www.Crossover-agm.de Balance ist Risiko
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von Thomas Feist

Der Titel des 2007er Spielmarktes ist in gewisser Weise ein tautologisches Konstrukt. Balance riskiert man nicht, Balance selbst ist das eigentlich Riskante. An gut gemachter Popmusik wird dies deutlich. Ihr Balanceakt findet auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Kitsch, zwischen avantgardistischem Funken und seicht plätscherndem Gemeinschaftskitt statt. Popmusik könnte daher im bildlichen Sinne auch der Seiltänzer sein, der 2007 vielgedruckt als Spielmarkt-Botschafter fungiert. Nicht nur zwischen eigenem Anspruch und Erwartung des Publikums hin- und hergerissen, auch durch die meist grundverschiedenen Anforderungen an Glaubwürdigkeit und kommerziellem Zugeständnis rechts und links des Seils verunsichert, schafft es Popmusik in den allermeisten Fällen dennoch, dies gegeneinander auszubalancieren und in der Schwebe zu bleiben.
Die Fähigkeit, Gegensätzliches in der Balance auszuhalten, bedeutet das immerwährende Risiko, das Leben auf dem Drahtseil. Dies hat natürlich auch seinen Preis. Zu nennen wäre dabei an erster Stelle die Uneindeutigkeit des Weder-Noch, die auch als Unverbindlichkeit, fehlende Entscheidungskraft oder Merkmale eines irritierenden Zwitterwesens interpretiert werden können. Popmusik als Prototyp des Gratwanderers ohne Aussicht, sich für eine Richtung zu entscheiden oder gar jemals irgendwo ankommen zu wollen. Ein Spieler, dem es an Bodenhaftung fehlt, der sich durch seine Position hoch über allen präsentiert und gerade deshalb uns, die wir vor allem als Bodenpersonal fungieren, nicht gleich ist.
Der Gratwanderer Pop ist aber auch einer, der stellvertretend für uns alles riskiert. In diesem Sinne ist die Geschichte der Popmusik für viele Zeitgenossen auch eine Geschichte voller gefallener Akrobaten. Elvis Presley, Janis Joplin, Jimi Hendrix und Jim Morrison, Syd Barrett, Kurt Cobain, Joe Cocker, Tina Turner oder auch Britney Spears - alle sind sie mindestens einmal vom Seil gefallen, fast alle sind sie dabei nicht nur arg beschädigt worden, sondern haben den Sturz aus luftiger Höhe mit ihrem Leben bezahlt. An ihrem Beispiel sehen wir, wie gefährlich Balancieren sein kann. Wir werden auch gewahr, dass wirkliche Balance als Risiko ohne doppelten Boden arbeitet, arbeiten muss. Alles oder nichts, Risiko als Lebenshaltung.
Nicht nur in den Liedern der bereits gestürzten Popakrobaten, sondern auch in denen der momentan auf dem Seil balancierenden Risikofreudigen ist dies nachzuhören. Die weite Sicht, die sich dem Künstler in luftiger Höhe bietet, die Energie und die Anspannung, die zum Balanceakt nötig sind, und das trotzige "Dennoch!" ob der Aussichtslosigkeit des Ankommens am Seilende verleihen guten Popsongs eine Kraft, an der wir teilhaben können. Wir müssen uns dazu nicht selbst aufs Seil begeben. Es reicht, wenn wir aus sicherer Entfernung die in Sound gegossenen Balanceakte bewundern und an ihnen teilhaben.
So gesehen ist es verständlich, dass für viele Zeitgenossen Popmusik zu einem Lebenskonzept, welches das Risiko als spielerische Möglichkeit einbezieht, dazugehört. Risiko als Spiel heißt dabei, das Seil etwa einen halben Meter über dem Boden zu spannen und hier die Bewegungen des Akrobaten beobachtend nachzuvollziehen. Das Mitsingen beim Popkonzert in großen Arenen, das selbstvergessene Zucken der Leiber beim Rave um die Berliner Siegessäule oder das schweißtreibende Headbangen der Metalfreaks sind Ausschnitte solche Möglichkeiten. Eine weitere wäre die temporäre Übernahme risikoreicher Seiltanzschritte, die in von Musikkulturen geprägten Lebenskonzepten eingefasst sind. Punks, Hippies oder tätowierte Hardcore-Anhänger sind sichtbare Beispiele für solche Balance-Akte, die sich nicht auf einzelne Events beschränken, sondern in das Leben ihrer Protagonisten integriert sind. Wobei das Seil, auf dem balanciert wird, in jedem Fall aus einem anderen Material besteht und in dazu noch verschiedener Höhenlage montiert ist.

Balance ist Musik
In keinem anderen Genre der Kunst ist Balance so präsent wie in der Musik. Insofern kann man auch sagen, dass Balance das Wesen der Musik ist. Eingefangen zwischen vorgegebenen Strukturen einerseits - bestimmt durch Schwingungsverhältnisse und Akustik (Physik und Physiologie), Harmonik und Sound (Tradition als eine geschichtliche Komponente) - und der Freiheit des schöpferischen Geistes andererseits ringt sie ständig darum, ihre Position auf dem Drahtseil zu behaupten. Sicherer wäre es und einfacher auch, Musik als ein reines Handwerk zu betreiben. Sicherer wäre es ebenfalls und in anderer Hinsicht desgleichen einfacher, ausschließlich dem freien, ungebundenen Spiel der Töne und Geräusche zu frönen. Musik ist allerdings immer nur sie selbst, wenn sie zwischen beiden Extremen die Balance sucht. Sie kann sich dann auf dem Seil nicht nur sicher, sondern auch spielerisch bewegen. In diesem Zustand ist Musik befreit von Dogma und Beliebigkeit. Ein Rest-Risiko muss allerdings immer dabei. Sein. Es zeigt an, dass es Musik mit ihrer Sache ernst ist, dass hier nicht gemogelt oder uns gar etwas vorgemacht wird. Sicherlich ist es darum vor allem diese Art von Musik, die uns inspiriert, Abstand verschafft und Flügel verleiht. Inspiration durch Musik als eine willkommene Auszeit vom Rationalen, Vernünftigen, Durchgeplanten - als freies Spiel mit Gedanken, Gefühlen und Zeiträumen. Dies ist im historischen Rückblick zwar das eigentliche Metier der romantischen Musik, aber auch in vielen popmusikalischen Genres wie Soul, R'n'B, Metal oder Gothic zu finden.
Daneben hilft uns Musik, Abstand zu gewinnen. Abstand vom Alltag, von dem die Regeln bestimmenden kulturellen Umfeld, vom sozialen Ich. Keine Weltflucht ist damit gemeint, sondern eher ein leichtes Schwanken in diese eine Richtung, aus der man die andere Position erst in ihrer Gesamtheit erkennt. So schafft es Musik, durch die Betonung des ästhetischen Potentials im Menschen seine soziale Seite zu reflektieren. Kein Wunder ist es daher, dass von kunst- und kulturpädagogisch Tätigen ästhetische Bildung als unerlässlicher Beitrag zu sozialer Bildung angesehen wird. Beispielhaft wird an dieser Stelle oft der Einfluss von Musik auf sozialen Kompetenzerwerb als Beleg zitiert. Musik zeigt uns also am eigenen Balancieren, wie Balance im Leben gelingen kann.
Durch ihren beim Hören von und erst recht beim aktiven Umgang mit Musik nachvollziehbaren balancierenden Grundcharakter des Klingenden ist Musik ein Spiegel unseres Selbst. Durch die Musik lernen wir das Paradox der entspannten Spannung des Tänzers auf dem Seil kennen, durch sie können wir nachvollziehen, dass Entscheidungen immer riskante Unternehmungen und dennoch unumgänglich sind, sie zeigt uns das in der Unbegrenztheit musikalischen Materials repräsentierte schöpferische Potenzial.
Bei aller Ernsthaftigkeit, die der Akt der Balance erfordert, kommt in Musik das spielerische Moment dennoch nicht zu kurz. Auch hier sind Parallelen zum eigenen Leben unübersehbar. Ähnlich wie die an einer Hand abzählbaren Prämissen zur Realisation musikalischer Ereignisse ist auch der Fußkontakt des Seilakrobaten für einen sicheren Stand auf das Wesentliche reduziert. Die Grundvoraussetzungen gelingenden menschlichen Miteinanders sind ebenfalls überschaubar. Ob man dazu zehn Gebote benötigt oder nur einen Imperativ, darüber streiten sich die Geister. Festzuhalten bleibt, dass sich der Reichtum der Musik wie auch der des Lebens sich dem erschließt, der die notwendigen Bedingungen für beides akzeptiert und somit die Hände und den Kopf frei hat für Kreativität, Spiellust und Balanceakte.

Balance ist Lernen
Für Kinder und Jugendliche ist vor allem der zeigende, vormachende Aspekt von Musik wichtig. Anders als bei den ihrer Naivität und unvoreingenommenen Neugier längst entwachsenen Zeitgenossen ist dabei die Reflektion des innermusikalischen Geschehens als nachrangig gegenüber der durch und mit Musik vorgenommenen Positionierung in kulturellen wie lebensweltlichen Kontexten anzusehen. Oft sind es nämlich die Seiltänzer der Popmusik selbst, die durch ihr musikalisch konnotiertes Balancieren Kindern und Jugendlichen Anstiftung für die Ausbildung eigener Weltanschauungen und Lebensentwürfe und einen spielerischen Umgang damit geben. Hier kann - zunächst noch ebenerdig und folgend mit ansteigendem Höhen- und damit ebenso anwachsendem Schwierigkeitsgrad - die eigene Balancierfähigkeit erprobt werden. Das Risiko ist minimiert: Wer abrutscht, darf noch mal.
Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Spiel den Ernst nicht nur vorwegnimmt, sondern auch beinhaltet. Jeder, der schon einmal Kindern beim selbstvergessenen Spiel zugesehen hat, wird wissen, was es heißt, "richtig" zu spielen. Musik bietet dafür ein gutes Trainingsfeld. Das immer wieder gern benutzte und oftmals gehörte Argument, musizierende Kinder würden sich schneller entwickeln, besser lernen und am Ende gar gebildeter sein als ihre nichtmusizierenden Gefährten, hat hier seinen Ausgangspunkt. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass spielerischer Umgang mit Musik als Modell spielerischen Umgangs mit Lebensstrategien kein Trainingslager für angehende Hochseilartisten ist. Balancieren ist nur als Methode sinnvoll, nicht als Lebenszweck. Das Risiko um des Risikos willen ist ebenso trivial wie Musik um der Musik willen eine Farce bleibt. Gelingendes Musizieren, das sich auf Unwägbarkeiten einlässt ohne damit zu kokettieren ist als Lernmodell für gelingendes Leben junger Menschen dagegen ein idealer Übungsplatz. Hier kann Balance riskiert werden. Spielerisch, ernsthaft und eigenverantwortlich. Seil frei!



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