www.Crossover-agm.de "Hast Du das schon dokumentiert?"
Das Dilemma der Sozialpädagogischen Arbeit in Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen

DownloadText hier downloaden.Download

von tk anno 2012

Vor mir sitzt Özkan. Er ist 18, hat keinen Hauptschulabschluss, will ihn aber unbedingt nachholen. Es ist schon sein zweiter Hauptschulkurs in einer Berufsvorbereitung, den er besucht. Den ersten hat er abgebrochen, weil er keinen "Bock" mehr hatte. Ich habe Özkan zum Gespräch gebeten, da er häufig zu spät oder gar nicht in den Lehrgang kommt. Er hat massive private Probleme zu Hause. Sein Vater macht ständig Druck. Was er denn beruflich mal machen möchte, frage ich ihn. "Maurer oder Tischler", antwortet er zögerlich. Sein Vater halte aber nichts davon, dass er eine Ausbildung beginne. Er solle lieber arbeiten und Geld verdienen. Ich erkläre ihm, dass er mit einer Ausbildung wesentlich bessere Chancen hat, später einen guten Job zu bekommen. Nun sei aber erst einmal das vorrangige Ziel, den Hauptschulabschluss zu erreichen. Das falle ihm recht schwer, weil er oft keine Lust hat, den ganzen Tag im muffigen Klassenraum zu sitzen und Mathe oder Deutsch zu lernen. Er wolle lieber chillen, Spaß haben und mit Kumpels zocken, wendet Özkan ein. Während unseres Gesprächs spielt er mit seinem Handy. Blickkontakt kann er nicht herstellen. Seine Mimik signalisiert wenig Selbstbewusstsein, eher Perspektivlosigkeit und Resignation.

Özkan ist einer von rund 350.000 Jugendlichen, die jährlich im sogenannten Übergangssystem der Bundesagentur für Arbeit zwischengeparkt werden, da sie aufgrund persönlicher und schulischer Defizite nicht in der Lage sind, einen Ausbildungsplatz zu ergattern. Die wenigsten dieser Jugendlichen kommen aus intakten Elternhäusern, geschweige denn geordneten persönlichen Verhältnissen. Viele von ihnen haben bereits eine kriminelle Laufbahn vorzuweisen, sind hoch verschuldet und nicht in der Lage, mit Geld und materiellen Gütern eigenverantwortlich umzugehen. "Die Teilnehmer werden immer schwieriger" - schallt es landauf, landab, wenn ich mich in der Bildungsträger-Landschaft umhöre. Das Übergangssystem der Arbeitsagentur wird nach wie vor gepriesen und gelobt, um schwer vermittelbare und sozial auffällige Jugendliche für den Ausbildungsmarkt fit zu machen. Doch längst ist auch bei den Berufsberatern und Fallmanagern die Erkenntnis gereift, dass die Problemlagen der nicht ausbildungsreifen Jugendlichen so komplex und tief greifend sind, dass sie in einer klassischen Berufsvorbereitung nicht mehr bearbeitet oder aufgefangen werden können. Nicht unerheblich trägt zu dieser Einsicht die Erkenntnis bei, dass auch Ärzte und Psychologen über immer mehr verhaltensauffällige und psychisch kranke Kinder und Jugendliche klagen. Dabei handelt es sich zumeist nicht nur um ein spezifisches Krankheitsbild, sondern um multiple Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen, die durch jahrelange Negativprozesse in der frühkindlichen und kindlichen Entwicklung zu einer Verselbständigung delinquenter Verhaltensweisen geführt haben. Diagnostizierte Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen in diesem Umfang lassen sich auch in einem Berufsvorbereitungslehrgang kaum angemessen bearbeiten; schon gar nicht von einem Sozialpädagogen allein, der sechzig oder mehr Teilnehmer zu betreuen hat. Selbst der ehemalige Bundesaußenminister Klaus Kinkel stellt fest, dass die falsche Fokussierung in der Bildungspolitik in erster Linie denen schadet, für die Anreize zum Lernen geschaffen werden sollen. In einem Interview mit der taz beschreibt er die Bildungsmisere wie folgt: "Es geht letztlich um die Kinder. Darum, ihre wunderbare Neugier wach zu halten und um ihre Chancen in der Gesellschaft. Aber genau da liegt der Hase im Pfeffer. (...) Mir kommt die Schule manchmal eher wie ein Reparaturbetrieb für frühe Versäumnisse vor - und zwar ein schlecht gemachter. Die Schule kann Rückstände der Kinder kaum mehr kompensieren. Dafür hat sie zu wenig Zeit und dafür hat sie auch zu viele Gelenk- und Übergangstellen, an denen viele dieser Kinder hängen bleiben" (URL: http://www.taz.de/!58321 vom 19.01.2012). Wobei Kinkel natürlich außer acht lässt, dass auch die Bereitschaft engagierter Pädagogen und Lehrkräfte nachlässt, sich dieser verheerenden Entwicklung entgegenzustemmen.

Einen nicht zu unterschätzenden Faktor stellt der immer weiter ausufernde administrative Aufwand dar. In Pflege- und Sozialberufen macht er eine klientenzentrierte Arbeit inzwischen nahezu unmöglich. Mit dem fast nicht mehr zu bewältigenden Dokumentationsaufkommen nimmt auch die Frustration unter den Mitarbeitern rapide zu. Dokumentiert wird mittlerweile jeder noch so belanglose Vorgang und Dialog, der zwischen Teilnehmer, primären, sekundären und tertiären Ansprechpartnern, die - in welcher Funktion auch immer - am Eingliederungsprozess des Jugendlichen partizipieren, geführt wird. Als Vehikel für den wahnwitzigen Dokumentierexzess dienen eigens für solche Maßnahmen von Softwarefirmen entwickelte Datenbanken. Eindrückliches Beispiel: die Maßnahmesoftware STEP des Kieler Unternehmens ergovia. STEP stellt Bildungsträgern eine umfangreiche wie unerschöpfliche Spielwiese zum Dokumentieren und Verwalten von Daten zur Verfügung, gemäß dem Aufbau einer Access-Datenbank. In schier unerschöpflicher Fülle lassen sich persönliche Daten und Angaben des Maßnahmeteilnehmers sowie Unterrichtseinträge, Beratungsgespräche, Qualifizierungs- und Förderplanung in das System einspeisen. Um Zeit bei der Dokumentation zu sparen, greifen Mitarbeiter inzwischen auf Textbausteine zurück. Bildungsbegleiter und Sozialpädagogen formulieren Zielvereinbarungen - die in Wahrheit keine Vereinbarungen sind, sondern aufoktroyierte Vorgaben, über deren Sinn und Unsinn trefflich gestritten werden kann. Die berechtigte Frage, wo in diesem Dokumentations-Overkill noch der persönliche Bezug zum Teilnehmer bleibt, wird krampfhaft ausgeblendet. Stattdessen werden Unternehmensziele, die Implementierung eines Qualitätsmanagement-Systems und Controllings gebetsmühlenartig als glorifizierendes Manifest in den Fokus gerückt, um sich bei Zertifizier- und Prüfdiensten möglichst nicht in die Nesseln zu setzen. Schon bei kleinsten Ungereimtheiten oder Lücken in der Dokumentation drohen dem Bildungsträger Konventionalstrafen von bis zu 25.000 Euro, in ganz harten Fällen sogar der Entzug der Maßnahmedurchführung. Der junge Mensch wird schamlos instrumentalisiert für ein System, das ihn auf eine dokumentierbare Masse reduziert. Das Resultat dieses Bildungs-GAUs schlägt sich nicht bloß in massiven Motivationsproblemen und Verweigerungsstrategien der Jugendlichen nieder. Welche Lehrkraft, welcher Pädagoge möchte noch Energie und Leidenschaft in seine Arbeit investieren, wenn ihm von vornherein eingeschärft wird, dass sein Mühen vorrangig den Zielen Erhöhung der Vermittlungsquote (gleichzusetzen mit Gewinnmaximierung), marktstrategische Positionierung wie Profilierung seines Brötchengebers gegenüber Konkurrenzfirmen und Umgehung möglicher Konventionalstrafen zu dienen hat?! In der IT-Branche mag das gängige Praxis sein, in der Arbeit mit benachteiligten jungen Menschen ist das eine toxische Mixtur!

Insbesondere die Funktion des Sozialpädagogen in der BvB erscheint vor diesem Hintergrund mehr als fragwürdig. Seine tägliche Arbeit gleicht einem Spießrutenlauf. Während er den Betreuungsaufwand der Teilnehmer, wie bereits oben beschrieben, kaum noch bewältigen kann, wird er auch beim Stricken eines engmaschigen Netzes von Hilfsangeboten auf keinen grünen Zweig kommen. Seine sozialpädagogische Arbeit wird zur Farce, sein Arbeitsalltag zu einer reinen Alibi-Veranstaltung. Wichtig ist, was im Ordner abgeheftet und in der Datenbank dokumentiert ist, nicht was tatsächlich umgesetzt wurde oder werden soll.
Was soll der Sozialpädagoge in der BvB konkret leisten? Gewaltpräventionstraining, Sozial- und Kompetenztraining, Motivationsschulung, wenn möglich noch Unterricht in ordentlichen Lehrfächern erteilen (Lehrbefugnis?), Akten auf Vordermann bringen, Telefonate mit Beratungsstellen führen, Teilnehmer zu Beratungs- und Behördenterminen begleiten und in einer "ruhigen Minute" offene sozialpädagogische Angebote konzipieren, damit auch die Rundum-Bespaßung der jungen Leute gewährleistet ist. Last but not least fungiert er noch als "Mädchen für Alles", wenn sich die Bildungsbegleitung gerade mal wieder auf Betriebsbesuch befindet, Leistungs- und Verhaltensbeurteilungen ins System einspeist und Lehrkräfte akribisch ihren Unterricht vorbereiten. Noch einmal: Entscheidend ist nicht, was realiter mit den Jugendlichen im Sinne einer gelingenden Berufsvorbereitung umgesetzt wird, sondern was nachweisbar dokumentiert ist. Statt mit dem Sozialpädagogen einen leistbaren und klar strukturierten Arbeitsbereich abzustecken, hat er im System BvB als Allroundman und Einzelkämpfer mechanisch zu funktionieren. "Vogel friss oder stirb" lautet das verordnete Prinzip. Burn Out, Depression, psychosomatische Erkrankungen sind nicht selten die Folge. Angesichts dieser Entwicklung erscheint es logisch wie nachvollziehbar, dass nur noch wenige Kolleginnen und Kollegen bereit sind, sich im Bereich der Berufsvorbereitung zu engagieren. Das unterirdische Lohnniveau tut sein übriges dazu.
Dass selbst Jugendliche die Schizophrenie dieses Systems längst erkannt haben, liegt auf der Hand und wird unter diesen lebhaft diskutiert. Hin und wieder ringt sich auch mal jemand dazu durch, in schriftlicher Form auf die Misere aufmerksam zu machen, wie das nachfolgende Kündigungsschreiben eines BvB-Teilnehmers verdeutlicht:

"Die Maßnahme hält ihre Ziele nicht ein und hilft mir nicht einen Ausbildungsplatz zu kriegen. Ich muss während des, für mich, unnötigen "Unterrichts" fragen ob ich denn für ein Praktikum telefonieren DARF! (...) Teilnehmer hörten mit den Stöpseln im Ohr sogar Musik, als sie mit der Bildungsbegleitung eine Bewerbung geschrieben haben. Ist das der Ernst des Staates so Geld aus dem Fenster zu werfen? Zu diesen Zauberlehrlingen will und möchte ich mich nicht zählen. An solch einer Maßnahme will ich nicht beteiligt sein. (...) Ich bekomme Geld und habe dafür etwas geleistet. Ich habe selber angerufen und mich um die Praktika gekümmert. Ich verlange keinen Lob, aber diese Maßnahme sollte es in meinen Augen nicht geben. Für arbeitsscheue Sozialfälle, wie diese sollte es einen anderen Ausweg geben." (E-Mail vom 01.02.2012).

Der junge Mann hat mit seiner Kritik zweifelsohne völlig recht und deckt die Schwächen des Systems schonungslos auf. In einer vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und der Bertelsmann Stiftung im Jahr 2009 in Auftrag gegebenen Studie wurden rund 500 Bildungsexperten zum Übergangssystem befragt. Das Ergebnis ist verheerend:
"Die milliardenteuren Kurse zur beruflichen Qualifizierung von Jugendlichen sind (...) oft nicht ihr Geld wert. Außerdem sei das Wirrwarr der zahllosen Angebote selbst für Fachleute kaum zu überblicken." (Gießener Anzeiger vom 14.01.2011).
Wer einmal in den Strudel der Berufsvorbereitung oder anderer Maßnahmen geraten ist, wird sich schwerlich daraus befreien können. Die Chancen, in den ersten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt einzumünden, sinken deutlich. Es werden Maßnahme-Karrieren produziert, die spätestens beim Erstellen des Lebenslaufes für Bewerbungsunterlagen immer deutlicher sichtbar werden.

Am treffendsten beschreibt Michael Sauga in seinem SPIEGEL-Artikel unter der Überschrift "Wie Deutschland an den Gescheiterten scheitert" die Lage: "Vielen Jugendlichen hat das deutsche Bildungssystem nicht mehr zu bieten als ein getarntes staatliches Verwahrprogramm. (...) Am unteren Ende des Ausbildungssystems bereiten viele Hauptschulen die Jugendlichen auf ein Leben in der Sozialhilfe vor. Jedes Jahr entlässt der Staat acht Prozent seiner Jugendlichen ohne Abschluss und Zukunftsperspektive aus seinem Schulsystem. (...) Nicht wenige von ihnen landen in einem der Betreuungsprogramme der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit, die beschönigend als Übergangssystem bezeichnet werden, sich aber vielfach als Endstation entpuppen. (...) Es ist ein Teufelskreis aus behördlicher Anordnungslogik und jugendlichem Trotz, der mit jeder Umdrehung ein Stück weiter vom Berufsleben wegführt." (URL: http://www.spiegel.de/schulspiegel/0,1518,585369,00.html vom 19.01.2012).

Was lernen wir daraus? Das sogenannte Übergangssystem gehört dringend auf den Prüfstand gestellt. Eine gründliche Überarbeitung des Fachkonzeptes BvB, in der neben einer Minimierung des administrativen Aufwandes auch eine Aufstockung qualifizierten Fachpersonals vorgesehen ist, erscheint mir zwingend notwendig. Ich behaupte sogar: Je schlanker die Dokumentation, desto effektiver kann die (sozial-)pädagogische Arbeit mit dem Jugendlichen gestaltet werden und somit die zielfördernde Eingliederung in den Ausbildungsmarkt erfolgen. Wie soll unter den derzeitig herrschenden Bedingungen noch Unterstützung, Förderung und Begleitung gelingen, wenn einem keine Zeit mehr bleibt, sich dem einzelnen Jugendlichen zuzuwenden? Ich bin allerdings skeptisch, dass sich die Verantwortlichen in der BA und auf Bildungsträgerebene auf einen ernst gemeinten Diskurs einlassen werden. Die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass ein Weiterwursteln wie bisher eher zu erwarten ist. Die Folgen werden dramatisch sein. Ich halte es als Betroffener, im Interesse der jungen Menschen, für unanständig und verantwortungslos, wenn die offenkundigen Schwachstellen in den Berufsvorbereitungslehrgängen nicht ausreichend thematisiert und hinreichend korrigiert werden. Letztlich geht es auch um den in Politik, Medien und Gesellschaft formulierten hohen Anspruch, Bildungsrepublik Deutschland zu sein. Hier wollen wir doch auf internationalem Parkett stets vorne mitmischen. Mit den gegenwärtigen Konzepten bleibt das aber reines Wunschdenken.

Von der (Un-)Bildung ...  ... zur Depression



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver