelchen des Herrn Lucius eine Weltanschauung zutage tritt.
DER ALTE: So? Nach Ihrem enthusiastischen Lallen beim Eintritt in dieses Lokal habe ich allerdings verzeihlicherweise den Eindruck gewinnen müssen, dass es diesmal endlich gelungen ist, die Weltanschauung des Herrn Lucius zu eruieren, von der er in seinen bisherigen Werken mit einer sonderbaren Beharrlichkeit nicht das geringste hat merken lassen. Oder wissen Sie etwas von ihr?
DER JUNGE: Weltanschauung? ... Aber Sie sagten ja selbst, Herr Martens, es gehöre nicht viel Philosophie dazu.
DER ALTE: Wahrhaftig, es gehört nicht viel dazu! Aber auch dieses Wenige scheint Herr Lucius nicht zu besitzen. Auch dieser Mangel gehörte zu den zahlreichen anderen, über die Sie sich in ihrer Kritik gründlich auszuschweigen gedenken. Für die Leser unserer morgigen Nummer wird nur mehr die Frage zu entscheiden sein: Spinoza oder Lucius?
DER JUNGE: Aber was kann ich denn dafür?
DER ALTE: Was Sie dafür können? ... Wer denn ist dafür verantwortlich? Etwa unser Herausgeber - oder ich - oder Herr Lucius selbst, dem es gewiss nicht befällt, seinen Nichtigkeiten den Wert von philosopischen Offenbarungen beizulegen und der sich nicht wenig wundern wird, dass er gerade diesmal, wo er von seinen lächerlichen Versuchen auf dem Gebiet des höheren Dramas zu den feuilletonistischen Plaudereien umkehrt, - dass er gerade jetzt als großer Dichter ausgerufen wird!
DER JUNGE: Aber ... meiner Ansicht nach sind diese Versuche durchaus nicht mißglückt, und ich glaube verpflichtet zu sein, das bei dieser Gelegenheit zu erwähnen.
DER ALTE: Was - Sie sind verpflichtet? Haben Sie die Absicht, heute abend eine Literaturgeschichte zu schreiben - oder eine Theaterkritik? Was interessieren denn Ihre Leser, die morgen sich bei den Albernheiten ihres geliebten Lucius amüsieren wollen, seine anderen Stücke? Sie sind Theaterkritiker, mein Lieber, Sie haben sich um das zu kümmern, was Sie heute sahen, und um den Eindruck, den es auf Sie und das Publikum gemacht hat.
DER JUNGE: Auf das Publikum hat's einen außerordentlichen Eindruck gemacht. Es war ein Bombenerfolg. Nach jedem Stück wurde Lucius hervorgejubelt.
DER ALTE: So? ... Na, das stimmt ja zu der ganzen Sache, das stimmt ja zu dem Bild, das ich mir von Herrn Lucius gemacht habe.
DER JUNGE: Inwiefern?
DER ALTE: Er trifft den Geschmack der Vielen, der Vielzuvielen - des Premierenpöbels.
DER JUNGE: Aber das ist doch keineswegs der Fall.
DER ALTE: Sie sagen doch eben, dass es ein Jubel war ...?
DER JUNGE: Ja.
DER ALTE: Nun, haben Sie nicht selbst neulich anläßlich der Posse von Horst und Stein gefunden, dass sie dem Geschmack des Premierenpöbels entsprach? Und heute, weil es sich um Herrn Lucius handelt, stellt der Pöbel die Erlesensten der Nation vor? Neulich waren es Trotteln, Crettins - heute sind es Philosophen? Neulich hatten die Leute unrecht - heute haben sie Recht?
DER JUNGE: Zuweilen trifft der Geschmack des Publikums auch das Richtige.
DER ALTE: Zweifellos. Nur möcht ich mir zu bemerken erlauben, dass die Stunde nach der Premiere etwas zu früh ist, um danach zu urteilen, und dass Sie wahrscheinlich nicht der Mann sind, es schon heute zu entscheiden.
DER JUNGE: Von diesem Standpunkt bliebe mir nichts anderes übrig, als die Feder hinzulegen.
DER ALTE: Das seh' ich nicht ein. Es bleibt Ihnen noch etwas anderes übrig. Die reine Wahrheit zu schreiben.
DER JUNGE: Ich weiß garnicht mehr, was die Wahrheit ist - ich bin völlig verwirrt.
DER ALTE: Sammeln Sie sich. Notieren Sie in Kürze den Inhalt der Stücke, ich will indes für Sie die Einleitung besorgen.
DER JUNGE: O, Sie sind zu gütig.
Beide schreiben. Nach fünf Minuten übergibt der Alte dem Jungen das Manuskript.
DER JUNGE (liest): "Heute war es uns vergönnt, das Neueste zu genießen, was uns die bescheidene Muse des Herrn Lucius beschert hat. Wieder waren es einige zierliche Sächelchen, für die das Talent des Dichters eben ausreicht, und wieder fanden sie den Beifall, auf den eine gewisse Art von reinlichem Kunsthandwerk stets bei einem Publikum rechnen darf, das seine Zustimmung regelmäßig jenen Werken versagt, in denen irgendetwas wie eine Weltanschauung zutage tritt. Herr Lucius und seine Zuhörer sind einander wert. Wie sich das Publikum der nächsten Vorstellungen zu den graziösen Nichtigkeiten das Herrn Lucius verhalten wird, bleibt abzuwarten. Am heutigen Abend wurde er von seinen Freunden ein Dutzend Mal hervorgerufen. Wir denken, ein halbes Dutzend Vorstellungen sind Herrn Lucius ebenso sicher wie eine Unsterblichkeit von zehn Jahren."
DER ALTE: Haben Sie etwas dagegen einzuwenden? Steht in dieser Kritik ein unwahres Wort?
DER JUNGE: Nein, gewiß nicht. Immerhin ... die Stelle mit den Freunden.
DER ALTE: Nun, glauben Sie, dass es seine Feinde waren, die ihn hervorgejubelt haben?
DER JUNGE: Nun, und der Schluss ... was tun wir, wenn das Stück öfter als sechs Mal geht? Und wenn Herrn Lucius' Unsterblichkeit länger währt als zehn Jahre?
DER ALTE: Was wir da tun? O Sie Kindskopf! Wer denkt in acht Tagen noch an unsere Kritik?
DER JUNGE: Ja, Sie treiben mich von einer Verwunderung in die andere! Warum dann alles? Weshalb ließen Sie mich nicht ruhig gewähren? Weshalb dieser Ton, dieser hämische, verkleinernde, da wir nicht das geringste damit erreichen, wie Sie selbst sagen - höchstens, dass sich Herr Lucius eine Viertelstunde lang ärgert.
DER ALTE: Mein Lieber, nichts anderes - Sie haben vollkommen recht. Aber da dies unsere ganze Macht ist, - warum sollen wir sie nicht zeigen, wann immer sich die Gelegenheit bietet?



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