www.Crossover-agm.de "... das Wort Gottes durch Musik (zu) aktualisieren"
DownloadText hier downloaden.Download

von Markus Baum

I. Was für Merkmale hat denn das Wort Gottes?
I.1. Das Wort Gottes ist in menschliche Sprache gepackt. D.h. in deutsch, englisch, kreolisch ... - ursprünglich in hebräisch/aramäisch und griechisch.
I.2. Das Wort Gottes erscheint in Menschengestalt, auf zwei Beinen ("Wir sind die einzige Bibel, die die Welt noch liest"); "Jesus Christus ist das eine Wort Gottes ..." (Barmer Erklärung)
I.3. Das Wort Gottes ist tolerant gegenüber Verniedlichungen und Vergröberungen. (Das Fischlein in dem Wasser ...; Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer).
I.4. Das Wort Gottes ist intolerant gegenüber Verdrehung und Vergewaltigung. Man kann aus "Du sollst nicht töten" kein "Du sollst töten" machen, und "Selig sind die Friedfertigen" - das kann man nicht ummünzen in "Selig sind die Kriegshelden". Man kann "Gott mit uns" auf Koppelschlösser schreiben und wird früher oder später erleben, dass Gottes Wort und in diesem Fall ein Gottesname sich nicht ungestraft für eine teuflische Sache vereinnahmen lässt.
I.5. Das Wort Gottes ist katholisch = allgemein und deshalb wohlfeil. Keine Geheimlehre, offen auf dem Markt. Deshalb auch Gegenstand von Verballhornung, Persiflage, Spott und Geschmacklosigkeiten aller Art. "Jesus, spende mir Blut" (Müller-Westernhagen) - warum empfinden wir das als blasphemisch: Weil es an ein größeres Geheimnis rührt. Es ist nicht angemessen. Jesus hat seinen Jüngern nicht Blut gespendet, als er das Abendmahl gestiftet hat; sie haben keine Bluttransfusion bekommen, sondern einen Schluck Wein getrunken. Die semantische Verschiebung ist ihnen ja selbst erst hinterher klar geworden. "Christi Blut, für dich vergossen." Wenn man daraus Blutspende macht, dann ist das im Grunde eine Art trotzige Kapitulation vor dem Geheimnis.
I.6. Das Wort Gottes ist hammerhart, eindeutig, unmissverständlich: "Du sollst nicht ehebrechen. Du bist der Mann. Selig sind die Barmherzigen. Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus. Geh und sündige in Zukunft nicht mehr. Verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen." Daran gibt es nichts zu deuteln.
I.7. Das Wort Gottes ist vieldeutig, mehrschichtig, rätselhaft, dunkel ("Das Himmelreich leidet Gewalt, und die Gewalttätigen reißen es an sich", Mt. 11,12). Talmudische Erkenntnis: "Jedes Wort der Schrift kann auf siebzigfache Weise ausgelegt werden."

II. Kann = Muss!
Wer auf der Kanzel oder mit der Gitarre in der Hand das Wort Gottes weitergibt, MUSS auslegen. MUSS aktualisieren. Muss unbedingt überprüfen: passt das noch 1:1, muss es übertragen werden, wo ist der springende Punkt, hat er sich vielleicht verschoben ...
Ergo: Die Auslegung - jede Auslegung, jede Aktualisierung des Wortes Gottes - ist zunächst einmal zeitgebunden. Alles, was uns zeitlos erscheint (Paul-Gerhardt-Lieder, Bach, Mozart), erscheint nur so. Ist seinerseits wieder aktualisiert und ausgelegt. Es ist eine Zeit vorstellbar, in der kein Mensch Mozart hören mag. Genauso wie Bach 50 Jahre lang buchstäblich unhörbar war. Bis eine neue Generation einen neuen Zugang zu Bach gefunden hat. Wohlgemerkt: nicht den alten Zugang wiedergefunden, sondern einen neuen Zugang entdeckt.
Ähnliches passiert mit dem Wort Gottes auch. Es gibt Passagen in der Bibel, die schlummern jahrzehnte- und jahrhundertelang vor sich hin. Kein Mensch freut sich darüber, kein Mensch reibt sich daran, keiner predigt darüber. Oder vielleicht wird es nur allegorisch verstanden, weil sich ein wörtliches Verständnis aus welchen Gründen auch immer verbietet. Und dann plötzlich - klick! - geht ein Scheinwerfer an, und ein Wort taucht wieder aus der Versenkung auf, wird buchstäblich erhellt, wirft seinerseits ein ganz neues Licht auf eine bestimmte Situation oder einen Vorgang. Als christliche Musiker müssen wir einerseits die Augen und Ohren offenhalten, damit wir solche hehren Momente nicht verpassen. Müssen zur Stelle sein, müssen ein Gespür entwickeln für die Stichworte, die Themen, die jetzt grade dran sind. Daneben gibts aber auch einen Katalog von Dauerbrennern, von Themen und biblischen Aussagen, die nie aus der Mode kommen. Da gibts schon X Interpretationen, die sind schon x mal vertont und dichterisch bearbeitet worden. Das macht es nicht unbedingt leichter.
Die meistvergebenen Stichworte, die am häufigsten vergebenen Bibelstellen im ERF-Musikarchiv: 77 x "Der Herr ist mein Hirte"; etwa 70 x der aaronitische Segen in allen Variationen, 44 x "Also hat Gott die Welt geliebt", 32 x Matthäi am letzten ("Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt"); 17 x die Seligpreisungen. Nur eine Tendenzanzeige - natürlich ist jede dieser Bibelstellen noch viel öfter frei verarbeitet worden, so dass man den biblischen Wortlaut nicht mehr direkt wiederfindet. Vorteil und/oder Problem, je nachdem: bei solchen biblischen Aussagen ist der Platz im Gedächtnis des Publikums oft schon besetzt. Da assoziiert man mit einem Bibelvers sofort ein bestimmtes Lied. Vermutlich in jeder Generation ein anderes bestimmtes Lied.
Herausforderung für Liedtexter und Komponisten: eine NEUE Gestalt finden, eine neue musikalische und textliche Gestalt. Beispiel: Buddy Greene, "Surely Goodness and Mercy".
Diese Gestalt muss einerseits der biblischen Aussage gerecht werden, muss ihr entsprechen, muss mit allen Konnotationen und Assoziationen ins Heute passen, darf nicht komisch oder missverständlich wirken; und andererseits muss sie den musikalischen Ansprüchen der Leute heute genügen, muss in das Spektrum ihrer Hörgewohnheiten irgendwie reinpassen. Es muss nicht Mainstream sein, aber sie müssen es irgendwie einordnen können, sie dürfen es nicht von vornherein verwerfen.
Nur wenn ALLE diese Bedingungen einigermaßen erfüllt sind, besteht die Chance, dass ein NEUES Lied die alten vertrauten Klänge aus dem Gehörgang vertreibt.
Nur wenn die WESENTLICHEN Bedingungen erfüllt sind, kann ein Lied überhaupt "erfolgreich" sein in dem Sinn, dass es gern gehört und gern gesungen und wieder und wieder gehört und gesungen wird.
Und vielleicht durchlebt ein solches Lied ja auch eine Art Dornröschen-Karriere: Wird von allen geliebt und bewundert - versinkt zwischendurch mal in Tiefschlaf, für 100 oder 50 oder 20 Jahre, und taucht dann wieder auf, schöner als je zuvor.

III. Die Bibel, die Musik und unsere gesellschaftliche Situation
Erkennen und WIEDERerkennen - das sind in der Literatur, in der bildenden Kunst und auch in der Musik erwünschte, vorteilhafte Momente. Es gibt nichts oder jedenfalls nur wenig wirklich Neues unter der Sonne. Paradise Lost, Alice im Wunderland, der Zauberer von Oz, der Steppenwolf. Der Prophet. Der kleine Prinz ...
Unsere geistige Welt lebt vom Erkennen und Wiedererkennen, von Anspielungen und Zitaten. Das ist ein Spiel, das regt den Geist an, das ist so, als würden wir einander gegenseitig ein wenig unter Strom setzen. Mit wohligen Folgen. Das macht Spaß, das ist das Salz in der Suppe, das erhält oder weckt überhaupt erst die Lebensfreude. Deswegen lesen wir, deswegen suchen wir den gepflegten zweckfreien Austausch. Deswegen sind wir soziale Wesen und sind normalerweise keine autistischen Eigenbrötler.
Erkennen und Wiedererkennen - eine wünschenswerte Wechselwirkung. Und ein, zwei Generationen zurück hat das auch noch mit der Bibel funktioniert. Viele moderne Mythen leben davon, dass sie die Bibel zitieren, interpretieren, bebildern, ausmalen. Bestes Beispiel ist der "Herr der Ringe": J.R.R. Tolkien hat da eine ganze Menge Christologie hineinverwoben; die Gestalt des Aragorn trägt die Züge des wiederkommenden Herrn, des Christus Pankrator, und Gandalf der Graue bzw. der Weiße muss mit einer Ausgeburt der Hölle kämpfen und lotet dabei die tiefsten Abgründe aus, ist verloren, gilt als tot, und ersteht wieder in noch größerer Souveränität und Macht - auch er hat Züge des Mannes aus Nazareth, der stellvertretend leidet und stirbt für seine Freunde - und dann triumphal wieder aufersteht. Wenn man die Paulusbriefe und die Offenbarung des Johannes als Sekundärliteratur zum "Herrn der Ringe" liest, dann gehen einem Kronleuchter auf. Aber das ist vielen Menschen heute und vor allem den Kindern und Jugendlichen von heute nicht mehr bewusst. Wir können im Kinder- und Jugendbereich fast nicht mehr damit rechnen, dass da auch nur ein bisschen Grundwissen da ist. Da sind die Lieder oft der Erstkontakt, da läuft oft übers Singen in der Kinderwoche oder übers Cassettehören oder übers christliche Popkonzert die erste Begegnung mit biblischen Aussagen und Inhalten. Oder die Kids halten das Zitat oder die Verfremdung fürs Original. Haben zum Beispiel in Akte X irgendwas über Jungfrauengeburt oder über Auferstehung von den Toten gesehen, aber da klingelt es nicht mehr, sie kennen die Vorlage nicht, sie erkennen das Zitat nicht als solches. Eine völlig neue Situation!
Und nun ist die Frage, wie stellen wir uns auf diese Situation ein. Ist es taktisch klüger, ganz selbstverständlich christliche Hammeraussagen in den Raum zu stellen - Leute damit zu konfrontieren: sowas gibts; das sagt Gott von sich; das lehrt und glaubt die Kirche Jesu Christi. Peng - direkt zwischen die Augen. Hast du schon gewusst: Du bist ein Sünder, du bist auf dem Highway to Hell, macht aber nix, es gibt eine Rettung für dich. Wechsle die Seite, geh über ins andere Lager. Schließ dich dem König der Könige an. Er heißt Jesus, und er reklamiert alle Macht im Himmel und auf der Erde für sich ...
Scheint ja durchaus zu funktionieren. Manche Menschen sind dankbar für diese direkte Konfrontation. Die würden auf zaghafte, verschämte, höfliche Annäherungsversuche überhaupt nicht oder unwirsch reagieren. Die brauchen Erleuchtungserlebnisse. Sonst kommen sie nie in die Gänge. Das ist das Erfolgsrezept einiger White Metal-Bands, das ist das Erfolgsrezept der Jesus Freaks. Kann man auf dem Freakstock in Gotha alle Jahre wieder erleben. Das war vor fast zwanzig Jahren Erfolgsrezept von Stryper. Immer Bibel pur, immer auf die Zwölf.
Aber mit demselben Recht kann man natürlich auch sagen: Wir müssen das biblische Wort in ganz kleine Stücke runterbrechen. In leichtverdauliche Häppchen. Eins nach dem andern. Nicht den Vorhang mit einem Ruck aufziehen, sondern erstmal nur einen Spalt lüften. Neugier wecken. Appetit auf mehr machen. Beispiel: "What if God was one of us" in der Interpretation von Martin Joseph. Reflektiert einen Aspekt des Christushymnus in Philipper 2: "Er hat seine göttliche Gestalt abgelegt und wurde einer von uns, nahm Menschengestalt an."
Vermutlich kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als auch. Wir brauchen die klare, deutliche, unmissverständliche Sprache. Wort Gottes roh, ungekocht, nicht kleingeschnitzelt, mit allen Vitaminen und Spurenelementen. Und wir brauchen genauso das behutsame Tasten, die fragenden Lieder. An manche biblischen Aussage müssen wir uns vielleicht wirklich spiralförmig annähern, langsam rantasten. Vorsicht heiß, Vorsicht explosiv!
Wir brauchen von beidem viel, viele gute Lieder mit Bekenntnischarakter, wo in drei Minuten das Wichtigste zusammengefasst ist. Wort Gottes in hoher Konzentration. Und wir brauchen viele gute Lieder der behutsamen Sorte. Wo nicht der ganze Heilsweg in drei Strophen abgehandelt wird. Sondern nur eine einzige Facette, ein Gesichtspunkt, eine Verheißung, eine Zusage Gottes, eine Frage, die Jesus an uns weitergereicht hat: Wer ist denn mein Nächster? Oder eine steile Behauptung des Apostels Paulus. Reicht mitunter für 500 Seiten theologische Abhandlung, dann reicht sie bestimmt auch für ein Lied oder einen Rap von vier Minuten Länge. Beispiel: Peter Himmelman, "The Sweetest Revenge", von LP "Synesthesia"

IV. Was ist gut an guten Liedern, an guter (Pop-)Lyrik?
Wenn wir das wissen, dann können wir davon auch ableiten, was gut ist an guten christlichen Liedtexten. Dann können wir auch Kriterien herausarbeiten, wie man das Wort Gottes aktualisieren und neu hörbar machen kann.
Problem: Woher kriegen wir ein Maß für die Güte eines Liedes oder eines Gedichtes? Wie kann man das objektivieren? Geht das überhaupt? Ist das nicht reine Gefühlssache - dem einen gefällt's halt, dem anderen nicht?
IV.1. Gebundene Sprache: Weniger ist mehr
Nun, es gibt schon ein paar Kriterien dafür, was in der Dichtkunst gut ist. Es gibt auch eine Handvoll Regeln, wie man ein ordentliches Gedicht oder einen Liedtext wirkungsvoll anlegen kann.
Da ist zunächst einmal ein geheimnisvolles Grundprinzip: Selbstbeschränkung. Wer Gedichte schreibt oder Liedtexte, der schränkt sich ja freiwillig ein. Verzichtet freiwillig auf tausend Möglichkeiten, wie man es im Deutschen auch anders sagen könnte. Legt sich fest auf ein Versmaß oder auf eine bestimmte Anordnung von Zeilen, unterwirft sich dem Reimzwang. Das klingt ja irgendwie masochistisch. Warum macht jemand sowas? Ganz einfach: weil es in der Dichtung oft nach dem Motto geht "Weniger ist mehr." Mehr Gestalt. Mehr Schönheit. Mehr Wirkung. Genauso wie ein Bildhauer vielleicht erst Dreiviertel vom Marmorblock wegmeißeln muss. Oder ein Modedesigner: der geht beim Bikini ja auch nicht deshalb so sparsam mit dem Stoff um, weil der Stoff so teuer wäre. Sondern weil er durch Weglassen hervorheben und die optische Wirkung steigern kann.
Das trifft sinngemäß auch auf die Sprache zu. Stellt Euch vor, die Sprache ist der Stoff, und was soll dieser Stoff zur Geltung bringen: die Wahrheit und die transzendente Wirklichkeit Gottes! Ganz nach dem Bikini-Prinzip: weniger Worte für mehr Wirkung. Jean Paul hat gesagt: "Sprachkürze gibt Denkweite". Das ist das Geheimnis guter Gedichte, guter Lieder, guter Popsongs. Mit wenigen Worten viel sagen. - Musterbeispiel für gesteigerte Wirkung durch Reduktion:
Eberhard Laue, "Gott ist immer noch Gott":
Gott ist immer noch Gott
Gott ist immer noch
Gott ist immer
Gott ist
Gott
Noch ein Beispiel: Jörg Swoboda, "Sie planten" (1975):
SIE PLANTEN, AUS SCHWERTERN PFLUEGE ZU SCHMIEDEN; SIE PLANTEN.

DIE ANGST TRIEB SIE WEITER, SCHWERTER ZU SCHMIEDEN. DIE ANGST WAR DIE KRAFT, DIE DEN HAMMER SCHWANG. DIE ANGST WAR DIE KRAFT.
WO DIE ANGST TRIEBKRAFT ZUM HANDELN IST, WIRD NIEMALS FRIEDEN SEIN.
IV.2. "Gestaltungsraum" als Messinstrument für die Güte eines Gedichts, eines Liedes, eines Musikstückes
An dieser Stelle möchte ich ein Modell aus der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie einführen. Habe ich aus einem völlig anderen Zusammenhang, habe ich bei Daniel C. Dennett und bei Richard Dawkins gefunden, zwei Herolden des Neodarwinismus. Und zwar arbeiten Dennett und Dawkins mit dem sogenannten Gestaltungsraum.
Stellt Euch vor: die gesamte geistige Welt sei eine Art Gummituch. Ein straff gespanntes Gummituch. Überall da, wo jemand einen Gedanken denkt - egal wie sinnvoll, wie gewaltig oder wie banal -; überall da, wo ein Maler den Pinsel oder die Kreide oder den Kohlestift ansetzt; überall da, wo jemand einen Brief schreibt; überall da, wo jemand eine Melodie auf dem Klavier klimpert oder auf den Gitarrensaiten improvisiert, überall da zeigt das Gummituch eine Erhebung.
Eine Beule, das wäre eher eine belanglose geistige Leistung. Eine spitze und hohe Zacke deutet darauf hin: oha, hier hat jemand etwas mehr Muße, etwas mehr Gehirnschmalz investiert, hier ist etwas Außergewöhnliches entstanden.
Insgesamt ist das Gummituch der geistigen Landschaft dieser Welt eher eben, allenfalls sanft gewellt oder genarbt. Das Alltägliche, das funktionelle Tagesgespräch. "Was liegt heute an im Büro?" "Nix Besonderes. - Was gibts zum Mittagessen? Schon wieder Pizza? Na gut." - Aber es gibt Regionen auf diesem Gummituch, da erheben sich steile Gebirge. Manche Gegenden sehen auch wild gezackt aus wie die Dolomiten oder wie ein Korallenriff. Das sind dann die Tummelplätze des Geistes wie etwa die erzählende Literatur oder die Musik oder die Zahlentheorie oder die Dichtkunst. Je steiler eine Zacke, desto auffälliger. Klar. Das Alltägliche, das Flache, das regt keinen Menschen auf. Da macht man keine Ausflüge hin. Es müsste schon AUSSERGEWÖHNLICH FLACH sein, damit es zur Attraktion wird. Das ist das Geheimnis von Reality Soap wie "Die Osbournes": Im Gestaltungsraum ein wirklich überraschender, vollkommen glattflächiger Quader, der sich da ein wenig aus dem sanft gewellten Allerlei erhebt. Oder das Geheimnis von "Marienhof" oder "GZSZ" oder das Geheimnis des deutschen Schlagers oder der volkstümlichen Hitparade. Kein besonders hoher geistiger Anspruch, keine Offenbarung, nichts wirklich Neues, aber immerhin eine Abwechslung im tristen Einerlei.
Gute Dichtung, gute Musik, gute Kunst dagegen: da gehts zu wie im Hochgebirge. Tiefe Schluchten, steile Klippen, scharfe Grate, sicher auch mit idyllischen Plätzen, mit kleineren oder größeren Plateaus oder Nischen, wo man relaxen kann oder einen ganz außergewöhnlichen, seltenen Blickwinkel auf den Rest der Gummituchlandschaft hat.
Und dann gibts noch ganz außergewöhnliche Erhebungen, Gipfel, die am Himmel kratzen. Das entspräche dann also geistigen Orgasmen. Der Vergleich ist auch insofern nicht verkehrt, weil von jedem Gipfel muss man auch wieder runter.
Das Modell bietet uns gleich mehrere Möglichkeiten, Güte und Qualität eines geistigen Produkts deutlich zu machen: Einmal natürlich die Höhe der Zacke. Dann die Flankensteilheit. Als Drittes die räumliche Ausdehnung. Und schließlich kann es ja sein, dass unser Berg oder unser Fels in sich auch noch gegliedert und differenziert ist.
Die Höhe der Zacke könnte z.B. für den Wert des Gedichts oder des Liedes stehen. Ist der Inhalt eher seicht, ist die Melodie so la la, ist das Werk austauschbar - eins von vielen - dann fällt die Zacke niedrig aus. Ist es der absolute Hammer, wird hier eine existenzielle Wahrheit zum ersten Mal überhaupt, oder zum ersten Mal in dieser sprachlichen Vollendung und in dieser Deutlichkeit ausgedrückt, muss man eigentlich alle Menschen bedauern, die das noch nie so gehört haben - dann sind wir dem Himmel schon ziemlich nah. Sehr hoch. Achttausender.
Die Flankensteilheit: das wäre eine Frage der Verpackung und der Aufbereitung.
Ziemlich steil: das hieße sehr anspruchsvoll und nicht unbedingt gefällig oder diplomatisch. Gedichte von Paul Celan. Gangsta-Rap. Zwölftonmusik. Kunstwerke von Joseph Beuys. Ziemlich flache Flanke, das hieße: hier hat jemand einen hohen Anspruch, aber zugleich will er es den Leuten einfach machen. Oder noch schlimmer: es soll bloß keiner merken, dass der hohe Anspruch da ist. - EKD-Denkschriften: die haben oft diesen Charakter. Da ist im Kern irgendwo noch der steile Anspruch des Evangeliums, aber um diese steile Zacke, um dieses Ärgernis, dieses Fanal herum hat man eine kilometerlange Rampe angeschüttet. Siebzig Seiten gelehrter Schwulst plus Vor- und Nachwort, wo Jesus nur einen Satz gesprochen hat. Im Ergebnis ist die Spitze weg. Es bleibt ein flacher Hügel übrig, sieht von weitem aus wie ein Sandhaufen, aber der Weg zum Gipfel ist endlos und ermüdend. - Viele Balladen haben dieses Problem. Viele Romane. Langer Anmarschweg, und dafür dann eine eher enttäuschende, magere Pointe.
IV.3. Das Wort Gottes im Gestaltungsraum
Nun haben wir es ja aber mit dem Wort Gottes zu tun, und das unterscheidet sich dann doch sehr bezeichnend von einer Daily Soap oder von der volkstümlichen Hitparade. In der Bibel ist zwar ständig von ganz normalen, fehlbaren Menschen die Rede, da wird geliebt und gehasst, da werden bürgerliche Berufe ausgeübt, da passiert in manchen Lebensläufen jahre- und jahrzehntelang nichts Außergewöhnliches. Flach gespanntes, nur sanft gewelltes Gummituch. Aber dann kommt plötzlich und unvermutet die steile Zacke. Oder es schlägt plötzlich der Blitz ein. Das sind dann Zacken, die sind so steil, da sagen die Bewohner unserer Gummituchlandschaft: so steile Zacken gibt's gar nicht. Das kann doch gar nicht sein. Das ist doch verrückt! Tote erwachen nicht so einfach wieder zum Leben. Das Schilfmeer teilt sich nicht so mir nichts, dir nichts. Es gehört sich nicht, dass man Stimmen hört oder Visionen hat oder übers Wasser läuft. Es ist höchst ungewöhnlich, dass ein nasser Holzhaufen plötzlich anfängt zu brennen. Es ist nicht normal, dass man seine Feinde liebt oder dass ein korrupter Schreibtischtäter wie Zachäus ehrlich wird und seine Opfer entschädigt - mit Zins und Zinseszins. Bevor der Staatsanwalt auch nur einen Anfangsverdacht gehabt hätte. Es ist nicht normal, dass Gott uns liebt. Warum sollte er? Wir machen es ihm auch nicht gerade leicht. Wenn er es trotzdem tut, dann ist allein schon der Gedanke daran oder die Erkenntnis, dass er es tut, so steil - das geht vielen Menschen buchstäblich über die Hutschnur.
Durchbruch zur Transzendenz - oder Verrücktheit? Schwer zu unterscheiden. Egal, ob von unten nach oben - oder von oben nach unten. Egal, ob ein Mensch geistig über sich hinauswächst, wie der weise König Salomo oder wie die Mystiker des Mittelalters, oder ob ein Mensch von Gott buchstäblich in den Himmel entrückt wird für eine halbe Stunde, wie der Prophet Jesaja - das wäre praktisch die senkrechte Zacke, die von unten nach oben zeigt. Oder ob Gott sich ins Weltgeschehen einmischt und mal eben mit dem kleinen Finger in einem Menschenleben oder in der Weltpolitik herumrührt. Das wäre dann der Blitz, der von oben einschlägt. - All solche Erfahrungen sind an und für sich nicht vermittelbar. An dieser Stelle setzt die Übersetzungsarbeit ein. Aus dem Blitz, der den Himmel spaltet und senkrecht in der Erde einschlägt, müssen wir eine steile, markante Zacke machen. Mit dem Einbruch des Transzendenten in diese Welt können die meisten Menschen nämlich nichts anfangen. Sie können 90° Flankensteilheit nicht denken. Ist im menschlichen Gehirn nicht definiert. Was fangen sie also mit einer solchen Nachricht an?
a) Du hast dich geirrt. Das gibts doch gar nicht. - Wegerklären.
b) Da war was, aber es ist nicht greifbar. - Man wundert sich ein bisschen oder man ärgert sich ein bisschen. Es juckt ein bißchen, wie ein Mückenstich. Eine lästige kleine Erhebung. Mehr nicht.
c) Sie gehen damit um wie mit einem notorisch Verrückten oder mit dem sprichwörtlichen Dorfdeppen: sie regen sich nur ganz kurz darüber auf oder lachen pflichtschuldig, aber dann gehen sie wieder zur Tagesordnung über. Sie sind damit schlichtweg überfordert. Pfingsten: "Sie sind voll süßen Weines". Das ist die einfachste Erklärung: zu tief ins Glas geschaut. Verrückt.
Mit einer schroffen, steilen Zacke dagegen oder mit einem mächtigen Tafelberg, der sich unvermittelt aus der Ebene erhebt - damit kommen wir zurecht. Alles, was nicht über unseren Horizont geht, das reizt uns. Berge und Felsnadeln sind dazu da, dass man sie bezwingt. Dass man sie unter sich lässt. Der menschliche Ehrgeiz ist da zwar sehr unterschiedlich ausgeprägt, manche kapitulieren früher, manche später, aber grundsätzlich lieben wir schon das Abenteuer, auch das geistige. - Wir müssen den Einbruch Gottes in unsere Welt, den senkrechten Blitz, die unbezwingbare senkrechte Felswand also transformieren, und zwar so, dass die Leute sagen: oha, ganz schön anspruchsvoll, ganz schön hart, aber es ist zu schaffen. Wäre doch gelacht.
Genau diese Vermittlungsaufgabe haben die biblischen Autoren oft schon geleistet.
Zum Beispiel die Propheten: die sprechen ganz selbstverständlich weltbewegende Dinge aus, aber zugleich ordnen sie es ein. Oder verknüpfen es mit einer zeichenhaften Handlung. Oder mit einem Bild. Das ist dann sozusagen die Brücke für die Halsstarrigen, die den Kopf nicht so weit gehoben kriegen.
Jesus macht in seinen Reden und in seinen Gleichnissen nichts anderes. Er übersetzt das Unerhörte, das Weltfremde, das Göttliche in eine Sprache, mit der die Leute was anfangen können. Er macht aus dem Blitz eine beeindruckende Zacke. "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Reich Gottes kommt." - Unerhörter Sachverhalt, aber in alltägliche Begriffe gekleidet. Zudem erinnerungstechnisch, memotechnisch so ausgedrückt, dass man es einmal hört - und nie wieder vergisst. Wenige Worte, womöglich sogar poetischen Regeln unterworfen, hoher Bedeutungsgehalt: "Die Letzten werden die Ersten sein, die Ersten werden die Letzten sein" (Jesus). "Liebet eure Feinde" (Jesus). "Wer herrschen will, soll dienen" (Jesus, sinngemäß).
Finden wir natürlich auch anderswo in der Bibel, bei den Propheten zum Beispiel:
"Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht" (Jesaja). Oder bei Paulus: "Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig." - "Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem." - "Ihr seid nicht mehr nur Tagesbesucher und Touristen, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen. Euer Name steht auch auf der Klingel. Ihr seid da oben gemeldet."
Und nun ist das Schöne: Wir müssen das Rad nicht unbedingt neu erfinden. Wenn es in der Bibel bereits so viele unübertroffen kraftvolle Bilder und Erklärungen und Darstellungen und Umschreibungen des Unbegreiflichen gibt, dann müssen wir uns nicht verkünsteln und uns was völlig anderes überlegen. Die Auslegung, die Aktualisierung ist schon schwierig genug.

V. Aktualisierung mit Respekt vor dem Original - und in Freiheit
Wenn wir aber schon aktualisieren und auslegen, dann zugleich mit Respekt vor der Vorlage - und in Freiheit. Nur Respekt ist zu wenig - dann wiederholen wir nur, plappern wir nur nach. Mangel vieler P&W-Songs. Nur epigonal, nichts Eigenes. Nur funktional. Keine Kunst. Da wird nur die Schwellung des Mückenstichs etwas dicker. Eine wirkliche Vermittlung findet nicht statt. Zumindest, wenn man NUR das Lied hört oder singt. Als liturgisches Element eingebettet in die Feier eines Gottesdienstes - da sieht es anders aus. Da verstärken sich die einzelnen Elemente gegenseitig. Würde und Weihe und ein entsprechender Raum und die Orientierung auf den Altar oder auf das Kreuz und die zugehörigen Lesungen und Gebete - das alles zusammengenommen kann eine mächtige, ehrfurchtgebietende Zacke sein, die am Himmel kratzt. Dazu trägt der vertonte Bibelvers, der Chorus nur ein bisschen bei, aber er trägt dazu bei. Also: es hängt auch vom Setting ab.
Und trotzdem wünsche ich mir natürlich, dass christliche Lieder, in denen biblische Wahrheiten verarbeitet werden, auch für sich stehen kšnnen. Nicht nur im gottesdienstlichen Rahmen wirken. Beispiel: Delirious, "Investigate" - Eigentlich aus dem gottesdienstlichen Rahmen: Sündenbekenntnis, Anspielung auf Ps. 139,23 "Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine ...", aber auch viele andere Stellen: Ps. 11, Spr. 24, Jes. 48,10.
Nur Respekt vor dem biblischen Wort, das wäre mir zu wenig, habe ich gesagt.
Nur Freiheit ist auch zu wenig - dann landen wir bei einem libertär verstandenen Augustinus: "Liebe - und tu was du willst", aber das ist dann nicht mehr Evangelium, das ist auch nicht Augustin, das ist Zeitgeist. Das ist nur noch Kunst, aber dann kratzt nichts mehr am Himmel. Schöne Zacke, nicht mehr. Oft aber auch nur flache Plateaus.
Positives Beispiel in der Geschichte: Hildegard von Bingen, Christusminne - eine ganz eigene Form, sehr subjektiv, sehr intim, biblische Aussagen sehr frei verarbeitet, sie klingen an, aber nur entfernt. Eine eigene Schöpfung in jesuanischem Geist. Freiheit und Respekt. Positive Beispiele in der Gegenwart: Martin Buchholz, Theo Eissler/Beatbetrieb; Tobias Petzold/Zwischenfall, "Ich hab dich gesucht"
Problem: Die Kunst der "Denkweite durch Sprachkürze" hat derzeit keine Konjunktur. Rap, aktueller Deutschrock: Schwafelkultur. Rosinenkuchen, aber keine Rosinen pur. Rosinen gut versteckt in einem breiten Plateau mit einzelnen herausragenden Spitzen. Aktueller CHRISTLICHER Deutschrock ist oft auch nicht besser. (Interessant: Die Kids von heute empfinden das offenbar anders anders. Sie finden die Rosinen. Stören sich nicht am weitschweifigen Blabla drumherum. Vielleicht gibt es da einen Geheimcode, vielleicht sind die Gehirne der Teenager so verschaltet, dass sie eine größere Redundanz brauchen.)
Beispiel: Aktualisierung des Wortes Gottes durch breit angelegte Erzählungen. "Finale" von Tim LaHaye. "Erbauliche" Literatur in dem Sinn, dass sie natürlich hebt und den Blick nach oben richten hilft. Beeindruckende Berge, aber da müssen die Leute natürlich von Fall zu Fall entscheiden, ob sie wirklich zwei Wochen Urlaub opfern wollen, um so ein Bergmassiv zu erwandern. Und außerdem kann da schnell aus dem Blick geraten: wo ist der eigentliche Gipfel? Wenn schon der Anstieg aufs Plateau so mühsam war, dann gibts vielleicht gar keine Klimax mehr. Dann ist das Plateau das Erlebnis und nicht die geistliche Spitze, die irgendwo noch zwei, drei Meter höher rausragt. Da wird die Wirkung des biblischen Wortes mitunter nicht verstärkt, sondern relativiert.
Man müsste mal gründlicher untersuchen, was Tolkien im "Herrn der Ringe" so anders gemacht hat oder C.S. Lewis in der "Perelandra-Trilogie", ob es da nur am höheren dichterischen und intellektuellen Niveau liegt, dass es da nicht so ist. Da kommt die geistliche Dimension voll zur Geltung - jedenfalls, wenn man die Chiffren kennt. Wenn das mit dem Wiedererkennen noch funktioniert.

VI. Vom Klang der Worte zum Klang der Töne
Unsere selbstgestellte Aufgabe lautet ja: das Wort Gottes "durch Musik" zu aktualisieren. Ich habe ja bei der Sprache und bei der Lyrik angesetzt, speziell bei der Poplyrik. Jetzt möchte ich doch der Musik auch noch die Ehre geben, die ihr gebührt.
Denn die Sprache hat natürlich Grenzen. Und das wird nirgends so deutlich wie in der Bibel. Worum gehts denn in der Bibel: Es geht um das Unaussprechliche, um das Unbegreifliche, um die unfassbare Realität Gottes. Es geht um Transzendenz.
Ludwig Wittgenstein hat in seinem Tractatus logicus philosophicus postuliert: "The sense of the world must lie outside the world." - Der Sinn der Welt, wenn sie denn einen Sinn hat, muss außerhalb der Welt liegen. Jemand von außerhalb muss ihr diesen Sinn beimessen. - "The solution of the riddle of life in space and time lies outside space and time." - Das Rätsel des Lebens in Raum und Zeit hat vielleicht eine Lösung, aber die liegt garantiert nicht in Raum und Zeit.
Bis dahin können wir Wittgenstein sicher folgen, aber auch nicht weiter, denn anders als der große österreichische Philosoph bekennen Christen ja eindeutig: doch, Gott hat sich in der Welt offenbart. Er hat etwas von sich preisgegeben. Er hat uns zumindest eine Ahnung von dem gegeben, was in der höheren Welt vor sich geht. Er hat uns einen Blick durchs Schlüsselloch erlaubt. Wir sind Verwalter der Geheimnisse Gottes. Darum geht es in unseren Gottesdiensten, das feiern wir in den Sakramenten. Übermenschliche Geheimnisse. Wir sprechen von Dingen, die völlig weltfremd sind. Viel größer. Viel höher.
Und nun ist die Frage: Wie können wir angemessen von diesem Erhabenen und vom Geheimnisvollen sprechen? Einen Schlüssel dazu finden wir im Hochmittelalter bei Meister Eckhart. Der hat in seinem Traktat "Vom namenlosen Gott-II" geschrieben:
"Es schickt sich für uns, dass wir ganz und gar schweigen müssen von dem, der da ein Ursprung aller Dinge ist. Sankt Gregor spricht: Wir können von Gott nicht eigentlich sprechen. Was wir von ihm sprechen, das müssen wir stammeln."
Zu deutsch: wir können nur bruchstückhaft, nur andeutungsweise von Gott reden, wenn überhaupt. Unsere Liturgie, unsere Loblieder, die Sakramente und was wir dabei sagen: Das ist, wenn man so will, geformtes Stammeln. Wir bemühen uns, das wir das Unaussprechliche wenigstens gefällig und würdig umschreiben. Wir kreisen es ein, ohne es je zu packen. Hier kommt die Musik ins Spiel: mit ihrer Hilfe können wir das geformte Gestammel ästhetisch aufwerten. Wir können vielleicht in der Musik eine Entsprechung finden, für die es keine Worte gibt.
Beispiel Delirious, "Awaken the Dawn". Der Text ist gar nicht so furchtbar außergewöhnlich: "Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren" im Jahr 2000.
Delirious hat dieses Motiv aus Psalm 57: "Das Morgenrot wecken". Die musikalische Gestalt, da haben sie natürlich Anleihen in der traditionellen Musik gemacht. Eine keltisch-irisch-schottische Ethnohymne. Zum Mitsingen. Im Idealfall hat die Musik, mit der wir das biblische Wort aktualisieren wollen, synästhetische Qualität. Das heißt: Die Melodie, der Klang, der Satz, die Orchestrierung, das Arrangement, das alles soll die Aussage ebenfalls tragen.
Nun ist das mit der Synästhesie natürlich heftig umstritten. Prominentestes Opfer der Debatte ist Johann Sebastian Bach - in dessen Musik wird ja alles mögliche hineingeheimnist. Und der Oberguru dieser Deutungsschule, das ist der Hamburger Musikprofessor und Kirchenmusiker Günter Jena. Der befördert fleißig den Kult um "Bach als 5. Evangelisten". Da hat dann jedes musikalische Motiv, jede Note eine zweite oder dritte Bedeutungsebene über die rein musikalische Funktion hinaus. Das ist natürlich übertrieben.
Ich denke, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Die Musik muss nicht das Wort ersetzen, sie muss es noch nicht einmal ersetzen können. Sie ist aber auch nicht nur nachrangig. Hoffentlich nicht.
Die Musik kann, was unsere Aufgabe angeht, Katalysator und Generator sein. Sie kann die Wirkung der Worte ungemein verstärken. Sie kann Stimmungen und Gefühle generieren oder jedenfalls aus unserem Arsenal an möglichen Empfindungen hervorholen. Sie kann Programm sein. Sie kann - genau wie die Sprache - mit Zitaten und Anspielungen arbeiten, das Erkennen und Wiedererkennen funktioniert mit ihr genauso gut. Zeitgemäße Musik kann die Brücke schlagen zwischen der biblischen Aussage und dem Lebensgefühl der Menschen heute, und am besten gelingt das im Verein mit einer präzisen, leichten, zeitgemäßen Sprache.

(Vortrag bei der Zentralen Arbeitstagung der AGM am 24.02.2003 in Kassel)



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver