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von Thomas Feist

Wenn es ums Spielen geht, ist die Musik ganz vorn dran. Nicht umsonst heißt der fahrende Musiker "Spielmann" oder tönt es in der Ansage der Band XY etwa "wir spielen jetzt unseren nächsten Song". Musik zu machen kennt verspielte wie ernste Momente und verbindet sie in besonders glücklichen Augenblicken. Dabei kommt vor allem das prozessuale Wesen der Musik zum Tragen, die ihr inhärente Unvollendbarkeit und ihre vornehmliche Existenz in der Flüchtigkeit des Gegenwärtigen. Auch wenn das Musizieren nicht nur als l'art pour l'art praktiziert wird und oft ergebnisorientiert ist, auf das Produkt, das fertige Lied hin. Das kann dann auch schon mal in Stress ausarten. Wenn zum Beispiel die musikalische Vision und das Erklingende sich partout nicht annähern wollen. Aber zumeist bleibt doch das Spielerische im Vordergrund.
Dies fängt schon mit der Frage an, die einem nicht erspart bleibt, möchte man sich einer schon existierenden Combo anschließen. Hier gilt es, frühkindliche Erinnerungen zu revitalisieren. Wie war das damals im Sandkasten, als die anderen Kinder dabei waren, eine tolle Burg zu errichten? Was musste man tun, um beim Versteckspiel dabei zu sein? Richtig: die Frage muss lauten: "darf ich bei euch mitspielen?" Wenn ja, dann ging man immer eine zumindest zeitliche Verbindlichkeit ein. Es war nicht möglich, sich während des Spiels ohne Grund auszuklinken, zu kneifen. Dieses Verhalten hätte sich in Windeseile herumgesprochen und weitere Spielpartizipationen wären damit erschwert. Also: Mitspielen bedeutet sich einbringen.
Mit der Musik ist es dann natürlich etwas komplizierter als im Sandkasten. Hier stellt der Mitspielende nicht nur sein zeitliches und kreatives Potential zur Verfügung, er macht sich auch - je länger, desto mehr - für das Gemeinsame unentbehrlich. Eine Verbindlichkeit, die über die einzelne Aktion hinausgeht, sieht man einmal vom Mitspielen im Rahmen einer Session ab. Dies würde ich als eine besondere Facette der Musik bezeichnen. Man verpflichtet sich, muss sich voll und ganz einbringen und bleibt trotzdem immer nur ein Teil des Ganzen. Und dies ist in den besten Momenten immer ein Vielfaches der Multiplikation von persönlichen Einzelleistungen. Gerade Musik ist hervorragend geeignet, junge Menschen über sich selbst hinauswachsen zu lassen. Das bestätigen nicht nur empirische Untersuchungen der Wissenschaft, das kann jeder Interessierte beim Musiker um die Ecke nachfragen. Musik ist dabei auch ein Spiel mit den eigenen Grenzen. Grundlage ist zwar immer das, was ich musikalisch-handwerklich zu leisten vermag. Aber der Griff zu den Sternen, das utopische Moment ist stets dabei. Man versucht, über sich hinauszuwachsen, seine Grenzen zu überschreiten. Und dabei gehen zuweilen Stress und Spiel Hand in Hand.
Jeder, der schon einmal vor einem größeren Auditorium etwas zum Besten gegeben hat, weiß, dass hier ein besonderer Stress zur Erreichung spielerischer Ziele unerlässlich ist. Dieser spezielle Stress wird auch "Lampenfieber" genannt und überlagert mit Zweifelattacken das Spielerische. Dennoch funktioniert dieser Stress leistungsfördernd, nicht hemmend. Das zusätzlich in den Körper ausgeschüttete Adrenalin lässt Musiker über sich hinauswachsen. Vielleicht haben vor allem deswegen Livekonzerte einen besonderen Reiz für den Musikhörer. Dieser wäre doch eigentlich mit einer im Studio produzierten CD weitaus besser bedient: eine live schwer zu erreichende Klangqualität, keine Störenfriede (die quasi evolutionär je nach Art des Konzerts andere Formen des Störens entwickelt haben), keine Fixierung auf den Moment. Gerade letzteres ist eine besondere Hürde vorgetragener Musik und ebenfalls mit Stress verbunden: man erlebt etwas Unwiederbringliches, an Ort und Zeit gebunden, an die momentane mentale und physische Verfassung. Und doch sind die Konzerte der musikalischen Leistungsträger frühzeitig ausverkauft, wiegen die Vorteile offenbar die Nachteile bei weitem auf. Und hier kommt wieder der Stressverminderungsfaktor ins Spiel. Man kann sich gehen lassen, entspannen oder verausgaben. Je nach Art des musikalischen Vortrags und der erklingenden Musik. Und zumindest beim Rockkonzert, beim Gastspiel des Gospelchores oder bei volkstümlichen Hitparadensendung darf man als Zuschauer erwarten, dass man in das Spiel der Vortragenden eingebunden wird. Die Versionen sind dabei unterschiedlich und dennoch erwartbar. Sei es ein "Hehoheho", welches mit der Band im Wechsel intoniert wird, sei es ein einfach zu lernender Refrain, den der Gospelchor ins Publikum verlagert oder das Mitschunkeln in der Musikantenscheune - stets ist man als Rollenvertreter nicht nur Passivposten, stets auch als Mitspieler gefragt.
Dabei ist ebenfalls zu beobachten, dass das Spiel auch Grenzen hat. Ganz deutlich wird's natürlich beim fernsehaufgezeichneten letzten Beispiel. Da ist die Freiheit des Einzelnen schon arg eingeschränkt. Trotzdem kann man immer wieder beobachten, dass es nicht um Perfektheit geht, das Gemeinsame steht im Vordergrund. Auch beim Gospelchor und der nicht näher festgelegten Band gelten Erwartungshaltungen und Normen, die das Spiel beschränken. Aber ist dies nicht auch eine Eigenschaft des Spiels selbst, um erkennbar und vom Nicht-Spiel abgrenzbar zu sein? Gleiches hat natürlich auch für Musik im Spiel mit Tönen, Gesten, Licht, Farbe und Raum zu gelten. "Was hat sie, was ich nicht habe?" fragt folgerichtig das Spiel in Richtung Musik. Die Musik antwortet: "Nun, da wäre vor allem die besondere Form, in der ich Spiel und Ernst verbinde. Auch der ernste Moment gerät mir nicht zur blassen Tonmechanik, auch Verspieltheit geschieht mit Hingabe. Und so ist es kein Wunder, dass Kinder und Jugendliche als ihre häufigste Freizeitbeschäftigung das Hören von Musik angeben, mich damit offenbar am liebsten haben." An dieser Stelle legt natürlich das Spiel heftigen Widerspruch ein: "Ging es nicht eben noch um das aktive Sich-Einbringen? Wird hier nicht das Konsumieren von Musik schöngeredet, schöngeschrieben?" "Nein!", meint die Musik, und es sei ihr an dieser Stelle nachdrücklich Recht gegeben. Wo spielt die Musik? "In uns!" sagen die Rezeptionsforscher und die Gehirnkundler legen nach: "Musik und Sprache werden in der selben Hirnregion verarbeitet. Das Hören und Verstehenlernen von Musik fördert die Sprachfähigkeit des Menschen."
Noch besser ist natürlich der aktive Umgang mit Musik. Aber dazu ist es nicht unbedingt notwendig, ein Instrument zu beherrschen oder den Quintenzirkel zu kennen. Ein Spiel also, bei dem es nicht darauf ankommt, ein komplexes Regelwerk zu beherrschen. Jeder stellt beim Musikhören seine eigenen Regeln auf. Der Abgleich der individuellen Hörergebnisse mit den Altersgefährten geschieht dann wieder spielerisch. Und so ist es nicht verwunderlich, dass gerade im Musikbereich die Partizipation aller schon Realität ist. Jeder kann sich ein Urteil bilden, jeder ist mündiger Nutzer von Musik. Und da sich über Geschmack bekanntlich nicht streiten lässt, ist das persönliche Urteil gleich wert dem der anderen. Auf der musikpraktischen Ebene ist dieses rezeptionsrealisierte Gleichheitsideal noch lange nicht in Sichtweite. Soziale Unterschiede sind immer noch dadurch erkennbar, ob und welche Instrumente Kinder und Jugendliche erlernen. Da wird es kaum vorkommen, dass der Schüler einer Sonderschule das Spiel der Harfe, der gymnasiale Klassenprimus den Umgang mit der Mundharmonika erlernt. Bildungschancen sind eben auch musikalische Bildungschancen und Geld - z.B. Beitragssätze für den Musikunterricht - spielt dabei immer mehr die erste Geige. Dazu kommt der Wegfall von Strukturen, die musisch-kulturelle Jugendbildung ermöglichen. Gut, dass es wenigstens dafür auch heute noch die Kirchen gibt. Sie sind - vor allem auf dem Land - die übrig gebliebenen Kulturträger und somit Anlaufstellen für Jugendliche, die miteinander singen und musizieren wollen. Gegen Schulstress, Zukunftsängste, den Frust des Alltags oder einfach nur zum Spaß. Und das in vollem Ernst.

Aus: Spielmarktjournal 2005



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