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SCHWARZE WURZELN
von Dr. Theo Lehmann, Jugendevangelist; Autor von Büchern über Blues, Gospel und Spirituals, die als Standardwerke gelten

Mit 20 "negars" fing alles an. Diesen ersten Afrikanern, die als Sklaven 1619 in Jamestown, Virginia, landeten, folgten etwa 50 Millionen, die auf den Baumwollplantagen die Grundlagen für Amerikas Reichtum schufen. Doch verdankt ihnen die Welt noch einen ganz anderen Reichtum - ihre Musik. Die Sklaven wurden aus allen bisherigen Bindungen ihrer Kultur, Stämme, Religion, Familie und Sprache herausgerissen. Das einzige, was ihnen blieb und von keinem Weißen genommen werden konnte, waren ihre Stimmen und ihre Musikalität. Schon in einem der frühesten Berichte über das musikalische Verhalten der Sklaven ist zu lesen: "Die Neger haben von allen Menschenarten das beste Ohr für Musik. Sie finden im Psalmensingen eine Art ekstatischen Entzückens." Bis die heidnischen Sklaven Christen wurden und Psalmen sangen, vergingen freilich zwei Jahrhunderte. Was sie bis dahin sangen, nennt man Cries, Fieldhollers, Worksongs, alles mehr oder weniger afrikanisch geprägt. Erst als die Sklaven ab 1800 von der großen Erweckungsbewegung (Great Awakening) mitgerissen wurden (ihre Bekehrung gilt als das größte Ereignis der Missionsgeschichte), kam es zu einer intensiven Begegnung schwarzer und weißer Traditionen. Im Schmelztiegel des religiösen Feuers der Campmeetings kam es zu ihrer Vermischung, und es entstanden als erste Form afroamerikanischer Musik die Negro Spirituals.
Die Hauptrolle in der afrikanischen Musik spielt der Rhythmus. Es handelt sich hauptsächlich um eine perkussive Polyrhythmik, das gleichzeitige Hervorbringen verschiedener, oft komplizierter Rhythmen durch Schlagen. Durch die Akzentuierung der Melodie zwischen den Taktzeiten ergibt sich in der afrikanischen Musik ein Spannungsverhältnis, das nur sehr unzureichend als Synkopation bezeichnet wird. Statt dessen verwendet man für die Akzentverschiebung den Ausdruck "off-beat"-Technik und für die Verschiebung ganzer Melodiephrasen den Ausdruck "off-beat"-Phrasierung. Der Afrikanist A.M.Dauer schreibt: "Wir haben in dieser 'off-beat'-Technik der Afrikaner eine Ekstasis im wahrsten Sinne des Wortes vor uns; denn ihr Wesen ist es, das statische Ruhen in sich selbst, das sowohl Metrum wie Rhythmus neben ihrer Eigenschaft als zeitliche Ablaufform auszeichnet, durch Überlagerung ihrer Akzente mit ekstatischen Schwerpunkten zu beunruhigen, zwischen statischen und ekstatischen Akzenten Spannungen zu erzeugen. In der melodischen 'off-beat'-Technik geschieht dies durch das Lösen der melodischen Akzente von den metrischen. Das gleiche geschieht in allen Formen afrikanischer Rhythmuskombinationen; es muß mit Wahrscheinlichkeit als deren eigentlicher Zweck und Sinn angesehen werden. So gesehen besteht das innerste Anliegen afrikanischer Musik darin, durch rhythmische Konfigurationen spezifischer Art eine ununterbrochene Ekstasis hervorzurufen ... Damit haben wir den Schlüssel gefunden zur Erkenntnis des ekstatischen Charakters der afrikanischen Musik und auch - des Jazz."
Die afrikanische Tonalität ist pentatonischer Herkunft. Die in der Pentatonik fehlenden Tonstufen unseres tonalen Systems - die Terz und die Septime - wurden im Lauf der Entwicklung der afrikanischen Musik ergänzt, erst zu einem hexatonischen, dann zu einem heptatonischen System. Diese Intervalle unterscheiden die afrikanische und die afro-amerikanische Musik von der europäischen Dur-Moll-Modalität. Man spricht hier von "blue notes", deren Herkunft bis heute noch umstritten ist.
Ein besonders wesentliches Merkmal afrikanischer Musik ist der Wechselgesang zwischen einem Vorsänger und dem Chor, die sogenannte "Ruf-und-Antwort-Praxis" (call and response), z.B. beim religiösen Ritual zwischen Priester und Gemeinschaft. Musik und Tanz bilden ebenso eine Einheit wie Musik und Gemeinschaft. Die Aufteilung in Interpret und Zuhörer ist unbekannt, weshalb das Ideal des harmonischen Wohlklangs entfällt. Das europäische Ideal des Belcanto ist daher ebenso unbekannt. Die Stimmgebung erfolgt durch das explosionsartige Herausquetschen oder -schreien. Es kommt nicht darauf an, "schön" zu singen, sondern einer Stimmung einen unmittelbaren Ausdruck zu verleihen, eine Wahrheit auszudrücken. Das Gesangsideal ist also weniger ästhetischer, mehr ethischer Natur. Was nun die Ruf-und-Antwort-Praxis betrifft, so ist diese zwar für die afrikanische Musik prägend, aber auch sonst in der Welt bekannt. Sie ist z.B. ein Grundgesetz der kirchlichen Liturgie oder auch des Psalmengesangs in Israel. Im 18. Jahrhundert sang das gesamte protestantische Amerika die Psalmen Davids. Das volkstümliche Psalmsingen war charakterisiert durch das sogenannte "lining-out". Eine Psalmzeile wird (langsam) vorgesungen und (ebenso langsam) von der Gemeinde nachgesungen. Angesichts der vielen Analphabeten und fehlender Gesangbücher war das die einzige Möglichkeit, mit den Massen tausender Teilnehmer bei den Campmeetings zu singen. Als die Sklaven zu der Erweckungsbewegung stießen, fanden sie dort also genau das musikalische Schema vor, das sie von Afrika her gewöhnt waren und auch schon in Amerika (in den Worksongs, wo der Vorarbeiter zum Vorsänger der respondierenden Arbeitergruppe wird) praktizierten.
Diese Ruf-und-Antwort-Praxis prägte die gesamte afro-amerikanische Musik. Der amerikanische Jazzkritiker Rudi Blesh bezeichnete "call and response" sogar als das Wesen des Jazz.
In der Tat findet es sich dort überall, angefangen beim Dialog des Bluessängers mit seiner Gitarre über den Dialog von Klarinette und Trompete im klassischen New-Orleans-Stil bis hin zum modernen Jazz im Zusammenspiel des Baritonsaxophons von Gerry Mulligan mit der Trompete von Chet Baker. Selbst in den Improvisationen eines einzelnen Musikers findet sich das Schema, z.B. beim Gitarristen Charlie Christian, der sich mit sich selber unterhält. Was sich auf diese Weise zwischen Priester und Dorfgemeinschaft, Vorarbeiter und Gruppe, Pfarrer und Gemeinde usw. abgespielt hat, hat sich bis in das "yeah yeah" der Beatles fortgesetzt.
Die eigentliche Entstehung der Spirituals erfolgte 1800-1850 im Anschluß an die Revivals in den Kirchen der Sklaven. Mitgerissen von den feurigen Reden ihrer Prediger, stießen sie Schreie aus, schmolzen zusammen zu einer einzigen schwarzen Masse, die sich stöhnend, weinend und jauchzend im Rhythmus hin- und herbewegte. Und dann brach, unmittelbar aus der Predigt herauswachsend, ihr Gesang hervor. Mit elementarer Gewalt, als ob die Schleusen eines Staudammes geöffnet würden, quollen die Töne, bildeten sich die Worte, fanden sich die Melodien. Auf dem rhythmischen Fundament der stampfenden Füße und klatschenden Hände formte sich der Gesang, schwoll an, wurde heftiger, schneller, dehnte sich aus über Stunden, wurde zur Brücke, die die Sklaven über die Zeit der Sklaverei wegtrug.
So wurden die Spirituals geboren. Sie waren eine der Hauptwurzeln des Jazz. Seine ersten Formen waren nichts anderes als die Übertragung dieser geistlichen Musik ins Weltliche, wobei noch andere Zutaten wie der Ragtime, der Blues (das säkulare Gegenstück zum Spiritual), die Marschmusik der Militärkapellen, die Hymnen und Choräle der Weißen u.a.m. hinzukam. Daraus stellten die Schwarzen ein musikalisches Gemisch von hinreißender Explosivkraft her, indem sie die Eigenarten ihrer Musizierweise auf das Instrumentarium der europäischen Blechkapellen übertrugen. Diese Vermischung fand um die Jahrhundertwende statt, nicht ausschließlich, aber doch hauptsächlich in New Orleans, der Stadt am Mississippi, nach der auch der erste Jazzstil benannt wurde. Die Beziehung zwischen Jazz und afroamerikanischer Kirchenmusik war während der einzelnen Entwicklungsphasen unterschiedlich, aber nie unterbrochen. Angefangen bei Buddy Bolden, einer der ersten erkennbaren Persönlichkeiten des Jazz, bis hin zu seinen modernsten Vertretern enthält die Biographie zahlloser Jazzmusiker den Hinweis, daß sie ihre ersten musikalischen Schritte in der Kirchgemeinde gemacht, im Kirchenchor das Singen gelernt und im Gottesdienst den stärksten Einfluß auf ihre musikalische Entwicklung empfangen haben. Gleiches gilt für die Musiker des Soul und des Rhythm and Blues, deren wichtigste Wurzel der Gospelgesang war (moderne Form des Spirituals, seit den 20er Jahren), dessen Einfluß bis zum Rock'n'Roll und der Popmusik reicht. Umgekehrt kamen auch Jazzmusiker zur schwarzen Kirchenmusik, wie der Jazzpianist Georgia Tom, der unter dem Namen Thomas A. Dorsey zum Verfasser vieler Gospel-Songs und Leiter einer Kirchenmusikschule wurde. Die Gottesdienste der Afroamerikaner hatten zu Beginn des Jahrhunderts an rhythmischer Intensität verloren, sie war in die Jazzgefilde abgewandert. Als Dorsey die swingenden Jazzrhythmen wieder in die Kirche zurückführte, gab das eine Wende der schwarzen Kirchenmusik. Sie hatte den Kontakt zur Musikpraxis ihrer Zeit wiedergefunden. Nun jumpten und swingten die Chöre und Gospelgruppen (von denen es mehr gibt als Jazzbands) wieder wie ihre Kollegen vom Jazz. Seitdem ist es nicht mehr möglich, schwarze Kirchenmusik und Jazz vom Klangbild zu unterscheiden. Zwischen beiden Größen vollzieht sich ein ständiges Geben und Nehmen, wobei der Jazz bis in seine verschiedensten Ausformungen hinein meistens der Nehmende ist. Der Jazzforscher M.W.Stearns schrieb: "Die religiöse Musik des Negers stellt nach wie vor ein Reservoir der Inspiration für den gesamten Jazz dar."
Es ist zu ergänzen: Ohne diese schwarzen Wurzeln ist das meiste des in den letzten Jahrzehnten entstandenen kirchlichen Liedgutes und überhaupt unsere Jugendmusik nicht denkbar.



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