www.Crossover-agm.de Christliche Popularmusik - Die Kirche als popkultureller Partner wider Willen (Festansprache in der Universität Leipzig zur Eröffnung des Schallarchivs, 02.10.2012)
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von Wolfgang Kabus

Meine Damen und Herren, verehrte Kollegen!

Herzlichen Dank für die Einladung! Es reizt mich, hier zur modernen Kultur etwas zu sagen.
Zum Akt der Übergabe des Schallarchivs an das Liturgiewissenschaftliche Institut sagen wir jetzt nichts weiter. Eine sehr persönliche Bemerkung kann ich mir allerdings nicht verkneifen: Es ist mir als BKA-Mitglied richtig schwer geworden, mich von diesem Schatz zu trennen, denn ich weiß um seine Einmaligkeit. Aber - er ist bei Ihnen in besseren Händen. Das ist ganz eindeutig. So beuge ich mich unter die Hand des Schicksals.
Mit den fast 40.000 Titeln haben Sie ca. 60 Jahre Kirchengeschichte in der Hand; und das sind eigenartige Jahre. Ich könnte mir denken, dass das spannend wird. Ich wünsche Ihnen aufregende Stunden im Umgang mit diesen Zeitzeugen.

Wir kommen zu unserem Thema: Kirche als popkultureller Partner wider Willen.
Wir könnten auch so formulieren: Vom Unbehagen der Kirche in der populären Umgebung.

1. Einleitung:
Es fällt auf, dass sich die Wahrnehmung von Religion und Kirche im Laufe der Jahre gehörig verändert hat. Das gilt auch für die Wertung der verschiedenen religiösen Ausprägungen mit ihren Riten, Äußerungen und besonders mit ihrer Musik. Da steht z.B. vor wenigen Tagen in der Burger Volksstimme: "... viele haben Sehnsucht nach einer glaubwürdigen und zeitgemäßen Kirche." (Burger Volksstimme vom 12. September 2012, 24: "Auf die Gemeinsamkeiten beziehen") Das klingt gut. An anderer Stelle lesen wir, dass das Christentum einen "antiquierten, ja schlechten Ruf hat." (Jan Koenot: "Hungry for Heaven". In: Friedensauer Schriftenreihe - Reihe C Bd 7. Berlin u.a. 2003, 105) Das klingt nicht gut. So aber formuliert es Jan Koenot von der Uni Paris! Genau in dieses Spannungsfeld wollen wir uns jetzt hineinwagen, aber fast nur zur Musik etwas sagen. Wir beginnen mit vier Impulsen, die für uns wie ein Geländer sind. Hier der erste:

1. Wer das Thema "Popularmusik und Kirche" theologisch und kulturanthropologisch bedenken will, der sollte wissen, dass es dabei nicht um ein paar leere Coca-Cola-Büchsen geht, um ein bisschen amerikanische Folklore, um einen unsensiblen Kulturoptimismus. Gemeint ist vielmehr ein Weltbild, ein Menschenbild, das unsere Zeit durch und durch prägt. Die Beschreibung dieser modernen Gesellschaft ist heute ohne die Popularmusik nicht mehr möglich (Buschmann, Gutmann, Rösing, Koenot). So die führenden Musiksoziologen.
2. Und wenn der große Helmut Rösing - Musiksoziologe, Hamburg, em. Ordinarius für die Muwi - die Popularmusik als ein nicht-diskursives Medium mit einem erheblichen Transzendenzpotenzial beschreibt, dann horchen wir auf. PM - Transzendenzpotenzial!
3. Der dritte Impuls kommt von Habermas und betrifft uns. Er sagt in seiner Friedenspreisrede: Die Gruppe der "religiös Unmusikalischen" sei gar nicht so groß, nur die Kirche rede eine unverständliche Sprache: Die Gläubigen "sind es, die ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor ihre Argumente Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden." (Jürgen Habermas: Glaube und Wissen - Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Frankfurt am Main 2001, 21 u. 30)
4. Und noch ein Letztes: Kriegen Sie keinen Schreck - ich komme aus Bayern: Kein Geringerer als Franz Josef Strauß hat im Brustton der Überzeugung verkündet: "Wer noch einmal das Gewehr in die Hand nehmen will, dem soll die Hand abfallen." (Franz Josef Strauß: zit. nach AZ, Datum unbekannt) Nicht viel später wurde er Verteidigungsminister! Warum? Die Welt hatte sich verändert; und die Menschen eben auch.

Ja, die Welt hat sich verändert. Das wissen wir. Es zeigt sich ein Paradigmenwechsel, der von den Kirchen und besonders von der Kirchenmusik nur zögerlich akzeptiert wurde. Die meisten wollten bleiben, wie sie sind.

Aus diesen Impulsen entstehen sofort Fragen: Wie steht es denn mit unserer gesellschaftlichen Gestaltungskraft, mit unserer zeitgeschichtlichen Echtheit? Sind wir "Außer Dienst" (Helmut Schmidt: Religion in der Verantwortung - Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung. Berlin 2012, 9) geraten, wie Alt-Kanzler Helmut Schmidt uns vorhält? Oder sind wir unterwegs zu einem Ziel, das Margot Käßmann (direkt nach ihrer Wahl zur Bischöfin am 28.10.09) so formuliert hat: "Meine Vision ist, dass die Sehnsucht der Menschen nach Lebenssinn in neuen Gottesdiensten Antwort findet."

Befragen wir nun den Hauptvertreter der populären Kultur - die Popularmusik: Wer bist du, wer willst du sein? - um von da aus zum Thema zu finden.

2. Wir definieren:
PM ist kein Unfall der Geschichte, den es zu reparieren gilt. Im Gegenteil: Sie ist die Verkleinerung der Probleme dieser Welt auf ein handliches Format. Sie ist zu einem festen Bestandteil unserer Umwelt geworden und entspricht als Massenkultur exakt dem Weltbild einer erlebnisorientierten Wegwerfgesellschaft.
Und die Christliche Popularmusik? Sie ist nicht nur ein Beitrag zur Modernisierung einer beargwöhnten Institution; sie ist innerhalb der Kirche ein kleines Plateau, auf dem sich besonders die Jugend zeitgeschichtlich echt verwirklichen kann. Missionarische Beweggründe, wie sie ihr immer wieder unterstellt werden, spielen in unseren Überlegungen überhaupt keine Rolle. Aber das müssen wir sagen: Die gutbürgerliche Gesellschaft, auch die Kirche, hatte geglaubt, PM sei nur Marktartikel, Industrieprodukt, Unterhaltung, ein Witz am Rande der Geschichte. Heute erleben wir, dass sie Lebensfragen beantworten muss; und die Jugend wird nicht nur mit, sondern durch Popularmusik groß. Eine Erkenntnis mit erheblichen Konsequenzen!
Für manche Christen ist sie sogar zu einem sentimentalen Fluchtort, zu einem Platz für Gefühle geworden, die im Gottesdienst offenbar zu kurz kommen.
So ist aus der still, aber stetig gewachsenen christlichen Popularmusik eine Form moderner Kultur geworden, ein eigenes System, das sich wegen seiner Vielfalt einer eindeutigen Definition entzieht. "Signatur unseres Zeitalters!" (Wolfgang Kabus: Popularmusik und Kirche - kein Widerspruch. Berlin 2001, 45) Das ist Popularmusik. Und wir fragen: Ist es nicht an der Zeit, dass wir als Kirche uns ernstlich um das Wesen dieser neuen Kultur kümmern? (Sigmund Freud: "Das Unbehagen der Kultur". In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke Bd. 14. Frankfurt am Main, 5. Auflage 1972, 448) Wo steckt nun das Problem, das wir mit ihr haben?

3. Probleme und Fragen
Der Dichter spricht (Francis Picabia): "Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann." (Francis Picabia:, zit. nach Reiner Knieling: Unsicher - und doch gewiss. Christsein in der Postmoderne. Neukirchen-Vluyn 1999, 9) Und ich sage mir: Wenn doch wenigstens wir Christen einen solchen runden Kopf hätten! Dieser elende Streitpunkt könnte doch bei exakter Information und Kompetenz längst erledigt sein. Stattdessen wird gestritten und gekämpft und nicht bemerkt, dass wir dilettantische Einsichten, selbst gemachte Beweise, ja Emotionen zu Argumenten erklären, die keine sind. Und das ist ein unmöglicher Zustand.

Meine Damen und Herren!
Wir leben in einer sehr eiligen Kultur. Die daraus entstandene "neue Unübersichtlichkeit", die Habermas zur Leitvokabel des Jahrhunderts erklärte, raubt uns unsere Gelassenheit, unsere Gewissheit: Wir schauen nicht mehr durch. Kirche wirkt, nach neuer Kultur befragt, einfach unsicher und orientierungslos, manchmal auch besserwisserisch und unbelehrbar. Statt den Horizont in Gelassenheit abzusuchen und z.B. die Popularmusik von ihrem Zusammenhang her zu begreifen, vermauert sie allzu oft die Wege in die Zukunft mit Normen, die längst keine mehr sind.

Ich denke jetzt beispielsweise an die Stuttgarter Erklärung zur Kirchenmusik (2009). Die Popularmusik kommt darin nicht einmal vor, obwohl jeder weiß, wie sie unsere Zeit prägt, ja sogar ihr "geheimer Erzieher" ist. Und wir fragen: Ist es vertretbar, dass sich die Kirche durch dieses Verhalten selber ins Altenteil der Geschichte katapultiert?
Um es noch deutlicher zu sagen: Heute ein popkultureller Partner, aber nur wider Willen zu sein, wirkt weltfremd bis unverantwortlich. Manche Verantwortungsträger schauen beim Thema Popularmusik so ernst in die Runde, als spiele der FC Bayern nur noch in der zweiten Liga. Dabei ist es keine Frage: Der hermeneutische Zirkel wird uns auch diesmal wieder einholen und überholen. Wir werden die PM also nicht los. Im Gegenteil!
Eins müssen wir aber klar sehen: Die Zeit der ersten Geige ist für uns vorbei. Wir müssen alle - wohl oder übel - in der zweiten Reihe Platz nehmen und sind dort nichts weiter als einer unter vielen.
Frage: Sind wir uns darüber klar, dass Kultur unerbittlich ist? Sie geht ihren Weg - mit uns, gegen uns und auch ohne uns. Sie funktioniert selbstreferenziell. Das zu begreifen sind wir erst auf dem Wege. Aber bleiben wir geduldig: "Kirchen lernen langsamer", sagt der Volksmund.
Wenn ich mir allerdings die offiziellen Veröffentlichungen der EKD zu unserem Thema ansehe, dann habe ich folgenden Eindruck: Wir lenken in Sachen Popularkultur ein stückweit ein, weil es nicht anders geht. Lieber wären wir aber die überlegenen Apostel der Hochkultur. Das ist das Problem.
Und heute? Da sind wir eine "Kirche in Not", und zwar aus kulturellen, nicht aus theologischen Gründen. Das ist wirklich seltsam!

Kommen wir zum Untertitel im Thema: "Die Kirche als popkultureller Partner wider Willen". Versuchen wir jetzt, in vier Punkten zu diesem kirchlichen Unbehagen, sprich Widerwillen, etwas zu sagen. Gemeint ist als Erstes das kulturelle Unbehagen. Versuchen wir es mit Thesen.

These 1 lautet:
4. Die Kirche als popkultureller Partner wider Willen.
These 1 (das kulturelle Unbehagen/die kulturelle Unsicherheit):
Ohne einen theoretischen Überbau kann keine Kirche vernünftig handeln. Wir brauchen eine neue Theologie der Kultur, die auch die Popkultur in ihr Konzept integriert.

Große Worte, etwas vollmundig. Aber kleiner habe ich es nicht.
Stellen wir zunächst eine Grundsatzfrage:
Kultur meint die doch Gestaltung des menschlichen Lebensraumes in seiner Gesamtheit. Sie reagiert wie ein Seismograph auf die Erscheinungen von heute. Kultur ist also wie eine Projektionswand, an der wir viel über den Menschen der Gegenwart erfahren können. Und nun wollen wir wissen: Wo platziert sich die Kirche heute? Steht sie der Welt, also der Kultur gegenüber oder empfindet sie sich als ein Teil von ihr?

Der bei Gemeinde und Klerus weit verbreitete Kulturpessimismus entscheidet sich - wie früher - klar für die Gegenüberlösung: Ihr seid da - wir sind hier! Danach ist z.B. die Popularmusik die vorläufige Endstation der kulturellen Dekadenz, das tiefste kulturelle Tal. Jede neue Epoche wäre dann immer die jeweils schlechteste. Es geht ja immer bergab mit der Menschheit - schon seit Jahrtausenden. Die Kirche aber steht wie ein Fels in der Brandung und vertritt wacker die Wahrheit.

Wer so denkt, hat immer Schwierigkeiten mit einer neuen Kultur. Und nicht selten kämpft er an einer Front, wo der Feind überhaupt nicht steht.

Mit dem entgegengesetzten Modell - Kirche mitten in der Welt - befinden wir uns durchaus in guter Gesellschaft: Dietrich Bonhoeffer, Paul Tillich, Andrew Greeley, Bernd Schwarze, Albrecht Grözinger ... Alle haben Ansätze dieser neuen Theologie der Kultur vorgelegt. Aber mir scheint: Der große Wurf, der die Popkultur mit bedenkt und auch das Denken der Gemeinden prägt, fehlt noch. Das Schallarchiv könnte diese Diskussion wieder in Gang bringen. Bis jetzt aber sind die offiziellen Äußerungen z.B. der EKD und der VEF sehr zögerlich und tastend.

Die zweite These betrifft das gesellschaftlich-soziologische Unbehagen und lautet:
These 2 (das gesellschaftlich-soziologische Unbehagen):
Die Postmoderne versteht sich als ästhetische Inszenierung. Die Kirche darf diese Conditio postmoderna nicht als geistliche Oberflächlichkeit deuten.

Es ist nicht so einfach, die vielen Sinnzeichen der Popularmusik richtig zu deuten. Hier geht es um das Hauptargument vieler Popmusik-Gegner. Jede Kultur hat eine bestimmte Stoßrichtung; wir nennen sie Ästhetik. Da gibt es plötzlich ganz andere Werte, neue Maßstäbe, etwa Feeling statt Denken, Gefühl statt Vernunft. Die Erlebnisorientierung kennzeichnet heute die moderne Art zu leben, zu glauben, zu singen. Und wer diese Erscheinungen mit falschen Maßstäben misst, kommt zu falschen Ergebnissen. Wer z.B. an die Popularmusik die ästhetische Elle der Klassik anlegt, vermisst sich total. Sie gehorcht anderen Regeln. Wagen wir doch mal einen ersten kleinen Blick nach innen:

Es ist eine Ästhetik der Sinnlichkeit, der "Äußerlichkeit", nach der hier musiziert wird. In ihrem Vollzug geht es z. B. weniger um konkrete Bedeutungen und textlich gefasste Inhalte als vielmehr um ihr Bewegungspotenzial. Die Show - ganz positiv verstanden - ist ihr Geschäft. Popularmusik wird auf ihre Bewegungscodes hin "gelesen", ja "abgetastet" und mit dem ganzen Körper erschlossen - mal mehr, mal weniger. Das ist ihr Sinn. Äußere Gestaltung, etwa die Bewegung, die Gestik ist also keine infantile Hampelei, ist kein Ausdruck innerer Armut, sondern ein erklärtes Ziel dieser Musik. Das sind wir nicht gewöhnt.
Wir dürfen also diese neuen ästhetischen Parameter nicht vorschnell als geistliche Indolenz deuten, nur, weil wir sie nicht verstehen. Die postmoderne Popularmusik ist keine modische Schimäre, die man in ihrer Oberflächlichkeit enttarnen muss. Ästhetische Garnierungen - in unserm Fall Bewegungen - gehören zur Grundausstattung der populären Musik. Dazu gleich noch mehr.

Die dritte These befasst sich mit dem ästhetischen Unbehagen der Kirche. Sie lautet:
These 3 (das ästhetische Unbehagen):

"Popularmusik ist der Gartenzwerg in der Musik. Er ist ein unwürdiger Partner des Evangeliums." Die Kirche benötigt mehr fachliche Kompetenz, um solche Fehlurteile zu vermeiden.

Die Argumentation der popularen Primitivität ist hinlänglich bekannt. Wir waren eben schon dicht dran. Es ist in der Geschichte nicht das erste Mal, dass die Kirche ein ästhetisches Gruseln überfiel in dem Augenblick, als das Volk selber zu den Tönen griff. Denken wir meinetwegen an das geistliche Volkslied "Harre, meine Seele". Es bekam kein ordentliches Grab bei den Heiligen, sondern gehörte auf den Friedhof der Geächteten. Mit einem Sternchen hinter der Liednummer sollte es sterben. Aber es starb nicht. Heute feiert es fröhlich Urständ, sogar im EG. Und wir fragen: War für das Verdammungsurteil die Kategorie des Ästhetischen überhaupt zuständig? Gibt es in der gottesdienstlichen Musik nicht Zusammenhänge, die mit den Begriffen "gut" oder "schlecht" nicht geregelt werden können? Wenn auch die tradierte Ästhetik und die Kirche der Popularmusik nur Partytauglichkeit testieren wollen: Die Teenies wissen mehr!

Die Geringschätzung des Populären und damit die Behauptung der Primitivität speist sich aus verschiedenen Quellen. Es lohnt sich, diese zu kennen. Sie reichen von Adorno bis Hitler. Wir erwähnen nur drei:
1. Da ist zunächst das humanistische Bildungsideal. Es konnte und kann das Entstehen einer an der breiten Masse orientierten Kultur nur als ein Symptom des Zerfalls sehen. Abgesunkenes Kulturgut!
2. Daneben steht die linksintellektuelle Kulturphilosophie und Gesellschaftskritik, die in der Gefolgschaft Adornos "nichts Wahres im Falschen" sehen kann. Populäre Musik, egal ob Jazz, Schlager, Pop oder Rock ist Massenbetrug.
3. Dazu kommt heute ein Drittes: Die Jugendkultur - gerade die musikalische - hat sich in den letzten 5 Jahrzehnten so weit von der tradierten Kulturpraxis entfernt und dabei ein so differenziertes Eigenleben entwickelt, dass sie dem, der draußen steht, verdächtig erscheint. Adorno: Da werden Dinge gemacht, "von denen wir nicht wissen, was sie sind." (Theodor W. Adorno: "Vers une musique informelle". In: Gesammelte Werke Bd. 16. Frankfurt am Main 1978, 540)

Demgegenüber gilt unser Plädoyer einer sachkundigen Einsicht. Kompetenz ist gefragt. Die Wissenschaften wissen heute sehr genau, was Popularmusik ist. Sie entspricht postmodernem Lebensgefühl und hat Leitbildfunktion übernommen. Die theologischen und "hoch-kulturellen" Attacken gegen sie - vorgetragen im Namen von Qualität und Evangelium - erweisen sich als fromme Fehlschläge oder gar als akademische Verspätungen.
Selbst die Werte "Unterhaltung", "Spaß" und "Genuss" müssen neu definiert werden. Alle drei gehören bekanntlich zu den Conditio postmoderna, also auch zur Ästhetik der Popularmusik. Der Kirche sind sie bis heute verdächtig. Unterhaltung z.B. ist doch das erklärte Feindbild vollmächtiger Verkündigung. Aber unser verehrter Kollege Harald Schroeter-Wittke schreibt in seiner Habil-Schrift sehr interessant (1999): "Am angemessenen 'delectare' liegt es, ob das Gesagte überhaupt eine Wirkung hat". (Harald Schroeter-Wittke: Friedensauer Schriftenreihe - Reihe C Bd. 4. Frankfurt am Main 2000, 65) Und Rudolf Bohren meint: "Vergisst der Prediger, dass er (auch) ein homo ludens ist, wird er leicht zum Tragiker auf der Kanzel ..." (Rudolf Bohren: Predigtlehre. München 1986, 18) Und wir fragen ganz behutsam: Ist die Kirche vielleicht deswegen zum "Tragiker auf der Kanzel" - nämlich der modernen Gesellschaft - geworden, weil sie dieses Zeichen der Zeit, die neue Kultur mit ihren neuen Werten und Parametern nicht ernst genug genommen hat? Von meiner Kirche muss ich das - ohne Abstriche - sagen. Leider!

Die letzte These ist mit Sicherheit die unbequemste: Sie lässt das theologische Unbehagen zu Wort kommen und lautet:
These 4 (das theologische Unbehagen)
Christliche Popularmusik ist ein Teil der postmodernen Kultur. Ihre neue "Erzählweise" ist keine kulturelle Verwahrlosung. Pop "fühlt" mehr als er "denkt".

Wenn der logos, die ratio, wie es die Klassik meint, einem neuen Paradigma weichen muss, dann hat das tiefgreifende Folgen für unsere gesamte Daseinserfahrung. Was uns bleibt, sind persönliche Gefühle, religiöse Erlebnisse, Emotionen. Die kann uns keiner nehmen. Sie sind nicht einmal hinterfragbar. Das ist modern. So ist unversehens aus "Wortgesellschaft" (Georg Steiner, Gerhard Schulze, Jan Koenot) eine "Erlebnisgesellschaft" (Gerhard Schulze) geworden, eine "Kultur nach dem Wort", wie Steiner sie nennt. Wobei wir wieder bei der Popularmusik angekommen sind!

Machen wir jetzt noch einen zweiten und letzten kurzen Ritt durch die populäre Ästhetik. Diesmal geht es um das Wort.

"Alles, was ich dir zu sagen habe, sagt dir meine Gitarre." (Anonymus, zitiert nach Bernd Schwarze: Die Religion der Rock- und Popmusik. Stuttgart/Berlin/Köln 1997, 95) Dieser Satz ist keine Anekdote. Er ist die Leitidee von heute aus dem Mund eines Popmusikers. Wir haben richtig gehört: die Gitarre sagt das, nicht meine Stimme, meine Sprache. Da brandet eine Musik auf, die allzu oft einem wortlosen Mythos gleicht: Das Wort wird vom Klang überboten. So wird populäre Musik zum Symbol einer emotionalen Kultur. Und die "Kirche des Wortes" hat Schwierigkeiten damit. Sie versteht das Wort nicht. Verständlich! Verstößt das doch elementar gegen das bisher geltende theologische Prinzip des "Singens und Sagens" (Luther). Wir sangen, um zu sagen!
Aber heute reicht das nicht mehr. Die Popularmusik kann es so nicht formulieren. Sie darf jubeln und seufzen, schreien und hauchen, röcheln und Sprache auskotzen - alles ist erlaubt, auch extremste ekstatische Formen -, wenn sie nur dem Erlebnis dienen, dem Fühlen. Im Song hat der Sänger vor allen Dingen sich selbst mitzuteilen. Authentizität nennt man das heute!
Die zentrale Aufgabe der Stimme ist also der Transport von Subjektivität, nicht der Transport des Wortes. Über das körperliche Erleben, nicht über die kopflastige ratio verkündet also die PM ihre Botschaft - und wir ahnen: Da muss eine neue Semantik her; die alte der Klassik greift einfach zu kurz. Zitat: "Ein Song braucht nicht verstanden zu werden; du kannst ihn trotzdem begreifen." (Anonymus, zitiert nach Jean-Martin Büttner: Sänger, Songs und triebhafte Rede. Basel 1997, 243) Denn Deuten ist doch Erleben, nicht Denken!
So ist die Popularmusik, auch die christliche, von der Sache her keine Hörmusik, wohl aber ein singendes, sich bewegendes und tanzendes Ringen um Identität; eine neue "Erzählweise" (Jean-Martin Büttner: Ebd., 17), die den reformatorischen Einklang zwischen "Singen und Sagen" gestisch definiert. Vor allem aber ist sie eins - und das ist das Fazit meiner 50-jährigen Beobachtung:

These 5: Popularmusik bestätigt höchst eindrucksvoll, dass es einer der größten protestantischen Irrtümer ist zu meinen, Religion sei nur eine Sache der bewussten Wahrnehmung.
Popularmusik, ob christlich oder nicht, tritt den Gegenbeweis an. Sie zeigt, wie man das Evangelium auch "sagen" kann, nämlich ganz anders.

5. Zum Schluss.
Wenn wir heute vom Schicksal der Musik in unserer Kirche gesprochen haben, von den Schwierigkeiten mit der neuen Kultur, dann sollten wir nicht die Ruhe verlieren. Der Hinweis, Kirchenmusik sei Verkündigung und Ausdruck unseres Glaubens ist unbedingt richtig, reicht aber heute nicht mehr aus. Es geht um eine neue, erweiterte Perspektive, in der die Parameter der späten postmodernen Ästhetik auch Platz haben müssen: Singt dem Herrn und Swingt dem Herrn unter einem Dach! Das kann ich mir denken. Der Philosoph Wolfgang Welsch gibt uns einen überzeugenden Schlüssel in die Hand. Er spricht von der (musikalischen) Doppelfigur der Gegenwart und sagt: man müsse sich "in beiden Arten kompetent und lustvoll" (Wolfgang Welsch (Hrsg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München 1993, zit. nach BKJ (Hrsg.) Bd. 41. Remscheid 1997, 15) bewegen können, in der Kontinuität und wie in der populären Aktualität. Na dann man zu! Wie sagt Samuel Beckett in seinem Endspiel: "Irgend etwas geht seinen Gang". (Samuel Beckett: Endspiel. In: Beckett: Spiele. Berlin 1988, 110)

Mit dem Ersten haben wir keine Probleme, wohl aber mit dem Zweiten. Dazu können wir nur sagen: Jede Zeit hat ihre Grammatik - und die ist erlernbar. Heute hat keiner mehr das Recht auf Ahnungslosigkeit. Die Kirche muss - mit und ohne Unbehagen, widerwillig oder nicht - in Sachen Popularkultur ihre Schularbeiten machen, um kompetent reden und urteilen zu können. Das Schallarchiv kann vielleicht dabei helfen. Lob und Verkündigung - natürlich ein strahlendes Ja! Aber hat der bekannte Jesuit und Professor für Kunstphilosophie aus Paris/Leuven, Jan Koenot, nicht auch recht, wenn er zur hier eingeforderten 3. Dimension der Kirchenmusik sagt: "Immerhin ... funktioniert die Popularmusik ... als eine symbolische Welt, in der Millionen von Menschen einen Ausdruck ihrer Begierden, ihrer Träume, der Tragik des Lebens und der Verwirrung des heutigen Lebensgefühls finden." (Jan Koenot: Hungry for Heaven, a.a.O., 112) Sind wir dafür mit unserer Musik nicht auch zuständig?



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